Christus erscheint der Maria Magdalena
Im Ausgang der vierziger und im Anfang der fünfziger Jahre, also zur Zeit als Rembrandt im Zenitpunkt seiner Kunst stand, sehen wir den Künstler mit Vorliebe visionäre Motive darstellen: Christus, der den Jungem in Emaus erscheint, im Louvre und in der Galerie zu Kopenhagen, die Vision des Daniel, im Berliner Museum, die Vision des Dr. Faust, das „Hundertguldenblatt“, Christus der Magdalena erscheinend, im Museum zu Braunschwelg — lauter Werke, die, zwischen den Jahren 1648 und 1651 entstanden, sämtlich unter den hervorragendsten Schöpfungen des Meisters genannt werden. Seine Auffassung, seine ganze Empfindung drängte ihn zur Darstellung des Transzendentalen, Visionären und Mystischen, und durch sein eigentümliches Helldunkel war er zu solchen Schilderungen befähigt wie kein anderer. Zumal auf dieser Höhe seiner Kunst. Wie ganz anders hatte Rembrandt die gleiche Darstellung noch in dem Bilde der Buckingham Gallery zu London aufgefasst, das im Jahre 1638, dreizehn Jahre vor dem Braunschweiger Gemälde, entstand! Im Londoner Bilde ist die Landschaft in ihrer herrlichen Dämmerungsstimmung fast die Hauptsache, sie gibt der Darstellung recht eigentlich ihre Weihe, denn die kleinen Figuren sind ziemlich ungeschickt und wenig ausdrucksvoll; in dem Braunschwelger Bilde sind die Figuren dagegen die Hauptsache. Dem Worte der Bibel entsprechend ist es noch Nacht; der anbrechende Morgen macht sich nur in einem matten Schimmer über der Baumgruppe geltend. Das Licht ist ein überirdisches; es strahlt von Christus aus, der verklärt, im Leichentuch, vor der von Trauergewändern ganz verhüllten Maria Magdalena steht. An seinen Worten hat sie den geliebten Herrn erkannt; in freudiger Erregung ist sie vor ihm in die Knie gesunken, um seine Füße zu umfassen; da hält sie der Herr zurück mit den Worten: „Rühre mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem Vater“. Nur mit einer leichten Ausbiegung des Körpers, und doch ganz prägnant, hat der Künstler dieses „noli me tangere“ angedeutet, um den Eindruck der überirdischen Erscheinung Christi, seiner lichtumflossenen Gestalt und seiner faszinierenden Wirkung auf die treue Magdalena, die von Liebe und Verehrung ganz verklärt ist, voll zum Ausdruck zu bringen. Wie er leicht zurücktritt, wie er zu ihr spricht und seine Wundmale zeigt und mit derselben Bewegung sie segnet, das ist so einheitlich und selbstverständlich, so groß und schlicht gegeben, dass Wort und Geist der Bibel voll darin zu uns sprechen. Die ganze Anordnung, jede einzelne Bewegung kann nicht treffender, nicht edler und eindrucksvoller gedacht werden. Ja selbst der Färbung, obgleich fast auf schwarz und weiß beschränkt, hat der Künstler durch einzelne schwache graue, violette und braune Töne eine ausdrucksvolle Stimmung zu verleihen gewusst.
Rembrandt van Rijn. Christus erscheint der Maria Magdalena
Herzogl. Museum, Braunschweig
Rembrandt van Rijn. Christus erscheint der Maria Magdalena
Herzogl. Museum, Braunschweig
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Rembrandt van Rijn (geb. zu Leiden 1606, gest. in Amsterdam 1669)
Rembrand van Rijn. Christus erscheint der Maria Magdalena. Herzogl. Museum, Braunschweig
Rembrand van Rijn. Christus erscheint der Maria Magdalena. Herzogl. Museum, Braunschweig (2)
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