Thüringen

Es war dunkel, als ich den Berg nach Weißenfels hinunterfuhr. Das Schloß leuchtete matt herüber in seiner stolzen Ruhe, lichtgelb mit blaugrauem Dache. Ein stattliches Gebäude, bei dessen Anblick mir der Dreißigjährige Krieg einfiel. Auf dem Schlosse zu Weißenfels hat Wallenstein in der letzten Nacht vor dem Schlachttage zu Lützen gewohnt. Die Sterne, die jetzt über mir aufgingen, haben ihm damals Rede und Antwort gebracht auf seine Lebens- und Todesfragen. Auf diesem Schlosse lag die Nacht darauf todwund der wilde katholische Reiterführer Graf Pappenheim, der mit seinen Kürassieren noch am Abend der Schlacht von Halle herüber auf den Kampfplatz galoppiert kam. In dieses Schloß brachte man Gustav Adolfs Leiche, die man mühsam hatte unter einem Haufen Gefallener hervorziehen müssen.

Hier bei Weißenfels beginnt die große Schlachtebene, die sich zwischen Halle, Merseburg, Leipzig und Lützen ausbreitet. Thüringer Hügel wachsen nach Süden herauf zu Bergen. Geographisch beginnt Thüringen eigentlich hier. Die alte Grenze ist zwei Meilen weiter, eine halbe Viertelstunde hinter Naumburg. Auf der alten Heerstraße nach Kösen führt die Schweinsbrücke offiziell in das lieblich-freundliche Land. In Gedanken sehe ich Thüringen immer sonnenbeschienen zwischen grünen Bergen liegen. Freundliche Leute wohnen hier, die täglich Pflaumen- oder Apfelkuchen oder sonst eine Kuchengattung verspeisen. Weil der Kuchen in meiner Heimat etwas Sonn- und Feiertägliches ist, so erscheint mir Sachsen und Thüringen stets wie zu einem Festtag geputzt. Sachsen leistet in der Kuchenbäckerei nur etwas weniger als Thüringen. Ich darf bloß an zwei Vergnügungsorte bei Leipzig erinnern, die ohne weitere Umstände „der große und der kleine Kuchengarten“ genannt werden. Die ärmste Frau bäckt mit dem Brote einen Kuchen. Die Nationalleidenschaft heißt Kuchen. An der Heerstraße steht an den Warenhausschildern obenauf „Kuchenbäckerei“. Ich hatte eine lange Zeit das Glück, mitten im Schoße dieses nationalen Appetits zu wohnen und alle Nuancen beobachten zu dürfen: in Kösen steht nämlich hoch am Wege das berühmte Hämmerlingsche Kuchenhaus, wo jeder, der vorüberpilgert, einkehren muß. Bertha bringt einem hier zu jeder Jahreszeit den passenden Kuchen ohne jede weitere Frage. Zu Fuß, zu Roß, zu Wagen wird hier pausierend genossen. Das Haus liegt an der Straße nach Paris, der Postillon hält still und erwartet Bertha für sich und die fremde Herrschaft, die oft mit Verwunderung den ohne weiteres präsentierten Kuchenteller betrachtet. Wenn meine Schriftstellerei nicht recht vorwärts wollte, habe ich oft stundenlang den Reisenden zugeschaut. Am Ende konnte ich schon den Thüringer von den anderen Menschen unterscheiden: er verzehrt mit größerer Sicherheit und vertrauterem Genusse das heimatliche Labsal.


Die Erinnerung an das alte Deutsche Reich wird hier wach, wenn man aus der nordöstlichen Ebene an die Berge und Täler kommt, die den Übergang zu den ältesten Gebieten des Reiches bilden. Jenseits östlich und nordöstlich dieser Berge gab es nur Marken.

Der Vergleich mit Sachsen liegt nahe. In Thüringen ist alles Sächsische sanfter schattiert, der Akzent ist nicht so auffallend, der Menschenschlag, zwar auch noch wenig über die kleine Mittelgröße hinausreichend, wie sie in Sachsen vorherrscht, ist schon mannigfaltiger. Die glatten, zierlichen Mädchen Sachsens sind seltener. Das dralle Leipziger Jäckchen hört auf, der kurze Kattunmantel beginnt, in den sich hier auch die ärmlichste Weibsperson hüllt. Als Eigentümlichkeiten treten auf: das allsonntägliche Scheibenschießen, die im vollen Flore stehende Lohnkutscherei, die Einspänner und die Vorliebe für saure Milch.

Das muntere, rührige Weißenfels erweckt mir als ein halber Grenzort stets die politischesten Gedanken. Doch was kann das kleine Städtchen für die deutsche Vielstaaterei? Es ist ein kleiner fideler Ort für Pensionierte. Wohlfeil und leicht zugänglich, zieht es mit magnetischer Kraft die Ausgedienten aller Stände an. Man spielt hier recht gut Theater, liest sehr viel, man hält Zeitungen, kurz, man ist eine luxuriöse kleine Stadt und gar nicht blöde.

Der finstere Morgen, an dem mich mein Freund, der Mautmann an der Kösener Brücke, nicht erkennen wollte, ging erst ein wenig ins Dunkel über, als wir hinter Kösen die lange Bergstraße aufwärtsfuhren. Sie ist trotz der trefflichsten Chaussee noch beschwerlich genug. Bevor diese Gegend preußisch wurde, soll die Straße überhaupt nicht existiert haben. Es war also hier ein sogenannter romantischer Paß, wo Pferd und Wagen zerbrachen oder steckenblieben. Im jenseitigen Dorfe aber und in Kösen waren die Wegelagerer zu Hause, das heißt diejenigen Leute, die sich zum Vorspann Pferde halten. Diese geborenen Feinde aller Reisenden sind heute noch nicht ganz beruhigt. Von ihnen und ihrem Anhange wurden die Kunststraßen ebenso schnöde begrüßt, wie die Eisenbahnen heute von Wirtshäusern und Lohnfuhren angefeindet werden. Es gibt keinen Fortschritt, der nicht damit anfängt, Wunden zu schlagen.

Hinter dem Städtchen Eckartsberge fällt das Land wieder in tiefere Hügel, links davon schlummert in einer Taltiefe das Städtchen Apolda. Wir fuhren bis zum Abend weiter. In Tiefurt stiegen wir noch einmal ab, um Kutscher und Roß stärken zu lassen. Tiefurt liegt wirklich in der Tiefe. Zwischen dunklen Bäumen zieht sich ein Park an der Ilm hinab, jenseits des Flüßchens an einer Berglehne in die Höhe. Es war schon herbstlich, als ich ihn damals am Abend durchschritt. Hie und da sah mir eine weiße Herme geisterhaft entgegen. Die ganze Tafelrunde von Tiefurt, das einst der eigentliche Gartensalon der genialischen Weimarer Gesellschaft war, ist tot. Das Land mit dem nahen Städtchen Weimar ist eine offene Gruft unserer klassischen Literatur.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier