Die Nachtwache
Unter allen Werken Rembrandts stand schon zur Zeit des Künstlers im Vordergründe des Interesses die „Nachtwache“. Dies hat sich auch seither kaum geändert, es gilt noch heute und wird für alle Zeiten gelten, wenn sich auch jetzt Künstler und Kritiker abmühen, das Bild als verfehlt hinzustellen. Mag es seine Fehler haben, mag die Bezeichnung als „Nachtwache“ unsinnig sein — die Szene geht in der Tat zur Mittagszeit und im Hochsommer vor sich! — : das Bild hat eine so überraschende Wirkung, eine so packende Gewalt, ist von allem, was je gemalt worden ist, so weit verschieden, dass es sich unauslöschlich in das Gedächtnis einprägt, dass es stets zuerst in unserer Erinnerung auftauchen wird, wenn von Rembrandt als Maler die Rede ist. Worin besteht diese faszinierende Wirkung, trotz der angeblichen Fehler, welche zu Lebzeiten des Künstlers wie heute an dem Bilde gerügt worden sind? Der Künstler hatte den Auftrag, eine Schützengilde von Amsterdam abzukonterfeien, ein Auftrag, wie er seit dem sechzehnten Jahrhundert zahlreichen Malern der verschiedensten Städte Hollands gestellt war und wie er gleichzeitig und noch in den folgenden Jahrzehnten häufig anderen Künstlern zuteil wurde. Dargestellt ist der Hauptmann Frans Banning Cocq mit seinem Leutnant Willem van Ruytenburch, die an der Spitze ihrer kleinen Truppe das Schützenhaus zu einer Übung oder einem Umzug verlassen. Man hat nun Rembrandt vorgeworfen, er habe diese einfache Darstellung in ein so starkes Helldunkel gehüllt, dass man sie für eine nächtliche Szene hielt; er habe die Figuren so dramatisch aufgefasst und so stark bewegt gegeben, dass man eine große Staatsaktion dahinter vermute; auch habe er der Gesamtwirkung zuliebe die einzelnen Figuren zu sehr untergeordnet — kurz, er habe seinen Auftrag, ein Porträtstück zu malen, mangelhaft ausgeführt. Der letztere Vorwurf scheint namentlich auch von den Bestellern geltend gemacht zu sein; wenigstens hat Rembrandt kein zweites Schützenstück gemalt, während seine Schüler Flinck, Bol u. a. mit solchen Aufträgen überhäuft wurden. Aber treffen diese Bemängelungen, wenn sie auch in gewissem Sinne berechtigt sind, wirklich die Bedeutung des Bildes? Ist es ein Nachteil, dass eine Reihe der Figuren stark in den Hintergrund gedrängt ist, um die Hauptfiguren um so wirkungsvoller erscheinen zu lassen? Dass die Komposition voll dramatischen Lebens ist, statt eine nüchterne Reihe posierter Porträtfiguren zu zeigen, oder dass das starke Helldunkel die Darstellung aus der Sphäre des Alltäglichen weit heraushebt? Gibt nicht gerade dadurch die „Nachtwache“ so viel mehr als die Hunderte sonst sehr tüchtiger Schützen- und RRegentenstücke? Gerade weil wir hinter den biederen Philistern, die sich ein Sonntagsvergnügen machen, so viel mehr vermuten, weil wir hier ein Stück der großen holländischen Geschichte vor uns zu haben glauben, gerade deshalb steht das Bild so hoch über allen anderen. Rembrandt hat hier ähnliches erreicht wie gleichzeitig mit ganz anderen Mitteln Velasquez in seiner „Übergabe von Breda“, die er zu einem Triumph vornehmer spanischer Gesinnung gestaltet hat. Rembrandts Schüler, Samuel van Hoogstraaten, der die Angriffe gegen die „Nachtwache“ erwähnt, fertigt sie mit den treffenden Worten ab : „Nach meinem Empfinden wird dies Werk, was man auch dagegen sagen mag, alle seine Nebenbuhler überleben durch seine malerische Erfindung, seine gewählte Komposition und seine Kraft, durch die, nach der Ansicht mancher, alle anderen Bilder daneben aussehen wie Kartenblätter.“
Rembrandt van Rijn. Die Nachtwache
Rijksmuseum, Amsterdam
Rembrandt van Rijn. Die Nachtwache
Rijksmuseum, Amsterdam
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rembrandt van Rijn (geb. zu Leiden 1606, gest. in Amsterdam 1669)
Rembrand van Rijn. Die Nachtwache. Rijksmuseum, Amsterdam
Rembrand van Rijn. Die Nachtwache. Rijksmuseum, Amsterdam (2)
Rembrand van Rijn. Die Nachtwache. Rijksmuseum, Amsterdam (3)
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