Einleitung
Im Mittelalter herrschten neben den priesterlichen Satzungen und scholastischen Systemen eine feudale Standesordnung und Standesbildung; der Geistliche, der Ritter, der Bürger blieb innerhalb seiner Ordens- und Zunftgenossenschaft; die geistliche, die ritterliche, die bürgerliche Kunstübung folgten einander. Das Schießpulver brach die Mauern der Adelsburgen und gab dem Fußvolk den Sieg über die geharnischten Reiter, in den Städten ward die Arbeit geheiligt und zum Bestimmungsgrund für die Beteiligung am öffentlichen Leben, aber der einzelne stand innerhalb seiner Zunft und gehorchte der Überlieferung seiner Schule. Jetzt lernt er seine Subjektivität geltend machen; der gebildete Mensch tritt in den Vordergrund, und will sich selber aussprechen in dem Stoffe den er behandelt. Die Subjektivität will sich der Allgemeinheit und dem Gegenständlichen, Äußeren nicht mehr unterordnen, sie fühlt dass sie kein bloßes Anhängsel des Universums, sondern das Hauptsächlichste, dass die Natur um ihretwillen ist, und dass die Aufnahme der Welt in das Bewusstsein das wichtigste von allem Geschehenden ausmacht. Mit der Erkenntnis dass erst in unserer Innerlichkeit die tönende farbenreiche Erscheinungswelt aus den Bewegungen der für sich stummen und dunkeln Naturkräfte erzeugt wird, tritt dann der Geist in seine Mündigkeit um sich selbst zu erfassen und zu bestimmen, aus den Forderungen seiner Vernunft und seines Gewissens Gott und Unsterblichkeit zu erweisen.
In der Auflösung des Mittelalters, im Zerfall seiner Sitte gewahren wir unter den Trümmern die neuen Lebenskeime. Dass nicht Rohheit und Frivolität an die Stelle der Zucht und Satzung treten, dafür wirken die Wiedererweckung des Altertums in Italien und die Reformation in Deutschland zusammen. Das Volksgewissen empört sich gegen den Sittenverfall der Geistlichkeit, gegen den Ablasskram, der durch Priesterspruch für Geld die Sünden erlässt; nur die Buße, die Reinigung des Herzens, die Aufnahme Christi in das Gemüt und die damit vollzogene Wiedergeburt des Willens führt zur Versöhnung mit Gott. Du musst es selbst beschließen! sagt Luther von der Rechtfertigung; keiner kann für uns eintreten, darum soll auch kein Heiliger zwischen uns und Gott oder Christus stehen, in welchem das Herz des Vaters sich uns erschlossen hat. Die Menschheit kann frei werden von dem Bann der Satzung und äußern Ordnung, wenn sie in ihrem Gewissen an das Gute und Wahre gebunden ist; dadurch wird sie in ihr eigenes wahres Wesen erhöht und Eins mit dem Ewigen, dem Willen der Liebe. Zur Klärung der gärenden Zeit schien das Licht des Altertums in ihre Bewegung hinein. Dichter und Geschichtsschreiber von Hellas und Rom zeigten Menschen von allseitiger einklangvoller Bildung ohne den Stempel eines besonderen Standes oder Berufs, Philosophen lehrten die Wahrheit suchen und finden ohne beschränkende Dogmen in selbständiger Geistesarbeit. Man gewahrte dort was man anstrebte, das Humane, das Reinmenschliche, nicht in roher Natürlichkeit, sondern in edler Bildung und Gesittung; darum nannten sich Humanisten diejenigen welche das Altertum wieder erweckten und zum Kulturelement der Neuzeit machten. Ihnen wie den Reformatoren kam die Erfindung der Buchdruckerkunst zu Hülfe; damit ward die Verbreitung des Schrifttums möglich, dadurch die Literatur die Führerin der Völker. Sie verleiht den Ruhm, so sehr dass Amerika nicht vom Entdecker, sondern vom Reisebeschreiber den Namen erhält.
Wie nun die Religion im Heiligtum des individuellen Gemüts ihre Stätte gewonnen hat, so will sich auch der Staat nicht mehr von der Kirche meistern lassen, sondern die weltlichen Angelegenheiten für sich verständig ordnen. Da erblickt er sofort in Hellas und Rom das Muster, dem die Politiker, die Rechtslehrer nicht minder sich anschließen als die Dichter in Homer und Horaz, die Handwerker und Künstler in Zierformen der Geräte, in Bauten und Statuen ihre Vorbilder haben; der Laokoon, der Apoll von Belvedere werden ausgegraben, während man an der alten Geschichte lernt wie ein Volk groß wird und wie das öffentliche Leben zu ordnen ist. In der Herstellung der Staatseinheit im Innern gegen die feudalen Standesvorrechte siegt vielfach der Fürst, der die Herrschermacht in sich versammelt. Aber auch das Alte Testament und das Evangelium von der gleichen Kindschaft der Menschen wirkt herein, um gerade im Kampf gegen die mittelalterliche Hierarchie den freien christlichen Volksstaat zu gründen.
Indes stieg die Menschheit nicht bloß in das eigene Innere hinab und beschwor die eigene Vergangenheit wieder an das Licht heraus, sondern sie wollte sich nun auch in der Natur heimisch fühlen; neben die Phantasie welche diese mit Geistern bevölkert hatte, neben die Überlieferung und das Hörensagen trat die Beobachtung, dort die nüchterne Forschung. Zunächst bleibt im Weltalter des Gemüts diese neue verständige Richtung noch mit der Einbildungskraft und ihren Wundern verwoben, Astrologie und Astronomie, Magie und Physik spielen noch ineinander; aber Amerika wird entdeckt, die Erde wird umsegelt, ja sie tritt selber als ein Stern in den Sternenreigen ein und schwingt sich um die Sonne trotz des Augenscheins und der Inquisition, und diese Siege des Gedankens, der treuen Beobachtung des Gegebenen wie der nach dem Gesetz suchenden und eine allgemeine feste Ordnung erschließenden Vernunft, machen beide selbständig und stark. So entsteht nun im Bunde mit der Mathematik, der streng folgernden und beweisenden, eine Erfahrungswissenschaft. Sie schärft nach zwei Seiten hin das Auge durch das Fernrohr und das Mikroskop, lehnt sich gegen die Scholastik aus, welche mit überlieferten Satzungen arbeitete, und wird die feste Grundlage für die Subjektivität, die sich nur aus die Selbstgewissheit des eigenen Denkens stellt. Sie bereitet der Philosophie den Weg neben der poetischen Begeisterung, welche die Lebensfülle der Welt in der Einheit des Göttlichen ergreift, neben dem mystischen Tiefsinn, der sich in das Ewige versenkt um alles in ihm zu haben.
Wenn es die Art des Frühlings ist in der Natur wie in der Geschichte das Eis im Sturme zu brechen, so wird uns das gewaltige Ringen, der heftige Kampf im Übergange aus dem Mittelalter in eine neue Epoche nicht befremden, erstaunlich aber bleibt immer die Menge groß und reich angelegter Persönlichkeiten auf allen Gebieten, uns wieder zum Beweis dass eben der Durchbruch der Individualität als solcher, ihre Befreiung und harmonische Gestaltung der Wille der Vorsehung war. Luther und Columbus, Leonardo da Vinci und Michel Angelo, Dürer und Rafael, Machiavelli und Descartes, Shakespeare und Cervantes, Cromwell neben Milton, Ludwig XIV. neben Moliere, Jordan Bruno und Jakob Böhme, wie bewundernswert ist ihre Begabung, wie mannigfach ihr Wirken, und wie alles doch von ihrer persönlichen Eigentümlichkeit getragen, die nun nicht so sehr das Musterbild des Nationalcharakters ist wie im Altertum es mit großen Männern der Fall war, sondern zugleich eben eine Spezialität, eine originale Wesenheit für sich darstellt. Von vielen haben urteilsfähige Zeitgenossen gesagt dass der Mensch größer in ihnen gewesen sei als die Werke die sie hervorgebracht.
Im Mittelalter stand der Künstler innerhalb der Schule und im Dienst der Kirche; er arbeitete um Gottes willen oder als zünftiger Handwerker um Lohn, und sein Name blieb oft unbekannt; jetzt erscheint die Unsterblichkeit des Schweißes wert und spornt zur höchsten Kraftanstrengung, ja die dämonische Ruhmsucht führt zu glänzenden Verbrechen; neben den Helden stehen die Abenteurer, haltlose Frivolität und kühner Frevelsinn neben dem todesfreudigen Märtyrertum. Die Subjektivität hat ihre Stärke und zugleich ihren Zügel hier im Gewissen, dort im Gefühl der Ehre. Bildung adelt statt der Geburt, der Seelenadel soll bewahrt und bewährt werden. Wenn Rabelais, den Orden des freien Willens stiftet, sagt er: Es gab nur eine Regel: tue was du willst! Denn freie wohlerzogene Menschen haben von Natur einen Stachel und Trieb der sie zur Tugend anreizt und vom Laster abhält, sie nennen ihn Ehre. Alles verloren, nur die Ehre nicht, sagt darum Franz I. nach der unglücklichen Schlacht, die ihn in die Gefangenschaft des Feindes liefert. Die Ehre wird zum Grundmotiv im Drama der Spanier, und Shakespeare wird der Dichter des Gewissens. Das Pflichtbewusstsein mischt sich in der Ehre mit dem Selbstgefühl, und das wird leicht zur Selbstsucht; da muss das Gewissen als die sittliche Weltordnung, als die Gottesstimme in der Seele empfunden werden. Aber das selbständige Gewissen soll entscheiden über unser Glauben und Handeln, und Gewissensfreiheit wird die große Losung der Voranstrebenden in der Menschheit.
Der Individualisierungstrieb führt auch dazu, dass nun das kirchliche Band sich löst das im Mittelalter Architektur, Plastik und Malerei verknüpft hielt. Bei der allseitigen Begabung ist oft ein und derselbe Mensch in allen drei Künsten ausgezeichnet, aber er übt jede für sich. Jetzt erst wird die Plastik völlig farblos, jetzt erst in der Malerei das ganze Stoffgebiet erobert und die Harmonie des Kolorits, der Zauber des Helldunkels erreicht. Damit klingt ein musikalisches Moment in sie hinein; aber die Malerei erklimmt in Italien jetzt die weltgeschichtliche Höhe, welche in Griechenland die Plastik gewonnen hatte, und sie bleibt die tonangebende Kunst, nicht bloß für die Architektur und Skulptur, auch für das romantische Kunstepos der Renaissance. Der Gegensatz der Prinzipien, der Kampf der Geschichte führt zum Drama in der Poesie; aber es ist Schauspiel, es will nicht gelesen, sondern gesehen sein, und so herrscht auch hier das Malerische, denn die Menschheit war noch auf Anschauung gestellt, auch die Innerlichkeit der Empfindung, auch das Seelenleben der Charaktere sollte ihr noch vors Auge gebracht werden, während das Ohr den Ton und das Wort vernahm. Machtvoll steht Spanien an der Spitze des Katholizismus, England des Protestantismus. In beiden Ländern entfaltet sich das Drama zwar nicht ohne Einfluss der Antike, aber auf volkstümlichem Grund und nach nationalem Geschmack. Wie von Anfang an das Volkslied und die gelehrte Kunstdichtung der Humanisten nebeneinander liegen, so wird die Durchdringung beider Elemente die Aufgabe. Bei den Romanen, zunächst den Italienern überwiegt die Kunst der Renaissance, der formale Schönheitssinn, bei den Germanen die eigentümliche Natur, der reformatorische Geist, die charakteristische Wahrheit. Als Frankreich die gebietende Stellung in Europa erringt, zeigt feine Literatur das neue Element des Rationalen und Klaren gegenüber der romantischen Phantastik; die Tragödie gießt den Inhalt der Gegenwart in die Form der Vergangenheit, aber sie gewinnt dadurch Maß und Einheit, und dann folgt ihr das Charakterlustspiel, eine klassische Schöpfung im echten Sinne. Wie die Staatseinheit und das Königtum in Frankreich die Nation bestimmt, so dient auch die Literatur dem öffentlichen Leben und empfängt die Kunst eine höfische Farbe. In England siegt die Freiheit; Milton zieht wissenschaftlich die Folgerungen des Protestantismus für die Politik, und spricht dichterisch die Weltanschauung der Reformationszeit aus; er tut es in einem Stil den die Renaissance gebildet hat.
Martin Luther als Mönch. Holzschnitt von Lukas Cranach
Ludwig XIV. (1638-1715) König von Frankreich um 1661
Vinci Lionardo da (1452-1519) italienischer Maler und Erfinder. Das Porträt ist nach der Zeichnung Lionardos in der Ambrosiana gefertigt
Kultur und Kunst der Renaissance in Italien
Georg I. (1493-1531) Herzog von Pommern
Luther, Anschlag der 95 Thesen
Luther, Armut
Luther, Auf dem Sterbebett
Luther, der Anruf von Gott
Luther, der Reichstag zu Worms
Luther, die Bibel
Luther, Die Hochzeit
Luther, die Schule
Luther, Erniedrigung
Luther, Haus- und Familienleben
Luther, Verbrennung der päpstlichen Bulle
Philipp I. (1515-1560) Herzog von Pommern-Wolgast
Philipp Julius (1584-1625) letzter Herzog von Pommern-Wolgast
Reformationszeit, Die Heroen der Naturwissenschaft
Jan Hus (1369-1415) Theologe, Prediger, Reformator. Phantasieporträt eines unbekannten Meisters aus dem 16. Jahrhundert. Verlässliche zeitgenössische Porträts von Hus sind nicht bekannt.
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