Die deutsche Provence

Man könnte mit demselben Rechte Schwaben so nennen, wenigstens hat es größere Dichter und bedeutendere Dichterschulen hervorgebracht als Schlesien, aber der Scherz dieses Namens für einen Teil meines Heimatländchens soll anders motiviert werden, als mit großen Namen und Richtungen.

Wenn man vom Oderstriche einige Meilen nach Westen fährt durch Heide und verstecktes Land, so gelangt man bei Liegnitz in den Vorhof des eigentlich schönen Schlesien. Sanft anstrebende, lange Hügelreihen wiegen sich im Sonnenscheine, dahinter winken die blauen Hochgebirge, die Kieferwälder sind in lockend grüne kleine Holzungen verwandelt, weiße Klöster und Schlösser blinken bei einzelnen Wendungen des Weges, Liegnitz, ein freundlicher, heitrer Ort, in seiner Form dem lächelnden Leipzig äußerst ähnlich, empfängt uns, wie es mich stets bedünken wollte, mit offenen Armen. Es ist dies ein Ort heitrer Behaglichkeit. Grüne Wiesenflächen, küchenfreundliches Gartenland, wohl grünende und duftende alte Schattenbäume umgeben den Ort, freundliche Gesichter, schöne Mädchen, lustige Bursche erfüllten ihn. Bei schönen Mondabenden hört man bald hier bald da Gesang und Saitenspiel, die hübschen, feisten Kräutermädchen sitzen vor den Türen, und weisen den Scherz nicht ab, auch wenn sie aufstehen, Liebespaare streifen unter den Linden hin auf der Promenade, verlieren sich wohl auch weit hinaus in den mondflimmernden Hag, und die Nachtigallen singen besonders schön und zärtlich in Liegnitz.'


Es ist ein zärtlich Volk das schlesische, es ist sein schönstes Genüge, und das, worauf es immer dringt beim Umgange: das Herz mit allen Kleinigkeiten gegenseitig auszuschütten,

Und wer's mit hübschen Worten kann.
Das ist ein, äußerst hübscher Mann.

O, wie reich sind sie an solchen provençalischen Vireley's, wie propagieren sie zärtliche Verse, wie gerne hätten sie Minnehöfe und dergleichen, wenn's die Polizei und die Klassensteuer gestatteten. Auch ist es mir stets vorgekommen, als ob die Liebschaften hier niemals jenes dunkle, hypochondrische Kolorit annähmen, das mit düsterem Nahrungsjammer, pedantischer Eintönigkeit, egoistischer Klage solche Bilder abschreckend macht. Wem ist's nicht begegnet, dass ihn die liebelockende Mondnacht in Illusion versetzt, und der nächste bleiche Tag erschreckt hat, wenn ihm Räume und Personen der romantischen Nacht blass, bedenklich, zukunftsorgend erschienen. Ganz anders, immer lächelnd, provençalisch ist die Physiognomie dieses schlesischen Städtchens.
Ich weiß es wohl, wie solche Ansicht eine zufällige sein, auf einigen Spezialitäten beruhen kann — ist's denn aber anders mit der ganzen Welt und Anschauung derselben! Und wie oft hab ich Liegnitz gesehen, und welche zu passende Geschichten hab' ich dort erfahren! hier nur folgende:

Auch die jungen Männer, welche sich dort zur Universität vorbereiten, zeichneten sich aus durch eine behagliche Fröhlichkeit, durch ein dralles, hübsches Aussehen: es war an einem warmen Herbstabende, als mir einer dieser Halbstudenten sagte: „Komm mit, wir wollen zu Hannchen gehen, und du sollst auch einen Kuss von ihr haben.“

In den Vorstädten nämlich wohnen die sogenannten „Kräuter,“ welche das schöne Gemüse bauen, womit Liegnitz und Breslau die ganze Provinz versorgt. Hannchen war ein solches Kräutermädchen — sie saß in einer kleinen Scheune auf der Tenne mitten unter Gurken, die sie sonderte und auslas. Es war ein rotbackiges, frisches Mädchen mit lebhaften, dunkelblauen Augen; das braune Haar trug sie unter der gebräuchlichen schwarzen Kappe, und es kam nur auf der braunen Stirn zum Vorschein, das leichte kurze Röckchen ließ ihre kräftigen, blanken Beine bis weit über den Knöchel unbedeckt, das baumwollene rote Busentüchlein aber schloss züchtig bis unter den Hals, und ließ nur wenig von der weißen Haut sehen, die nicht in der Sonne verbrannt war. Sie reichte ihrem Liebhaber die Hand, welche sie frei hatte, zog ihn, den willigen, zu sich nieder und gab ihm einen und noch einen Schmatz. Dann reichte sie mir auch die Hand und hieß mich willkommen, und erzählte vom Gemüse, und von Nachbars Lorchen, die nun auch einen Liebsten habe, und dass sie spät Feierabend machen könnte, wenn wir nicht klug sein und die Gurken unterscheiden lernen, und ihr auslesen helfen wollten. Wir ließen uns belehren und halfen, und nahmen ihre Verweise der Stadtkinder freundlich hin. So wurden wir dann fertig, und meinem Begleiter waren so und so viele Küsse zugesagt — ich hielt es für angemessen, mir den meinen auszahlen zu lassen, was sie denn auch harmlos auf ihres Liebsten Anweisung tat, und mich fortzubegeben; sie wollten spazieren gehen —

— Nach mehreren Jahren kam ich wieder mal durch Liegnitz, und ging in die Kräutergasse hinaus, um Hannchen zu besuchen. Ich wusste es, dass der Liebste auf eine ferne Universität gegangen sei — Hannchen war im Garten und grub die Erde um. Sie war nicht viel älter geworden, und kannte mich gleich wieder. Mit einem freundlichen Lächeln, das sich in dem arbeitsroten Gesichte gar anmutig ausnahm, reichte sie mir die Hand, die warm und schwielicht war vom Grabscheit, und fragte, wie's Ihm ginge. Ich musst' ihr erzählen, was ich konnte — er hatte ihr beim Abschied einen Kuss gegeben, und damit war's aus gewesen; 's ist mir recht nah gegangen, meinte sie, dass er fort musste; na, wenn's ihm nur gut geht, hübsche Mädchen wird er schon finden, er sah gar „schmuck“ aus, mein Liebster; nicht?

Das war Alles; und gibt es mehr? Wer liebt wohl besser: Hannchen oder die Eboli?
Es war just eine Mondnacht, als ich diesmal durch Liegnitz schritt, und ich fand Alles beim Alten. Hochidealistisch sind die schlesischen Provençalen nicht, das mag wahr sein, aber was tut's? Idealistisch sein ist ja auch nur eine Eigenschaft, Petrarka, dieser natürliche Sohn der Pronvençalen, der das Kokettieren mit dem Ideale bis ins Unwahrscheinliche, und ganz und gar anders als seine Vorbilder trieb, ist bekanntlich ein ganz anderer Mensch gewesen zu Avignon und Padua als in seinen Sonetten, ein Mann sehr vergnüglicher Realität, der nur für seine Gedichte ein idealistisches Schema hatte. Warum soll ich es nicht erzählen, dass ich damals unter einer großen Linde einen jungen Fant, die Gitarre im Arme, stehen sah, welcher ungefähr mit folgenden Worten den Idealismus herausforderte:

Durch die Nebel scheint der Mond
In die nächtlich stillen Straßen —
Schien nicht damals auch der Mond,
Als wir nah beisammen saßen?

Sprechen die Leute nicht viel davon
Von des Geistes Kraft und Genüge,
Von des Herzens tiefinnerstem Ton,
Welcher die Lust durch die Lüfte trüge?! —

Liebe gab's nicht ohne ihn!
Aber ein einzig Blicken und Küssen,
Ein einziges An'sherzeziehn,
Lassen mich Mond und Nebel missen.

Es war eine grüne, jugendliche Bassstimme — und soll ich's bekennen, sie zerstörte mir alle Illusion, ich eilte, den Wagen zu erreichen.

Überall und überall Dualismus, auch in der Liebe —

Nehmt uns das Herz mit seinen Träumen
Und die Geister in säuselnden Bäumen
Und des Nebels schimmernden Duft,
Alle die tausend Stimmen der Luft,
Was ist uns dann übrig blieben
Von der Gottheit und vom Lieben?

Die Verschiedenheiten, der Streit und Gegensatz, der Kampf und das Ringen nach Urteil sind am Ende all' unser Reiz, vergesst es nicht im Kampfe, damit, Ihr über ihn treten und leben möget.

Damit erwacht' ich am Morgen, und tröstlich grüßte der dunkelblaue Zodtenberg, der mir zur Seite lag. Mitten im Lande, ein Prophet des Wetters und blauer Ferne spricht er täglich zu seinen Landsleuten, dieser älteste Schlesier, und es ist sehr Unrecht, dass ihn der Volksdialekt den „Zoten“ nennt.

Auch er bringt meiner Erinnerung ein Stück provençalischen Lebens, Lieder und Turniere, Schwerter und Freudenhöfe, leider auch schwere Besoffenheit, den deutschen Zusatz.

Die Breslauer Studenten halten alljährlich einen Kommerce an seinem Fuße in toller Maskerade, wie beim römischen Fasching ziehen sie zu Ross und Wagen im duftenden Monat Juni aus, und Breslau staunt der unpolizeilichen Gestalten. Viel Witz und Abwechselung wird da entwickelt, Don Quixote und Sancho treten leibhaftig auf wie in der Mancha, und das Vergnügen an zweckloser Torheit kommt vielleicht in unserm ganzen Vaterlande nicht so heiter zum Vorschein, als bei jenen Zobtenkommercen. Man muss die Chaussee nach Schweidnitz hin gesehen haben an solchem Tage: der magere Beutel oder Kredit der Musensöhne reicht bei den Meisten für Pferd oder Wagen nicht weiter als bis zum nächsten Dorfe. Von da schleichen sich nun die heterogensten Masken auf endlose Bauerwagen: die Dirne sitzt auf dem Leiterbaume, ledig des Kopfputzes und das kecke, kurze Studentenhaar, der Schnurrbart und die Pfeife sehen wie ein anderes Geschlecht auf die kattunene Unterpartie, brennend rote Doktoren aus Sevilla gehen jungen Schrittes auf dem Fußwege, tragen die Allongeperücke in der Hand, erquicken die Mähderinnen auf der Wiese mit kräftigem Ungar aus den Medizinflaschen, Mars hat sich einen Bauerklepper gemietet, singt tyrolerisch, und bittet die zu Fuß gehende Minerva, unter deren Göttergewande bedenklich irdische Pantalons zum Vorschein kommen, um etwas Schwamm. Der Besitzer des Gauls, welcher der Sicherheit wegen nebenher geht, trägt den unsterblichen Helm und die rote Tabaksblase.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6