Die kommerschirende Provence

Klingt es auch nur wie Gedichte,
Doch ist's wirkliche Geschichte —
Sind nicht alle Heldentaten,
Wenn sie ganz und wohl geraten,
Fabelhaft und wunderbar?
Die Studenten mit ihren Scherzen
Waren der Menschheit blanke Kerzen,
Törichte, reizende, blank und bar.

So kamen wir Götter und Provençalen denn des Abends in einem Orte an, wo die Wege nach Breslau, Schweidnitz und Zobten zusammentreffen, auf diesem Kreuzwege steht ein Dorf, was in der Sprache vom Oc „Merschelwitz“ heißt. Es ist zu erwähnen, dass der Schlesier das Wörtchen „ock“ gebraucht, wo die andern Deutschen „nur“ sagen. Also den ersten Tag geht's „ock“ bis Merschelwitz, der bunte Schwarm von Hunderten würde keinen Raum zum Nachtlager finden, er wählt also den sicheren Ausweg, keines zu suchen. Die Nacht wird süß verschwärmt bei unsterblichen Spielen. Es sind hier weniger griechische, noch Saitenspiele, noch Pfänderspiele gemeint, sondern Lanzknecht, das reizende, und Pharao, der Träumer von sieben fetten und sieben magern Kühen. Lanzknecht ist ursprünglich ein Repetitorium mittelalterlicher Institutionen gewesen, man hat sich's vergegenwärtigt, wie die Fürsten und Herren mit ihren Lanzenknechten auf Krieg und Beute ausgezogen sind, man hat sich die Sitten dieser romantischen Ideale nachgebildet, und so ist mit einigen modernen Zusätzen von Silbergroschen und Ähnlichem das holde Spiel entstanden.


Es ist nicht zu sagen, in welch mannigfachem Derangement, in welch süßer Verwirrung die Kostüme und Gestalten jener Nacht gesehen werden. Mars ohne Mantel hat seinen letzten Silbergroschen verloren, und versucht seinen Kredit bei einigen schüchternen Erdensöhnen, die seinen „Sturz“ und seinen Arm scheuen, Minerva, tief im Neglige, macht gute Taillen und ist voll Würde; Gewinn befängt, die Lustigen der Gesellschaft haben Alles verloren, und verspotten das Glück, setzen sich zusammen, singen und scherzen, und fragen nebenher ganz in der Stille bei Diesem und Jenem an, ob er ihnen mit ein Paar Groschen helfen könne. Ist das geschehen und haben sie erst wieder ein kleines jeu für Anfänger zusammen, dann schweigt die Laune, die Begier ist stumm — im andern Winkel des Hauses beginnt der unterbrochne Jubel bei denen, die eben ausgebeutet sind. Um und um schwebt der blaue Qualm, die Effekten des Anzugs liegen in süßer Unbefangenheit durcheinander, Biertonnen sind Tische und Stühle, wo es an diesen fehlt, hier und da liegt unter der hölzernen Bank ein Mattgewordener, ein Abgefallener, wüster Schlaf lähmt Miene und Glieder — so findet die Morgensonne das Wirtshaus von Merschelwitz und ihre ersten Strahlen jagen Alles zum Aufbruch empor. Übernächtig, aber von jugendlicher Kraft getragen, zieht die Karavane von der Heerstraße ab direkt auf den Zobten zu, der majestätisch und immer größer aus dem Morgen hervortritt. Zwei kleinere Genossen, der Kelschen- und Geiersberg, die man aus der Ferne gar nicht merkt, produzieren sich neben dem Hauptberge — so geht's mit allen Berühmtheiten: sie erscheinen in der Weite so sehr als Ganzes und Eines, dass man nicht fragt nach Frau und Kindern, nach Nachbar und Freund, welche vielleicht ein gut Teil der Größe mitgeschaffen haben. Es ist auch nicht nötig: das sind sehr kleine Historiker, welche einen großen Mann aus zufälligen Umgebungen, Hilfen und Werkzeugen erklären; der wahre Mittelpunkt der Größe findet andere, wenn er diese nicht hat, er schafft sie erst zu dem Vereine; Mittel sind für Alles da; aber jenes Ewige, was die Größe macht, ist so selten wie der Held mit Schwert oder Feder. Sie sagen, Mirabeau wäre nichts ohne seinen Sekretär gewesen, Napoleon nichts ohne seine Marschälle und Dies und Jenes, Goethe nichts ohne Merck! Die hätten Andere gefunden und geschaffen. Genie ist Gottheit, welche Menschen macht, auch wenn sie dieselben nur zu finden scheint.

Der Zobten ist doch die Hauptsache, schrie der Chor. Jetzt war ziemlich Alles zu Fuß, und ob das Eigentum auch die Nacht hindurch grell gewechselt hat, der Sonne Gold tröstet Alle, sie jubeln mit den Lerchen um die Wette.

Sobald man des unscheinbaren Städtchens Zobten ansichtig wird, welches bescheiden am Fuße des Berges liegt, ordnet sich das Heer ein wenig, die Präsides schieben ihre großen Stiefel an, schnallen die Stürmer auf, ziehen die Schläger aus der Scheide. Wenn der äußerste Zobtener Vorposten dies Flimmern im Sonnenstrahle sieht, setzt er die Lunte auf und brummige Böllerschläge begrüßen die neue Herrschaft, denn Zobten verfällt in voller Rechtswahrheit den neuen Eroberern. Am Tore harrt die Unschuld, die jedoch höchstens zehn Jahre alt sein darf, in weiß gewaschnen Gewändern mit grünen Girlanden und empfängt die Sieger — alles übrige Frauenzimmer ist aus der Stadt geflüchtet. Ich muss zugestehen, dass dieser Zug nicht ganz provençalisch ist. Auf dem Markte begrüßt der Herr Bürgermeister die neuen Herren mit einer Rede, und übergibt ihnen die Stadt, sie wird in einer feierlichen Gegenrede mit Haus und Hof, Familie und Notdurft angenommen — das neue Regiment beginnt.

Ich brauchte nun Homerischen Schwung und Raum, um Euch Details zu singen von dem Lager bei Troja, und wie sich die Helden reckten und dehnten, wie sie ihre Fechterspiele trieben, wie Thersytes verhöhnt wurde, Ajax brüllte, Odysseus und Diomedes intriguierten bei den Lanzknechttischen, die an den Straßenecken standen, wie die Wechslerbänke im Vorhofe des Salomonischen Tempels. Begleitet mich in das Zelt Agamemnons, ins Hauptquartier der Präsides, welches einem Seifensieder gehörte, und wo die Führer ruhten, und Pläne wälzten in ihren Herzen. Man fühlt sich sicher: zwei trojanische Jünglinge, bartlose Kriegsgefangene, halten Wacht an der Tür, sie sind die Blüte zobten'scher Jugend, und man hat sie schwarz angestrichen von oben bis unten. Es ist nicht meine Schuld, wenn die Zeitalter ein wenig durcheinander geworfen werden, Klassisches und Romantisches bunt durcheinander geht: es waren Philologen und Theologen und Neologen im Zelte des Atriden. „Lucifer“ hieß der eine Jüngling, „Unsinn“ leider der andere. Nach barbarischer alter Weise hatte man ihnen den Gebrauch der Sprache verboten bis auf zwei Redensarten: Unsinn musste auf alle Anfragen erwidern „Warum denn dieses nicht!“ Lucifer aber hatte zu antworten „Salomo sagt: das Weib ist bitter.“

Wenn also Lucifer gefragt wurde von einem vorübergehenden Argiver, ob der göttliche Peleide, der Baron von Achilles zu Hause sei, so musste er sprechen: Salomo sagt: das Weib ist bitter — und wenn ein leichtsinniger Fant von der lokrischen Grenze zu „Unsinn“ trat, und insinuirte ihm die Redensart: Ihr Trojaner aus Zobten seid Gesindel und Euer Braunbier ist, wie man in Schlesien sagt, Jauche, so musste dieser erwidern: Warum denn dieses nicht! Verfehlten es die Jungen, so wurden sie gestäupt; — ich sag' es ungern und verschweige die Zeremonie. Innen aber im Zelte Agamemnons beim Seifensieder Schmalz ging's lustig her; auf dem Hofe brannte ein großes Feuer, daran wurde ein ganzer Hammel gebraten — Homer würde sagen: ein Schöps — und es erhoben sich voreilig mancherlei Finger nach dem lecker bereiteten Tiere. Die Edlen, welche in gefälligem Negligé um das Feuer ruhten — Waffen und Rüstungen lagen beiseite — pflogen harmlose Reden über die Feier des Sieges, welche bald vor sich gehen sollte, und über die Schulden der Völker, welche noch von früheren Eroberungen in Zobten restierten. Auch tranken sie Gurkauer Lagerbier aus stattlichen Gläsern, und die Zeit verstrich ihnen lieblich; besonders Ajax aus der Gegend von Hundsfeld beteuerte öfter, er befände sich komfortabel. Kam denn auch Kunde von einzelnem Aufruhr und von Entzweiung der Völker, man ließ sich nicht stören, Verklagte und Kläger blieben rasten im Zelt des Atriden, besonders als Madame Schmalz anhub den Schöps zu tranchieren.

Als Helios mit dem flammenhufigen Gespann tiefer hinab geeilt war gegen die sächsische Grenze, begann die eigentliche, solenne Siegesfeier auf offenem Markte, welche genannt wird der Zobtener Kommerce — erzählt es ihr Sterne, wie ihr die Helden noch trinken sahet und hörtet spät am Abende, es zitterten die kleinen Häuser, aber die Herzen der Argiver lachten, und Niemand erkältete sich.

Nacht war's geworden, bleierner Schlaf lag auf vieler Recken Glieder, die sorglos niedergesunken waren, wo ihnen die Mattigkeit das Herz berührt, hell schien der Mond, die Lüfte säuselten weich und lind auswärts, um den unglücklichen Göttern, welche es gehalten hatten mit Priam's Burg, Kunde zu bringen vom tragischen Ende, nur des olympischen Zeus behagliches Lächeln bebte wollüstig durch die Schöpfung, da ging ich mit einigen Genossen durch das Mische Tor hinaus, an der bekannten Esche vorüber, der Göttervater hatte uns Kraft erhalten, wir wollten den Berg noch besteigen.

Und als wir in den schwarzen Bergwald traten, da wechselten die Zeiten, wie meilenentfernte Vergangenheit lag das Homerische Epos schlafend hinter und unter uns, Landleute, welche sich zu uns gesellten, teilten uns mit, wir lebten in einer christlichen Epoche, und oben in der Kapelle des Berges beginne mit anbrechendem Morgen das Fest des Heiligen, welcher das Zobtener Gebiet beschütze. Wie Nebel fiel es von unsern Augen, wie ein Traum künstlicher Schulzeit — fern aus dem Walde drang das Jodeln einzelner Kameraden wie der unberufene Gesang einer Nachtigall, die sich auf dem Fliederbaume an der Kirche niedergelassen hat, und in die Orgelklänge singt; denn von der andern Seite des Berges trug der parteilose Schall den monotonen Gesang einer Prozession — weiß flog das neue Weltlicht über den Himmel, es ward Morgen. Mitten unter Landleuten befanden wir uns auf der Spitze des Berges, das Riesengebirge in dunklen Massen stieg vor uns auf, und der Tag hob einen Schleier nach dem andern von der mannigfachen Gegend, der hohe Turm von Schweidnitz enthüllte sich, über die weiten, bunten Felder nach Breslau zu schoss der erste Sonnenstrahl, die Welt dampfte in frischer Morgenfrühe, die Lerchen erhoben sich, und weicher, bittender Kirchengesang stieg neben uns auf. Die bleichen Gesichter, die abenteuerliche Tracht der Genossen gaben das Bild verschollener Barbaren — die Mannigfaltigkeit unsrer Zustände trat vor meine Blicke wie ein Arlequin mit tausend Farben, der beim Tagesschimmer vom Balle kehrt, seinen Mantel verloren hat, und nicht weiß, ob er sich schämen soll vor dem heimziehenden Nachtwächter.

Ich ging seitwärts in den Wald hinein, und kam zu einer grünen Holzblöße, von wo man hinabsehen konnte nach dem Städtchen. Hier saß ein Landmädchen im tauigen Grase, starr sah sie ins Land hinunter, sie wartete auf den Geliebten, welcher sonst regelmäßig zum Kapellenfeste gekommen, aber das letzte Jahr ausgeblieben war. Er wohnte dort am Fuße des Berges, wo die Sonne aufging, sie aber an jener, wo sie unterging.
Wir warteten recht lange; ich sah unten auf der Straße die Studenten in kleinen Trupps langsam heimwärts ziehen, hier und da blieb einer ermattet sitzen — wilde Freude endet schlaff.

Er kommt nicht, sagte sie endlich, die arme Dirne, und ging in den Wald hinein —

Was Alles bewegt die Menschen! und du goldne Sonne, die immer heißer wurde, bist stets dieselbe, bist dieselbe gewesen auf dem Felde von Troja, auf den Schlössern der Provence, auf den Bergen und Feldern Schlesiens, tröste mich, Sonne!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6