Stettin. Der Hypochonder.

Ich hatte lange geschlafen, aber als ich erwachte, saß der Hypochonder noch unverrückt da, ein kugelfester Held, um den ringsum alles gefallen war. „Nicht seekrank?“ fragte ich. Ein verachtendes Schweigen antwortete.

Ich stieg auf das Verdeck. – Kalter Wind und Regen stürmten darüber hin, an der Backbordseite war ein Raum den Seebrüchigen angewiesen. Matrosen führten allerlei Kandidaten dahin, namentlich eine alte Stettinerin hatte fest wie an der Pharaobank Posto gefaßt und hielt mit ihren mageren Händen den Rand des Schiffes. In gemessenen Pausen erhob sie sich von dem Sitze nach dem Wasser zu. Bis wir landeten, bewahrte sie ihren Posten unverrückt wie der Steuermann. Eine Dame jüngeren Alters verdeckte ihr Gesicht mit schönen weißen Händen, die Augen schienen geschlossen zu sein. Nicht weit von ihr kauerte der Postbeflissene, der sich wieder heraufgeschleppt hatte, und genoß, in Angstschweiß gebadet, seine Ferien.


Kleine Hügel, die Leppiner Berge, flogen rechts am Schiffe dicht am Ufer vorüber, noch weiter rechts zeigten sich die Wolliner Berge. Swinemünde war nahe. Geographen wird bekannt sein, daß die Oder bei ihrem Ausflusse zwei Inseln bildet: Usedom und Wollin. Heißt nun auch das Wasser nicht mehr Oder, die Sache hat doch ihre ziemliche Richtigkeit. Als wir um eine kleine, mit Fichten sparsam bewachsene Landzunge gebogen waren, lag die östliche Ecke von Usedom vor uns. Mit seinen leuchtend weißen und gelben Häusern grüßte Swinemünde. Von den vielen Kauffahrern im Hafen schallte monotoner Matrosengesang. Alles was noch an Badegästen in Swinemünde war, kam an den Kai, um das Dampfschiff landen zu sehen. Der Abend fiel dunkel hernieder. Das sah der Postbeflissene mit Schmerz. Die Hoffnung auf diesen Abend hatte ihn über die Nachwehen der Seekrankheit hinweggetröstet und war die letzte Hoffnung seiner Reise gewesen. Der Schöneberger erschien auf dem Verdeck und sagte: „Pah!“

Swinemünde ist das Seebad von Berlin, wie Scheveningen vom Haag, Dieppe und Boulogne von Paris. Obwohl es etwa dreißig Meilen von Berlin entfernt liegt, so kann man doch mit Schnellpost und Dampfschiff in vierundzwanzig Stunden an Ort und Stelle sein. Nächst den Berlinern sieht man natürlich Pommern in diesem Seebade. Auch die Schlesier kommen oft hierher. Alle Leute aber, die weiter nach Westen wohnen, besuchen lieber die Nordsee.

Wie das Volkslied sagt: „Es fiel ein sanfter Regen.“ Als wir an Land stiegen, verließ uns der Schöneberger brüsk ohne Abschied, der Postbeflissene schüttelte sich und vertraute mir an, es sei ihm noch so jämmerlich zumute, daß er sich gleich wieder zu Bett legen müsse. Ich ging zum Gesellschaftshaus, das wenige Schritte abgesondert von der Stadt liegt, aristokratisch allein, einige hundert Schritte vom Landungsplatze und diesem gegenüber. Es ist der Mittelpunkt der vornehmen Badewelt und auf ganz stattlichem Fuße eingerichtet. Man findet dort mittags eine große table d’hôte und abends Gesellschaft, die sich mit Essen, Trinken, Spiel, Musik und Tanz unterhält. Ein Fischer wies mich mit Gepäck und der Bitte um eine Unterkunft an ein reizloses Weib, und wir stiegen am Bollwerk hinab auf festen, feuchten Sand, der hier die Stelle des Pflasters vertritt. Eine lange, artige Reihe Häuser mit der Aussicht auf den inneren Hafen zieht sich an diesem Kai im stumpfen Winkel hinunter. Hinter der ersten Reihe finden sich noch drei oder vier Straßenschichten, und diese nicht unbedeutende Masse, an einem Wäldchen und an der Sandfläche gelegen, bildet Swinemünde. Vom Meere ist nichts zu sehen.

Es war in den letzten Tagen der Hauptsaison. Ich konnte annehmen, daß die Wohnungen bereits zum größten Teile verlassen seien, und suchte mir also die hübscheste mit einem Treppenaufgange und breit rankenden Pfirsichbäumen geschmückte Villa aus. Da fand sich denn auch eine sehr schöne Wohnung. Bald saß ich eingerichtet im großen Zimmer allein, der Regen wurde stärker, Wind und Sturm erhoben sich von der Meerseite her, und bald hörte ich das Brausen und Toben der See, die nördlich von Swinemünde an die deutsche Küste pocht.

Am andern Morgen gab es den gleichen grauen Regen. Der Postbeflissene schlich trübselig vorüber. Das alte Schifferweib begleitete ihn und trug die Reisetasche und den Regenschirm. Als der Regen etwas nachließ, wollte ich das Meer suchen gehen. Ein oberflächlicher Bekannter, mit dem ich, Gott weiß, in welches Herren Land, Wein oder Kaffee getrunken hatte, begegnete mir und suchte mich zu orientieren.

So kam ich an die Dünen. Das sind kleine Sandhügel, drei bis fünf Schritt hoch, die den schönsten Streusand enthalten. Sie sind offenbar für die Kanzleien und Sekretäre geschaffen. Trauriges halmartig vereinzeltes Struppgras sprießt aus ihnen, so daß sie ganz das Ansehen eines alten grauen Männerhauptes gewähren, das schlecht barbiert ist.

Es ist einzugestehen, daß die See viel zu tun hätte, wenn sie auch auf mich Vorbereiteten und dermaßen Profanen einen Eindruck machen wollte. Ich trat auf die Dünenspitze und sah das Meer. Schwarzgrün, mit weißem Schaum bedeckt, bewegte es sich mir entgegen. Von Ewigkeit, von Unendlichkeit, von Menschenkleinheit, von wüster Absolutheit sollte ich durchdrungen sein. Das gilt für die kurante Art, wie jeder beim Anblick des Meeres zu empfinden hat. Wer diese Empfindungen nicht zur Verfügung hat, ist ein verwahrlostes Geschöpf. Ich glaube, ich war es, aber ich trage die Schuld nicht allein, sondern der Schöneberger und die Ostsee hatten ihr gerütteltes Maß an Schuld.

Der Schöneberger ging nämlich am Strande spazieren, um die erquickende Seeluft zu genießen. Gegen etwaige Erkältungen hatte er sich dermaßen in Pelzmütze, Mantel und Wasserstiefel eingepackt, daß kaum seine gesunde Schnupftabaksnase der Seeluft teilhaftig werden konnte.

Die Ostsee erschien mir zu unfrei, um ohne weiteres einen überwältigenden Eindruck auf mich zu machen. Rechts laufen die sogenannten Molen ein langes Stück in das Meer hinaus, links tritt die Küste mit den roten Dächern von Heringsdorf auch ein wenig vor. Und der Eindruck der Unermeßlichkeit kann nur entstehen, wo es keine Maßstäbe gibt. Sobald man Teile des Meeres umfaßt sieht, wird die kombinierende Tätigkeit unseres Gehirns in Anspruch genommen und die unmittelbare Illusion wird zerstört.

Die vor mir liegenden Hütten waren nun das, was man ein Seebad nennt. Auf hölzernen Stegen fanden sich eine Anzahl Kammern zum Auskleiden. Offene Stege führten etwas weiter in das Meer hinein. In weiße Tempelherrenmäntel gehüllt, wandeln die Entkleideten da umher, bis sie die Lust überfällt, in die See zu springen. Kränkere Personen oder solche, die sich mehr separieren wollen, finden zwei große Badekutschen, das sind mit Leinwand überzogene Kasten, die auf vier Rädern stehen. Sie sind schon so weit in die See hinausgeschoben, daß man von ihnen aus gleich in eine genügende Wassertiefe steigen kann. Wer beim mangelnden Wellenschlage das Wasser stürmischer auf dem Leib spüren will, den versehen Badediener mit genügenden Kübelstreichen. Das heißt, sie versetzen ihm aus ledernen Kübeln, die etwa wie Feuereimer aussehen, so geschickte Wasserstreiche, wie man nur verlangen kann. In der See selbst ist es wichtig, die heranbrausenden Wellen da aufzufangen, wo sie sich am stärksten treffen. Das ist alle Verrichtung und Wissenschaft eines Seebades.

Die Hauptsaison war in Swinemünde vorüber. Aber die Equipagen und Geschichten, die Parteien, der Krankheits- und Gesundheitsklatsch waren hier noch zu finden. Und in ihnen besteht ja eigentlich das Wesen des Badelebens. Im Seebade ist der Mittelpunkt der Wellenschlag. Erst spricht man davon, ob welcher sein wird, dann ob welcher ist, zuletzt ob welcher gewesen ist, und dann geht es wieder zum Futurum. Das langweilt mit der Zeit. Auch für die ersten Tage ist die Gesellschaft ohne Ertrag für den einzelnen Ankömmling, denn sie hat einen Hauptreiz in ihrer Geschichte. Man muß erst Neigung oder Abneigung, Gleichgültigkeit für diesen oder jenen in sich aufgefunden haben, man muß erst irgendeinen Bezug sehen, bevor man sich gebunden fühlt. Partien und Unterhaltungen mit den älteren Jahrgängen gehörten also zu meinen nächsten Aufgaben. In den nächsten Tagen erlebte ich nichts als Schwermutsanfälle, Betrachtungen meiner Nachbarn und apathisches Zurückversenken in meine Lektüre. Das heißt, einen unerwarteten Besuch erhielt ich. Eine Dame, die mich für einen Doktor der Medizin hielt, schilderte mir alle ihre epileptischen Leiden bis ins Detail und bat mich, sie zu kurieren. Ihr Vortrag war von jener Art, wie Wieland zwei eiserne Drescher schildert, die am Eingang des Tores so schnell und dicht arbeiten, daß sich kein Sonnenstrahl zwischen ihre Schläge drängen kann. Meine Bemerkung, ich sei ein unglücklicher Philosoph, dem die Enthüllung solcher vierzigjähriger Mysterien ebenfalls nur Unglück bringe, war auf keine Weise einzuschieben. Ich mußte mich schweigend in das epileptische Schicksal fügen. Als die Dame so weit erschöpft war, für meinen Rat eine Pause zu gestatten, sagte ich ihr, sie solle heiraten.

Darauf lächelte sie und ließ sich dahin vernehmen: bisweilen habe sie auch wohl daran gedacht. Aber bis jetzt sei sie es allein gewesen, die diesen Gedanken empfunden habe. Mit aller Anerkennung dieses letzten Ausdruckes wünschte ich ihr Besserung und empfahl mich und meine Ruhe. In meiner Nachbarschaft war auch nicht viel Freude. Es gab da ein ganz artiges schwarzäugiges Mädchen, aber wie die Mutter sagte, sie war bloß da, um auf andere Gedanken zu kommen. Es ist immer übel, wenn man es darauf absieht. Die Gedanken eines Mädchens sind zärtliche Empfindungen. Es ist ein Übelstand, daran ändern zu müssen. Das Mädchen liebte einen Künstler, und die Mutter sagte, ihre Tochter habe sich in einen Komödianten vergafft. Gegen diesen Komödianten sollte nun Swinemünde helfen.

Ich schloß mich näher an einen rüstigen Badegast an, machte mit ihm Partien und ließ mir erzählen. Es war ein Buchhändler, der ein bewegtes, erfahrungsreiches Leben geführt hatte. Er hatte zur Zeit Napoleons sich mit Not und Gefahr der Konskription entwunden und war auf der Flucht nach Österreich und bis tief hinein nach Ungarn geraten. Der Vater, ein leidenschaftlicher Franzosenfeind, hatte den Knaben bis an das Tor geleitet, ihm vier Taler gegeben und ihn mit seinem Segen entlassen. Gott allein und den weiten Himmel als Schutz über sich, war der Knabe in das Blaue hineingezogen. Ährenfelder und Gräben mußten ihn vor den Franzosen verbergen. So war er glücklich bis Leipzig gekommen. Eine Dresdner Krämerin, die sich damit beschäftigte, Kaffee zu paschen, gab ihm bis Dresden einen Sack zu tragen und sorgte kurze Zeit für seine Nahrung. In Dresden hatte er beim österreichischen Gesandten um weitere Hilfe nachgesucht, und sie war ihm auch gewährt worden.

Jetzt wanderte er mit mir durch den tiefen Sand nach einem Walde, hinter dem Corswandt, eine gepriesene Swinemünder Partie, gelegen sein sollte. Ein prächtiger, voller Wald führte eine Stunde weit zu einem schweigenden, an schwarzen Seen gelegenen Dorfe. Der Wald ist nur von außen mit trockenen, unproduktiven Kiefern umgrenzt, wie man ein reiches Geschmeide in einem unscheinbaren Futteral verbirgt. Innen lockten dunkel und erquickend tiefgefärbte Laubbäume. Wer vermutet hier, weithin von Waldrändern umsäumt, eine verschwiegene Landschaft mit dunklen Seen? Ein Reh floh durch die Buchen, am Einbug des Sees ging ein Fischreiher seinem Fange nach, der Gänsehirt am Waldeshange schlief mitten unter seinen Pflegebefohlenen.

Vom Lande her fegten Regenwolken zu uns. Gegen Swinemünde und das Meer zu war es licht, als ob da Hoffnung und Rettung von den Kümmernissen des Landes zu finden sei, bei Madame Hannemann in der Lotsenstraße, die der Herr Major als eine sehr preiswürdige Konditorin zu empfehlen pflegte.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier