Die Heimat

Was man kräftig hofft, das geschieht — ein keckes Wort, das aber wunderbar tröstet. War umhergejagt nach Glück, hatte es nirgends gefunden — dort in der kleinen bescheidnen Heimat am grünen Wiesenufer des Bobers, da wird es am Ende still unter einer Weide sitzen, strebe dorthin, sprach es mir Manchmal im stillen Herzen.

Aber es war keine andere Aussicht da als die stille Hoffnung, und die stille Hoffnung arbeitete so kräftig, dass ich mir Exil und alles Mögliche bereitete, um die Weide auf der Boberwiese zu suchen, wo ich in frühester Jugend bei den Schafen gelegen, Pfeifer geschnitzt, nach den Wolken gesehen und geträumt hatte, kleine unschuldige Träume von der Tochter des Bäckers, welche mich beglücken und mir den bescheidenen Hausstand und die kleinbürgerliche Existenz mit den Wochensorgen und dem Sonntagsspaziergange bescheren würde.


Meine Seele lechzte nach jener patriarchalischen Ruhe des Heimatstädtchens, wo man des Abends in Hemdärmeln vor der Tür sitzt, Ohlauer vaterländischen Knaster in die reine Luft bläst, friedliches Fassbier trinkt und von den Franzosen redet, die 1806 die Lärmstangen von Glogau angezündet, nichts als Wein getrunken, dem alten Maurermeister 253 Thaler aus dem Schornstein genommen, und sonst viel Leben in Handel und Wandel gebracht hätten.

Ich reiste über Berlin. Gott segne die Straße von Leipzig nach Berlin, sie hat's nötig; ginge sie nicht durch Bitterfeld und bei Sanssouci vorüber, so brauchte man gar nicht aufzuwachen oder aufzusehen. Nichts stört den Reisenden auf dieser Tour, und wenn gelegentlich in Deutschland eine neue Literatur oder so etwas erfunden wird, so findet man gewiss die Fährte dieses Ursprungs auf den Stationen Delitsch, Gräfenhainchen, Wittenberg, Treuenbrietzen, Belitz — bekanntlich kam Luther auch in Wittenberg auf die Kirchenverbesserung; wie oft war sie im Süden angeregt worden, aber die schöne umgebende Welt gestattete nirgends eine so entschlossene Resignation; in Wittenberg werden die Sinne durch nichts verführt, der Geist bleibt unverfälschter Geist.

Über Berlin spreche ich ein andermal, jetzt reiste ich bloß durch, hatte es seit dem kalten Winter anno 1823 nicht gesehen, wo mich, den Tertianer, das Interesse an Herrn Matthausch und Fräulein Eunicke: weiland Theaterheroen zu einer Fußwanderung bewegte, und war überwältigt von dem stattlichen Eindrucke, den es mir gewährte. Damals, wo ich wie die große Armee 1812 mein Dasein gegen den Winter aufs Spiel setzte, um Berlin zu sehn, wie jene Moskau sehen wollte, wo man zu Hause den Tertianer erfroren glaubte, damals gab's noch kein Museum, keine Fontaine, kein Königsstädter Theater, obwohl ich hierin irren kann, aber ich kannte wenigstens Angely noch nicht, den kleinen Toten von der Spandauer Straße. Und als ich jetzt an einem duftenden Morgen des Monats Mai den Kopf aus dem Hôtel de Russie steckte, den schäumenden Wassersprung, das gebieterische Museum sah, und diesen ganzen klassischen Eindruck stolzer Gebäude plötzlich empfing, da musst' ich mich wirklich besinnen: ist dies dasselbe Berlin, das du als Knabe gesehen? Nun, ich habe später genügend Zeit gefunden, mich darüber zu besinnen, und fahre jetzt hinaus durch die Frankfurter Vorstadt, wo mit jeder Straßenbiegung die lärmende Königsstadt mehr und mehr verschwindet, und man am Ende gar in einem kleinen Provinzialorte zu sein glaubt. Das ist die schwächste Seite Berlins, seine Achillesferse, von den meisten übrigen gerät man alsbald in die bewegten, imponierenden Stadtteile.

Mein letzter Gedanke war aber doch, als ich aus dem Tore fuhr: Berlin ist die schönste Stadt, die du gesehen, der du wohl nimmer nach Petersburg kommen wirst, wenn breite Straßen allein eine schöne Stadt machen, und das tat meinem preußischem Stolze sehr behaglich.

Bei Frankfurt sah ich die Oder wieder, meinen alten schlesischen Genossen, er kam von Breslau herab, hatte die alten Häuser gesehen, war auch der stillen Wohnung vorübergezogen, von wo ich manchmal traurig in seinen Spiegel geblickt, traurig vor Liebe und wallender Ahnung größerer Welten. Es sind immer neue Wellen, die solch ein Fluss bringt, er hat insofern gar keine eigentliche Persönlichkeit, ist wie ein Kaufmann, der todte Wechsel spediert. Das Wasser, welches mir jetzt bei Frankfurt begegnete, hatte mich nie gesehen, hatte in tiefen Schachten und Steinritzen der Karpathen gelegen, als ich tränenfeucht bei Breslauer Mondabenden in die Oder blickte, und dennoch war es mir befreundet. Der Mensch braucht gar wenig Anregung um zu lieben.

Hier treibt der Fluss Bäume und Grün aus dem Boden der Mark, Frankfurt ist bekanntlich ein frischer, artiger Ort, eine Oase — die Schlacht bei Kunersdorf, die mordende, und Studenten, die halb Stiefel und halb Hut gewesen sind, fielen mir ein, als ich ins Tor fuhr. Jene ist in der Nähe von Frankfurt geschlagen worden, und die Bekanntschaft dieser Herrn Studenten habe ich in Breslau gemacht, wohin mit der Universität auch die Frankfurter Traditionen und Stürmer und Schläger und Stiefeln gewandert sind. Die Studenten von Frankfurt sind in der Historie als sehr wild und unbändig bekannt. Wenn man in ihren alten sogenannten „Wichs“ geworfen wurde — übrigens ein Wort, welches tragisch in der modernen Zivilisation untergeht — dann verschwand man völlig als Individuum, und schlurrte, schleifte und klirrte als ein verschollener Begriff des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts umher: jener Hut, welcher so stolz „der Stürmer“ genannt wurde, maß mit seinem schwarz und weißen Federbusche an die vier Fuß rheinländisch Maß, man balancierte einen Turm, herzhafte Postillonsstiefel sind Kinderschuhwerk gegen die Kanonen, welche wie ein Fahrzeug mit dem Studio umherschifften; ich erinnere mich eines Begräbnisses, wo ich einen Frankfurter Schläger gesenkt tragen musste, wie man alten Deutschen und Rittern das Schlachtross hinter dem Sarge nachführte, dieser Schläger hat mich die ganze Schwere vergangener Zeiten erkennen gelehrt. Wie oft wundern wir uns über die schweren, ungeheuren Waffen unsrer Vorfahren, und meinen, sie müssten einem andern riesenhaften Geschlechte angehört haben — so ist's auch mit dem Studententume: sein Putz, seine Lust, seine Werkzeuge passen nicht mehr zu unsern Fracks.

Scheltet nicht, wenn ich zuweilen der Studenten gedenke, ich bin einer der letzten Schriftsteller, die es können, jener Rest zweckloser, klirrender Romantik ist zu Grabe getragen; zerbrochen sind die Pfundsporen, die buntglockigen Schläger, zerbröckelt der frechfreie Gesang, welcher am hellen Tage, auf offnem Markte angestimmt wurde: „Wir sind die Könige der Welt,“ es ist ein Begräbnis unbändiger Jugend zu erzählen.

Und wahrlich, die Studentenschaft war ein unnatürlich Institut geworden, möge sie schlummern neben dem Rittertume und den Zünften der fahrenden Sänger.

Sand, Kiefer- und Birkenwäldchen laden euch auf dieser Straße zur innern Beschaulichkeit; man passiert Ziebingen, wo Solger gewohnt, und mit Raumer und Tieck nach Geschmacksregeln geforscht hat. Alle abstrackten Forschungen sind der Mark sehr angemessen, wäre die Mathematik noch nicht erfunden, hier müsste sie erfunden werden.

Ich kam nach Grünberg, der ersten schlesischen Stadt, wo unsre Rebe wächst, Gott sei's geklagt, Gewächs sieht aus wie Wein — der Ort riecht nach Baumöl und Kopfschmerz, er ist das Grab von vielen hundert spinnbleichen Tuchmachern. Einst hatte er seine Zeit, wo der Tuchmacherjubel in diesem Teile Schlesiens ein historisches Moment war, sie ist vorübergegangen, die Spulmädchen gehen Sonntags nicht mehr zu Tanze in seidnen Fähnchen, des Abends johlen keine Betrunkenen mehr, ein zerlumpter ölschmutziger Betteljunge tritt uns an, und erzählt, sein Vater sei nach russisch Polen ausgewandert, und hätte seit zehn Jahren nicht mehr geschrieben.

So hat jeder dort seinen speziellen Jammer; auch konnte sich kein Tuchmacher ersäufen, denn es gibt hier keinen Fluss.

Es war Abend geworden, als mich die Postkalesche über Feld- und Waldwege der Vaterstadt immer näher brachte; ich kannte schon alle großen Bauergehöfte, wusste wie viel Pferde und Fohlen sie hielten, alle die kümmerlichen kleinen Interessen fielen mir ein, um welche sich das Leben dieser Landbesitzer kehrte; als ich noch ein kleiner Bube war, hatte ich ihren Erzählungen aufmerksam zugehört, und ich weiß es noch vortrefflich, welch eine Öde und Traurigkeit sie stets in mir weckten, obwohl ich nicht wusste warum.

Jetzt sahen die ungastlichen Wohnungen am Feiertagsabend — es war Pfingsten — so ausgestorben aus, dass ich mich dessen kaum freuen mochte, wie ich jetzt reicher an Wünschen und Gedanken heimkehrte, als ich je geahnt. Der Mond schien über die nahen Waldstrecken, Frühlingsluft ging hin und her, aber selten guckte ein faules Gesicht aus einem Fensterloche, vom ungewohnten Rasseln eines Wagens aufgeweckt. Nirgends ein Liebespaar im Schatten, die Sorge lässt sie nicht zur Liebe kommen — doch, an einem alten Brunnen, ein Stück vom Dorfe, saß ein solches, der Frühling und der Herrgott mögen's Euch lohnen, dass ihr meinen sinkenden Glauben an die Heimat wieder aufgerichtet habt, ihr schüchternen Liebesleute. Wie ein Traumbild mag die Kalesche an Euch vorübergebraust sein in der Einsamkeit Eures abgelegenen Dörfchens und Brunnens, einst werdet Ihr Euren Kindern davon erzählen, was ihr am Pfingstabend zur Zeit Eurer Freite am hellen Mondschein gesehen.

Wunderlich Leben mit seinen tausend verschiedenen Maßstäben — wie wohlfeil ist eine Hütte zu beglücken, und wie selten suchen wir's! Eine Woche Reisegeld, ein freundlich Wort konnte eine ganze, glückliche Lebensdichtung schaffen für solch ein Paar am zerfallenden hölzernen Brunnen. —

Es schlug Neun aus der Ferne, wie wohl kannt' ich die Glocke, wie oft hatt' ich sie selbst gezogen! sie war mein patriotischer Stolz, nirgends fand ich auf meinen kleinen Reisen solch starken gewaltigen Ton, und Christian, der mit gegen die Franzosen gewesen war, hatte mich oft durch die Versicherung hoch beglückt, auch in dem großen Paris bimmelten die Glocken alle dünn und jämmerlich neben der unfern in Sprottau auf dem großen Turme.

Der Pappelweg, das Kirchlein erschien, vor dem ich mich ewig gefürchtet hatte — das war ein merkwürdig Kirchlein, der Inbegriff des ersten mystischen Katholizismus, welcher über mich gekommen war. Weit abgesondert von der Stadt liegt es auf einem Hügel, an dessen Fuße schwarz und langsam der kleine Fluss Sprotta vorüberzieht, immer ist es verschlossen, nur einmal des Jahres zog die Geistlichkeit in weiße Spitzenkleider und dampfenden Weihrauch gehüllt hinaus, um Gottesdienst darin zu halten, das kleine Häuflein Gläubiger — Lutheraner sind die weit überwiegende Mehrzahl des Städtchens — der fremde Kirchengesang, die roten Fähnchen mit langen Troddeln waren mir von dem wunderbarsten Eindrucke. Und nun kam die Sage über jenes Kirchlein hinzu, welche mir die Mutter erzählte, um alle Ahnungen geheimnisvoller Poesie in mir zu wecken, und das Wort „katholisch“ fragend und feierlich in mein Herz zu schreiben. Eines Tages nämlich sei bei einem Feste in der großen Stadtkirche der Katholiken, an welche ein Nonnenkloster stieß, Folgendes geschehen: Der Priester zeigt dem knienden Volke die Hostie, diese aber erhebt sich plötzlich in die Luft, verschwindet aus der Kirche, fliegt langsam über die Stadt, und senkt sich draußen auf jenem Hügel erst wieder zur Erde. Deswegen sei das Kirchlein an jener Stelle erbaut worden, und wenn dieser Tag im Jahre wiederkomme, ziehe man in Prozession hinaus. Es sei übrigens der Tag gewesen, an welchem eine junge Nonne den Schleier habe nehmen sollen, Einige hätten dies für ein Warnungszeichen gehalten und verlangt, das Mädchen der Welt wieder zu geben, der Probst aber habe erklärt, es sei im Gegenteil ein Wink des Himmels, dass die neue Schwester zu großen Dingen auserkoren sei, und dass man die Einkleidung derselben um keinen Tag verzögern dürfe. Das Mädchen soll aber blühend schön gewesen sein und blitzende Augen gehabt haben, erzählen die Leute, und noch in demselben Jahre sei sie gestorben und draußen unter dem Kirchlein begraben worden.

Warum sind wir nicht auch katholisch? fragte ich meine Mutter, es sind schöne Bilder in der großen Stadtkirche und das Singen und die Musik klingt so wunderlich hübsch; es überläuft mich so angenehm dabei, und der Rauch aus den silbernen Kesseln ist so fein und schön, besonders wenn die Sonne durch die großen Kirchenfenster scheint — die Mutter warnte mich aber, besonders vor dem Kirchlein. Dort habe auch der „schöne Gottlieb“ gehaust, und erst neulich sei wieder ein Menschenantlitz oben am Glockenfensterchen gesehen worden, obwohl der Probst allein den Schlüssel habe, und alle Jahre nur einmal hinaus komme.

Mit dem „schönen Gottlieb“ hätte es folgende Bewandtnis. Er war der Anführer einer Räuberbande, und wegen seiner auffallenden Schönheit so genannt. Es heißt, er sei aus Desperation unter die Spitzbuben gegangen, weil ihm seine Geliebte geweigert worden. Im „Kirchlein“ — so wird es ohne Weiteres genannt — habe er Zusammenkünfte mit ihr gehabt, oben vom Glockenfensterchen hätte er sich oft die Bürger angesehen, wenn sie ins Feld spazieren gegangen seien, mancher wackre Meister habe ihn gesehen, und die Augen niedergeschlagen. Ja, man erzählt, es gäbe im Kirchlein ein so treffliches Versteckplätzchen, dass der schöne Gottlieb am einzigen Kirchtage des Jahres dort gewesen sei, die Messe mit gefeiert und sogar mit seiner Charmanten, welche das Plätzchen gekannt, geliebäugelt habe. Irgend ein solider Bürger sei aber jedesmal an solchem Tage mit einer Ohrfeige überrascht worden, ohne zu bemerken, woher sie käme.

In der Haide ist es nun später dem „schönen Gottlieb“ doch misslungen, man hat ihn gefasst, und unweit des Kirchleins, wo ein großer steinerner Galgen stand, in Ketten aufgehangen. Bis auf den heutigen Tag aber sieht man scheu nach dem Glockenfensterchen, und Viele wollen den Laden desselben ganz früh am Tage offen und ein Gesicht erblickt haben — das soll der schöne Gottlieb sein, welcher sich den Fluss, die Wiesen, die Gebüsche und das Städtchen betrachte, so lange der düstre Morgennebel drauf ruhe.

Man kann also denken, dass ich nicht ohne lebhaften Anteil jetzt bei hellem Mondschein daran vorüberfuhr, und nach dem Laden des Glockenfensterchens blickte — das Kirchlein stand wie sonst mit festgeschlossnen Augen da, Gebüsche und Bäume umher waren höher gewachsen, der Putz von der Mauer und vom Türmchen war hie und da abgefallen — wie lange, dacht' ich, hast du schon gelebt, und doch nimmst du noch Interesse an dem jugendlichen Katholizismus, wie er dir damals nahe getreten, an all den unsichtbaren Geistern, welche aus dem dämmernden Himmel in das Leben hereinreichen, kommst mit schwimmenden, nach unbekannten Dingen verlangenden Träumen wieder in die Heimath! Und ist's nicht am Ende so: Wem die Heimat, dies Symbol alter Liebe nicht Sehnsucht nach dem Himmel erweckt, der hat keinen Himmel zu hoffen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reisenovellen von Heinrich Laube, Teil 6