Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten

Rembrandt gilt mit Recht als einer der besten Interpreten der Bibel. Kein anderer Maler hat so zahlreiche und so mannigfache Motive der Bibel entlehnt und diese in so verschiedenartiger Welse uns vorzuführen gewusst. Eine beträchtliche Zahl, vielleicht die Mehrzahl seiner biblischen Kompositionen, namentlich wie sie uns in seinen Handzeichnungen erhalten sind, ist von anderen Künstlern nur äußerst selten oder überhaupt nicht dargestellt worden. Dabei hat sich Rembrandt treuer als alle andern an den Text der Bibel gehalten; wir sehen, wie er einzelne Züge, die in der Bibel oft nur mit einem Wort angedeutet sind, und die kein anderer Künstler beachtet hat, aufgreift und dadurch treuer und treffender, vor allem innerlicher den Geist der heiligen Schrift und gelegentlich selbst den Lokalcharakter zum Ausdruck bringt.

Ausnahmsweise finden wir bei ihm aber auch einmal eine entschiedene Abweichung vom Text der Bibel, wobei den Künstler bald malerische Rücksichten, bald psychologische Gründe geleitet haben. In dem kleinen Bilde, von dem uns hier eine Heliogravüre vorliegt, will man ein rein genreartiges Motiv entdecken: „Hirten bei Nacht“ wird es betitelt. Das ist aber sicher nicht das, was Rembrandt darstellen wollte: die Eltern mit dem kleinen Kinde, die unter einem Baume Rast gemacht haben und sich rüsten, bei einem Feuer die Nacht zuzubringen, waren dem Künstler nicht eine beliebige Hirtenfamilie, er wollte darin die heilige Familie darstellen, die auf der Flucht nach Ägypten ein sicheres Obdach während der Nacht gesucht hat. Aber was sollen dann die Hirten mit ihrem Vieh, die sich nahen und erstaunt, der vorderste kniend wie in Verehrung, auf die Gruppe blicken? Es scheint fast, als habe der Künstler mit der Ruhe auf der Flucht eine Anbetung der Hirten verbinden wollen. Aus malerischen Gründen mag er die Komposition noch dadurch haben bereichern, das Dunkel der Nacht durch die Lichter aufhellen wollen; aber auch ein innerlicher Grund wird ihn geleitet haben: indem er die Hirten in Andacht den Flüchtlingen nahen lässt, charakterisierte er diese als die heilige Familie, bereicherte und vertiefte er das Motiv und ließ es als heiliges deutlicher erkennen. Das Bild mit seinen verschiedenartigen Lichtflecken im tiefsten Dunkel ist ein malerisches Wunderwerk, obgleich kaum mehr als eine Skizze, und ein Nachtbild von einer Wahrheit, wie sie selbst ein A. van der Neer nicht erreicht hat; aber trotzdem ist die Stimmung eine ganz einzige, dem Motiv entsprechende: „Stille Nacht, heilige Nacht“ tönt es aus dem Dunkel uns entgegen. Die tiefe Nacht, die hohen Ruinen, durch deren Fenster das Mondlicht fällt, die kleinen flackernden Lichter in der Ferne: alles das würde bei einem andern Maler unruhig und unheimlich wirken; hier vereinigt es sich zu einer tiefpoetischen Stimmung stiller Andacht, beseligender Ruhe.


Rembrandt van Rijn. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten
National Gallery, Dublin

Rembrand van Rijn. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. National Gallery, Dublin

Rembrand van Rijn. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. National Gallery, Dublin

Rembrand van Rijn. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. National Gallery, Dublin (1)

Rembrand van Rijn. Die Ruhe auf der Flucht nach Ägypten. National Gallery, Dublin (1)

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