Die Oder

Der Postillon fuhr mich den alten Schulweg nach Glogau — wie oft war ich ihn gewandert, oder auf trägen, schleichenden Wagen gereist mit einem Kopfe voll Vokabeln und Formeln, mit einem Herzen ohne Mut, das die Schulsorgen zusammengeschrumpft hatten.

Man soll sich der überstandenen Schulleiden mit Freude erinnern! Das könnt' ich nicht sagen — jenes drückende Alpgefühl des terrorisierten Gymnasiasten kommt noch heute wieder, wenn ich an die langen, eingesperrten Vormittage denke: die Sonne lag fern auf einem hohen Dache, zu uns kam sie nicht, festsitzen mussten wir, wenn uns auch ein verirrtes Frühlingslüftchen mit Drang und Sehnsucht erfüllte. Mehr als einmal sind mir die Tränen in die Augen gekommen, wenn ich Morgens um sieben Uhr mit dem Bücherpack durch die Straßen wanderte, rotgolden fiel die Morgensonne auf die taubedeckten Gassen, die Kaufmannsladen öffneten sich, Wagen und Reiter setzten sich nach dem Tore in Bewegung, die Soldaten marschierten mit klingendem Spiele aufs Glacis hinaus, der fröhliche Gassenjunge begleitete sie mit muntern Sprüngen, die ganze ahnungsreiche Welt eines schönen Tages ging auf — und ich musste in die abgesperrten Zimmer, aus denen kein Entrinnen möglich wahr.


Es ist wohl recht traurig, dass man in der Zeit des Lebens, wo man am Glücklichsten sein kann, glücklich ohne Kollision mit der Polizei und Geistlichkeit, dass man just in dieser Zeit so viel lernen muss, um später ein Mensch von Schulbildung zu sein. Und wie wird das immer bedenklicher: ich empfinde oft inniges Mitleid mit den Jungen, die jetzt noch in den Rinnsteinen herumkriechen! Wenn sie den ganzen sogenannten klassischen Kursus durchmachen sollen, so werden sie nicht Zeit übrig behalten, sich die Nase zu schneuzen — was ist, Gott sei's geklagt, unterdes Alles erfunden und nötig geworden! Das Material der Weltbildung wächst wie ein üppiges Kleefeld — es werden unermessliche Reformen im Schulwesen nötig, zu Grunde gehen über Kurz oder Lang die Magister und die lateinischen Schulen. Wenn man nur erst den Weg finden möchte, dass darüber nicht alles Latein zu Ende geht— man wird Methoden entdecken, nicht mehr sechs Jahre für das Bisschen Latein zu brauchen, und es wird mancherlei Geographie und Naturkunde bei den Windmühlen und an den Wasserbächen gelehrt werden; wir müssen es dahin bringen, dass die Männer nicht mehr mit Angst und Schrecken an ihre Jugend denken. Dies ist eine Forderung, und es ist ein Zeichen der Kultur, dass es stets hinreicht, eine Forderung erfunden zu haben, sie gebiert die Gewähr.

Einseitig verteidigen Pädagogen die dumpfen Stuben, das Sitzen und Auswendiglernen, einseitig verlangen Humanisten die Freiheit der Jugend, aber lasst den Kampf toben, die Anforderungen der Welt an die Bürger, die Anforderungen der Jugend an die Welt werden einen Vereinigungspunkt finden.

Da sah ich die Oder wieder in der Ferne durch das Blachfeld ziehen; er hat auch wenig Freude dieser Fluss: nach einer kurzen, wilden Jugend in den Karpathen und Sudetenpässen durchfurcht er ein gleichgültig, flaches Land durch Schlesien, die Mark und Pommern. Er sieht nur den Teil Schlesiens, der sehr einfach und ohne Reiz ist: auf dem Ufer nach Polen hin unterhält ihn noch auf langen Strecken der alte Pate, der Oderwald, mit knorrigen Eichen und düstrer Stille, Schiffer mit slavischen Leibern und Worten gehen auf den einsamen Uferwegen mit Seilen und Äxten entlang, entweder um den schwerbeladenen Kahn stromaufwärts zu trödeln, oder die Heimat in Oberschlesien aufzusuchen, wo sie ein neues Floß zimmern und besteigen wollen, was sie hinabfahren. Martätsche nennen sie es in ihrem Wasserpolakisch. — Es ist keine Freude, diesen Martätschenführer im Oderwalde zu begegnen, obwohl man sagt, sie seien gefahrloser als sie aussähen; das kommt vielleicht nur daher, weil keine Engländer hier reisen.

Auch die Elbufer sind hinter Meißen unbedeutend, wie die der Oder — diese Erscheinung hat darum noch etwas Bedenkliches, dass man nun im Gange dieser Flüsse keine Notwendigkeit entdeckt, sie sehen fast wie verirrt aus, könnten eben so gut weiter rechts, weiter links gehen, und diese Zufälligkeit, welche die Dammbesitzer sehr tief empfinden bei den gefährlichen, immer wiederkehrenden Überschwemmungen, raubt den Flüssen auch historischen Reiz. Sie wechseln ihr Bett: eine alte Oder und alte Elbe ist an wer weiß wie viel Stellen zu finden, kurz die beiden Flüsse können es nicht wohl zu einer soliden Poesie bringen. Das Bisschen Weidengestrüpp am Ufer reicht nicht dazu hin, und der Boden des Strandes ist so gebrechlich und bröcklich, dass von Felsengängen gar nicht die Rede sein kann.

Lebe wohl, Oder, die kleinen Gebirgswasser meiner Heimath interessieren mich weit mehr denn du; Farbe hast du auch nicht, wenn's nicht regnet, ich müsste dir's denn anrechnen, dass du nicht leicht so gelb aussiehst, wie unsre alte Tante, die Elbe.

Damit will ich den schlesischen Gymnasiasten das stolze Wort Viadrus nicht rauben, und Herr Fülleborn, der im Breslauer Erzähler diesen Viadrus stattlich besungen, soll ungestört schlafen mit seinen Versen und seinem Breslauer Ruhme. Es ist sehr liebenswürdig an den Schlesiern, wie sie ihre Landsleute lieben, von denen etwas gedruckt worden ist; ihr Patriotismus hat so etwas von einer schwachen Großmutter, die für das Enkelsöhnchen immer ein Bonbon und ein Paar Hausmittel bei der Hand hat wenn auch sonst weiter nichts.

Bei dieser Gegend ist noch zu bemerken, dass die Glogau'schen Bauern wegen ihrer Grobheit berühmt sind, man nennt ihre Konduite „sackgrob,“ und ihr täglich Sprich- und Rechtswort lautet: „Was grob ist, hält gut.“ Ihr Boden ist schwarz und ergiebig, er nährt ihre Grobheit, der Dialekt fällt dicht wie ein schwerer Gussregen im Sommer, er ist dick und bequem, ein guter Hochdeutscher wird wenig davon übersetzen können.

Den Ruf einer soliden Derbheit in allen Äußerungen genießen übrigens alle Oderbauern, die man auch Oderdeutsche nennt, und man versteht es ohne Kommentar, wenn es heißt: „Ach, er ist von der Oder her.“ Das ausdrucksvolle Sprichwort: „Ein Wort und ein Schlag“ heißt bei ihnen „Gib'm an Trabs“ will sagen: Versetz' ihm Eins ohne Redensarten.

Süße Heimat, ich muss weiter.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6