Achte Fortsetzung

Das Land ist mit einer großen Menge Traditionen angefüllt. Viele derselben erhalten sich in unzähligen Handschriften, die, zugleich mit dem Beruf eines Märchenerzählers, vom Vater auf den Sohn übergehen. Der Märchenerzähler liest im Kaffeehause jeden Abend volle zwei Stunden aus seinem angeerbten Buche; er liest mit starker, lauter Stimme, und macht zu vielen Stellen lange selbständige Bemerkungen, die ihm, wenn sie recht geistreich sind, einen doppelt so großen Zuhörerkreis und folglich auch doppelte Einnahme verheißen.

In Rast-Beirut (s. oben), mehr als eine Stunde von der Stadtmauer, liegt über dem Meer die „Taubenhöhle“, so benannt von den vielen Tauben die in derselben ihre Nester bauen. Außer diesen Vögeln ist Niemand hineingekommen, Niemand hat ihre Tiefen ausgemessen. Das Volk fürchtet sich, des Nachts an der Höhle vorbeizugehen, weil, der Sage gemäß, im hohen Altertum ein unreiner Geist oder böser Zauberer, nachdem er einem der Könige von Berytos seine schöne Tochter gestohlen, sie in den unerforschten Abgrund dieser Höhle führte und ihr daselbst fleischfressende Vögel von scheußlicher Gestalt und ungeheurer Größe zu nimmer schlafenden Wächtern gab. Viele glauben und machen Andere glauben, dass jene Fürstentochter immer noch lebe, aber in ewigem Zauberschlafe liege, auf goldenem und mit Edelsteinen besetztem Lager, deren Schimmer wie Sonnenlicht die Mauern des unterirdischen Palastes erhelle. — Die muhammedanischen Araber halten das Andenken eines alten Scheich Negr sehr hoch, dessen Monument auf einem das Meer überhängenden steilen Felsen, hinter hohen Steinmauern, errichtet ist. Dieser Scheich soll in der Mitternacht seinem Grabe entsteigen und, bis zu den Wolken emporwachsend, die Vorübergehenden oft erschrecken. Dies glauben jedoch nur seine Anhänger.


In der Gegend von Tripoli befindet sich, so sagt man, ein kleines verzaubertes Haus, angefüllt mit Gold und Silber, Perlen und Smaragd. Die Tür bewegt sich von selbst in ihren Angeln, kein Ungeheuer bewacht den Eingang, und wer Lust hat, der kann aus- und eingehen, ohne besorgen zu müssen, dass eine unsichtbare Gewalt die schweren Torflügel auf ewig hinter ihm schließe. Hat er aber von dem kostbaren Inhalt des Häuschens etwas zu sich gesteckt, so werden beim Hinaustreten seine Hände, Taschen oder Beutel augenblicklich wieder leer, und er selbst wird wahnsinnig. Ein Araber der uns dies erzählte, setzte hinzu, irgend ein verständiger Statthalter habe, weil diese Täuschung täglich Menschen zu Grunde richtete, die Tür des kleinen Gebäudes vermauern lassen.

Die Vorurteile grassieren in Syrien, wie anderswo, als epidemische Krankheiten unter dem Volke. Menschen ohne geistige Bildung, aber von glühender Einbildungskraft, bringen die zerstreuten Lehrsätze des Aberglaubens in eine Art von System, zu welchem die große Mehrheit ihrer Landsleute sich willig bekennt. So z. ß. erfüllt das anhaltende nächtliche Bellen eines Hundes den Bewohner des Hauses, vor welchem er verweilt, mit Grausen: er nimmt eine Lampe, sieht verstohlen aus seinem Fenster, und wehe dem armen Hunde, wenn Jener bemerkt, dass er beim Bellen den Kopf zur Erde niederbückt! Der erschrockene Hausherr ladet ohne Zögern seine Flinte, ruft: „es komme über dein Haupt, verfluchtes Tier!“ und eine Kugel fährt in die verwegene Kehle, die es gewagt hat, dem Manne seinen nahen Tod zu verkünden. Richtet der Hund beim Bellen die Schnauze aufwärts, so wartet seiner am Morgen ein leckeres Frühstück, weil er den Besitzer des Hauses vor einem drohenden Unglücke gewarnt hat; dieser aber beunruhigt sich wieder, so dass er mehrere Nächte nicht schlafen kann. Eine Verfinsterung der Sonne oder des Mondes ist alle Mal für die ganze Bevölkerung Syriens ein entsetzliches Ereignis. Das unerwartete Erscheinen verschiedener Vögel auf Häusern und ihr plötzliches Verschwinden bedeutet Unglück. Der Storch, Vertilger der Schlangen und anderen Ungeziefers, ist jedem Hause ein willkommener Gast; das Volk ehrt ihn wie einen guten Genius, und ein Knabe, der nach Störchen mit einem Steine geworfen, wird scharf gezüchtigt. Wenn ein Pferd grimmig den Boden stampft, so fürchtet sein Herr Begegnung mit einem Feinde und trifft Maßregeln der Vorsicht; wiehert es aber und streckt dabei den Hals aus, so bedeutet dies zum Abend Wiedersehn eines Verwandten oder Freundes. Die Ratten gelten in Syrien für Vertraute der Pestilenz.

Wir beklagen, dass es uns nicht vergönnt gewesen ist, einer arabischen Hochzeit beizuwohnen. Was wir von den hochzeitlichen Gebräuchen erfahren haben, ist folgendes. Einige Tage vor der Trauung begibt sich der Bräutigam in Begleitung seiner Freunde und eines Trupps Musikanten feierlich nach dem Hause seines künftigen Schwiegervaters. Die Braut darf Ohrenzeugin von Allem sein, was bei dieser Gelegenheit gesprochen wird, muss aber mit geschlossenen Augen und zusammengekniffenem Munde dastehen. Offiziell sieht sie den ihr zugedachten Mann erst am Tage der Trauung; es ist ihr aber nicht verwehrt, heimlich und verstohlen nach ihm zu blicken, wenn er einmal über die Straße geht.