Abfahrt nach Rügen.

Ein gefälliger Hausgenosse weckte mich mit der Nachricht, es liege ein kleiner Schoner zur Abfahrt nach Rügen bereit, der in zehn Minuten in See stechen wolle. Ich entschloß mich schnell, flog in die Kleider, steckte ein paar Bücher in die Manteltasche, wie arme Leute ein Stück Brot überall mitnehmen, und sprang an das Bollwerk. Das Dampfschiff ging nicht mehr, eine Privatfahrt auf einem kleinen, raschen Schoner war das einzige Mittel, die gepriesene Insel, Deutschlands Thule, zu sehen. Es wäre eine Schande für die Abendzeitung gewesen, hätte ich mich an der Ostküste herumgetrieben und das offizielle Ziel der Reisenden nicht besucht. Luise, die dienstbare, stürzte mit zwei Buttersemmeln hinter mir her, denn ich hatte das Frühstück im Stiche gelassen. Aber wie Ariadne konnte sie nur die Arme erfolglos nach dem Wasser strecken, wir lavierten bereits aus dem Hafen. Wenn Theseus auch gewollt hätte, und er verlangte wirklich nach den Buttersemmeln, das Geschick und der Schiffer Ulrich wollten nicht.

Das kleine Fahrzeug war ganz vollgestopft von Reisenden. Kaum fand ich einen bescheidenen Platz. Ich hoffte, mich zurückgezogen in den Mantel hüllen und den Elementen wie dem Menschenhäuflein ungestört zuschauen zu können. Aber Schriftsteller sind wie Gebrandmarkte oder Lorbeerbekränzte: sie sind nirgends unbekannt. Aus dem fremden, chaotischen Knäuel wickelte sich schnell ein munterer Sachse, dem ich schon einmal begegnet war, und der mich begrüßte. Die Gesellschaft bestand vorwiegend aus Studenten und jungen Gelehrten und war sehr munter. Es war allerdings nur eine angewöhnte Munterkeit, namentlich die Studenten lärmten vielfach in ihrer Tradition unechter Lustigkeit. Man erklärte, das Junge Deutschland sei nur auf dem Lande verboten, auf der See könne man es leben lassen.


Öffentliche Personen erkaufen alles mit verletztem Schamgefühl. Die Welt rächt alles Heraustreten in irgendeiner Weise. Das leichtblütige Mädchen bezahlt ihre Lust mit dem Tratsch, der ihr nachläuft, und den Fingerzeichen, die auf sie gerichtet werden. Seit einigen Jahrzehnten behandelt man die bekannteren Schriftsteller eben auch wie Mätressen des Publikums. Aber auch das wirkliche Verdienst wird beneidet, wenn natürlich auch gelobt. Lob ist auch eine Verletzung, wenn auch eine durch Blumen.

Indessen, früh auf dem Meere stellen sich bald erquickendere Gedanken ein. Die Sonne stieg glänzend über das Wasser empor, und der Südost blies frisch und voll um die geteerten kleinen Segel. Die pommersche Küste grüßte mit dunklen Wäldern zu uns her, die weißen Häuser von Heringsdorf glänzten und lachten. Hier nimmt das kleine Seebadetablissement die Ruhesuchenden freundlich auf, hier stört kein Gesellschaftshaus und keine Saison. Das Meer liegt im Gegensatz zu Swinemünde ganz nahe. In Heringsdorf wohnen Poeten, die keine bewegte Welt brauchen und eine halbe Einsamkeit suchen, resignierte Mädchen, Professorenfrauen mit vielen Kindern, Diätiker mit starken Grundsätzen und andere ehrliche Leute. Übrigens ist Heringsdorf einer von den Orten, an den sich seit Jahren dieselbe Drohung knüpft. Man sagt nämlich in jeder Saison, es werde Swinemünde übertreffen. Dies soll ein Hauptgenuß der Leute sein, die hier ihre Kur verleben.

Die Küste blieb immer weiter linksab von uns. Keck und kühn ging es mitten in die See hinein. Die waldigen Uferberge von Usedom wurden ferner und flauer. Ich sehnte mich sehr nach dem offenen Meere. Aber auch als ich schon nichts als Himmel und Wasser sah, gelang mir die Illusion, mich mitten auf dem Meere zu befinden, nur schlecht, da der Schiffer sagte: „Bei gutem Wetter sieht man in Südost diese Küste, in Nordwest jenes Eiland.“ Nach Rügen hin aber wird selbst ein mittelmäßiges Gesicht die brutalsten Störungen nicht los. Rückwärts verläßt einen der blaue Streifen und die Spitze von Usedom nicht, und bald erheben sich vorwärts aus den Wogen zwei Inseln, Rüden und Oie, zwischen denen sich die Fahrt hindurchwindet. Hinter ihnen erblickt man bereits den blauen Punkt von Mönchgut, dem südlichen Teile Rügens.

Die östliche Meeresküste Usedoms, aus der wir herausgesteuert waren, hat den pommerschen Historikern mit den Geheimnissen ihrer Unterwelt schwer zu schaffen gemacht. Da sollen versunkene Städte von wunderbarer Pracht und Herrlichkeit schlafen, mit goldenen Toren und silbernen Türmen, die schon mit den Griechen Handel getrieben hätten. An hellen, stillen Sonnentagen will man die Glocken von Vineta unter dem Meere läuten hören und die Turm- und Kirchendächer durch das Wasser leuchten sehen. Die größte Handelsstadt des Nordens sei dort mit ihrem außerordentlichen Reichtum von den Fluten verschlungen worden, erzählt man. Wenn heutzutage ein Schiffer darüberfahre, der gottlos und schlecht gesinnt sei, so geschehe ihm das größte Unglück.

Wenn ihm zum Beispiel seine Liebste nicht mehr gefallen habe und er habe sie verlassen, so finde er sie dort wieder, erzählte Ulrich der Schiffer, sagte „Brr“ dabei, schüttelte den Kopf und nahm einen Schluck aus der Strohflasche.

Wie überallhin, haben auch hier die Rationalisten ihre Nase in das Meer gesteckt und wollen die unterirdische Welt mit der Bemerkung vernichten, die goldenen und silbernen Mauern, Tore und Türme der klassischen Handelsstadt Vineta seien einfach Felsenriffe, die man bei gutem Sonnenscheine sehen könne. Als ob die wichtigsten Dinge mit einer dummen Erklärung überhaupt zu erledigen wären. Das Wort „Erklärung“ ist überhaupt schon ein naseweises Wort.

Braun und blau hob sich die Küste von Mönchgut immer deutlicher vor uns aus den Fluten. Unser Südost war stetig und frisch und legte sich mit vollen Armen in die Segel. Die bebuschte Insel Vilm, die in der Bucht von Putbus liegt, stieg ebenfalls aus der See. Putbus liegt eine halbe Stunde vom Strande und sieht mit seinen schneeweißen, manchmal etwas kahlen Häusern wunderlich frischer Wäsche ähnlich, die auf das Plätten wartet. Die Küste ist schön bewaldet. Im Meere stehen bunt wie stille Pagoden die Badehütten, durch die Büsche winkt lockend ein stattliches weißes Badehaus. Dieses mit Säulen geschmückte Gebäude erweckt große Erwartungen. Mit einem munteren Sachsen, einem jungen, rüstigen Pommern und zwei trübseligen Siebenbürgern ging ich auf das Badehaus zu. Da die Siebenbürger es leichtsinnig fanden, in einem unbekannten Meere zu baden, ließen sie uns andere allein durch den Eichenwald nach dem Strande schreiten. Inschriften auf Inschriften bekundeten uns, in welch zivilisiertes Ländchen wir gekommen seien. Durch Tafeln an den Bäumen wurde vorgeschrieben, wo die Damen hinzugehen und nach welcher Seite sich die Herren zu wenden hätten. Der junge Sachse seufzte und erklärte, alte wendische Zustände seien ihm lieber. Die Vorschriften fand er sehr unpassend. Er wolle in vielen Dingen den Weg selber suchen, und es komme ihm auf eine kleine Verirrung durchaus nicht an, erklärte er.

Vom Meeresstrand aus öffnet sich ein hübscher Blick zwischen dem Vilm und der schräg überliegenden Küste hinaus auf das Meer. Weit draußen auf der Wasserfläche sieht man die Türme von Greifswald schimmern.

Angesichts dieser Stipendienstadt, wo trotz Hering und Stipendien immer so wenig Studenten waren, daß die Professoren äußerst ökonomisch mit ihnen umgehen mußten, um lesen zu können; wo auch der mathematische Grundsatz erfunden wurde: „Tres faciunt collegium“, angesichts dieser edlen Stadt stürzten wir uns ins Meer. Ich kann mir wohl denken, daß diese Türme, die man bei gutem Wetter und mit gesunden Augen am Horizonte sieht, dem Seebade Putbus nachteilig wurden: es hat etwas Schamverletzendes, von Türmen im Stande der Unschuld betrachtet zu werden. Wie leicht könnten Studenten, die nächst den Referendarien und den Damen des Serails am meisten Zeit haben, tubusbewaffnet auf diesen Türmen erscheinen und das größte Unglück anrichten!

Sonst ist das stille Meer, das heißt, die stille Ostsee, daran schuld, daß dieses Seebad nicht so besucht wird. Einmal nämlich ist die Bucht überall vom Lande eingeschlossen und nur nach dem Süden zu teilweise offen, dann sind auch die Südwinde seltener und immer schwächer und kommen obendrein vom Lande her. Es fehlt also ganz und gar am Wellenschlag, diesem geheimnisvollen Reiz eines Seebades. Die Oberfläche des Wassers ist glatt wie ein Teich. Man hat wegen des mangelnden Wellenschlages schon vorgeschlagen, an der sogenannten Granitz, wie dieser waldige Teil der Insel genannt wird, ein Seebad einzurichten, indessen paßt aller übrige Zuschnitt, der mit großem Aufwande für Putbus geschieht, nicht dafür. So wurde denn Putbus ein heiterer Sommeraufenthalt ohne besondere Betonung seines Charakters als Seebad.

Der Weg zu diesem Ort führt zwischen Feldern über eine mächtige Anhöhe hinauf. Wir traten sogleich in den Park- und Schloßbereich, der sich an den Hügellehnen hinzieht. Es war ein milder, sonniger Tag. Unter den schönen großen Bäumen war es still, im stattlichen Schloß saßen die Besitzer bei der Tafel. Alle Eingänge und Wege waren sauber und vornehm. Dick und behaglich lehnte der Portier am Schloßeingange, sein großer Hund, der neben ihm ruhte, blinzelte uns schläfrig an. Von der Seite lockte samtgrün ein schöner Grasabhang, auf dem das Gewächshaus steht. Sanft wird das Auge von hier hinabgeleitet auf Strand und Meer. Alle Ruhe und Behaglichkeit eines schönen und sorglosen Lebensstils umfing uns mit weichem Hauche. Wir legten uns auf den Rasen und träumten von schönen Versen, von treuen Augen, von weichen, streichelnden Händen und von sanfter Musik. Der tiefe Schatten des schönen Parkes mit seinen weißen Gebäuden führt noch weiter zum Tiergarten, wo große Hirsche in bequemer Gefangenschaft ihr Leben verträumen. Diese Anlage ist noch sehr jung, ursprünglich war sie ein Wald, in dem das Putbusser Steinhaus lag. Daraus wurde ein Schloß, der Wald lichtete sich zum Park. Jetzt bewegt man sich unter diesen Bäumen, als sei man in Altengland auf dem müßigen, reich gepflegten Boden eines Millionenlords, der Wald und Meer zu seinem Behagen nötigen kann.

Nach der Saison hat das weiße Städtchen in seiner Leere etwas Totes. Man hört die eigenen Schritte. Ich kaufte mir für zwei Silbergroschen einen Eichenstab und begleitete meinen Gefährten aus dem offenen Örtchen hinaus nach dem Walde und den Bergen zu.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier