Ruden

Ein kleines, steriles Eiland, an der breitesten Stelle etwa so breit wie drei Berliner Straßen, eine ganz unfruchtbare, baumlose Dünenbank, empfing uns mit allen seinen männlichen Einwohnern. Es sind einige Lotsen, die nur ihres Amtes wegen, nicht weil es ihnen ein besonderes romantisches Vergnügen macht, hier wohnen. Sie haben die Schiffe in die Häfen von Peenemünde, Wolgast, auch wohl noch weiter hinüber zu führen. Mitten unter ihnen wohnt auch ein Zollposten. Zu dieser bedeutendsten Persönlichkeit dieses Erdteiles wateten wir durch den dünnen Sand.

Ein gutmütiger, braver Mann begrüßte mich in seinem patriarchalischen Hause. In dem Flur saß eine alte Frau mit hellblauen, gläsernen Augen und spann Ziegenhaare. Sie sah uns mit keinem Blicke an, sprach nichts, sondern zündete ein Feuer an, um Eier und Kaffee für uns zu rüsten. Es fand sich ferner ein stattliches blondes Mädchen, mit festen weiß und roten Backen und kräftigen Armen. Sie war ebenso still und tot. Die Frauen schritten wie Schatten hin und her. Der Uhrmacher, der Forderungen an sie stellte, wie er es in einem Wirtshause zu tun gewohnt war, verlor bald seine laute Frechheit.


Wie auf einem Schiffe war nur Pökelfleisch zu haben. Ruden ist wie ein mitten im Meere stationiertes Schiff, das sich mit seinen Lebensmitteln stets auf längere Zeit von Wolgast her versorgen muß.

So saß ich mit dem Uhrmacher in einem kleinen Stübchen. Wir schnitten eben in das Pökelfleisch, der Kleine bekam allmählich seine Courage wieder und nannte das Meer eine schlechte Tabagie, die er sein Leben lang nicht mehr besuchen würde, da fuhren einige Windstöße in die Stube, der Uhrmacher sah mich wie ein Sünder an, sein offener Mund wagte nicht, in das Pökelfleisch zu beißen. Die Türe wurde aufgerissen, und Störte stürzte wie ein Räuber herein, dem die Polizei auf den Fersen ist. „Fort, fort“, schrie er, „wenn wir die Schiffe wiedersehen wollen. Es bricht ein Orkan los.“

Ich fühlte wenig Lust, diesen Orkan in allen seinen Nuancen auf unserem Schoner zu genießen, da ich dieses Vergnügen ohne weitere Unbequemlichkeit ja auch auf Ruden haben konnte. Aber der Uhrmacher konnte vor lauter Angst nicht eilig genug hineinkommen. „Ich kann doch nicht meinen Frack und meine gestreiften Hosen im Stiche lassen“, rief er verzweifelt und stürzte davon.

Mein Wirt sah kopfschüttelnd zu und führte mich auf seine kleine Sandwarte, um mir den Aufruhr des Meeres zu zeigen. Bald fiel die Dunkelheit wieder auf das schwarze Meer, das mit donnerndem Brausen seine Wogenberge schleuderte und die kleine Sandinsel mit Schaum überschüttete. Der Donner des Himmels erwachte, Blitze kreuzten zuerst einzeln durch die schwarze Luft, dann stürzten sie sich breit wie Feuerwolken in das Meer. Über die weite See brannte fast ununterbrochen ein zuckender, blauroter Feuerschein. Wie einen schwarzen Punkt sah ich zuweilen den schwarzen Schoner am Strande auf- und niedertauchen. Dorthin hatte sich der kleine Uhrmacher gerettet, um ein Paar gestreifte Hosen und einen Frack in Sicherheit zu bringen.

Dann saß ich beim Zöllner in der Stube, und der treuherzige Mann erzählte mir von seinem Leben, während draußen die Blitze aufleuchteten. Der Mann hat ein schlimmes Geschäft. Er muß mit den Lotsen hinaus, wenn Schiffe kommen, um ihre Ware zu vermerken. Mit dem Zöllner war der Konversationsstoff bald zu Ende. Die Frauen sah man nicht, sie leben in einem anderen Winkel des Hauses wie eine gute Art Geflügel. Von der bleiernen Langeweile dieses stillen Eilandes hatte ich bald genug genossen. So ging ich schlafen.

Geweckt wurde ich durch einen Sturmschlag an das Fenster. Es war noch immer nasses, graues Wetter, aber ich beschloß, mich nicht länger hier aufzuhalten. Der Schoner lag noch hochgeschleudert vor Anker. Mein Wirt versicherte, man könne bei diesem steten stürmischen Südwinde nicht daran denken, Swinemünde anzufahren. Ich wollte also versuchen, an den nächsten besten Punkt des Festlandes zu kommen. Über den Wellenbergen sah man im Süden die Waldspitze von Usedom, und da man darüber nicht hinauskommen konnte, so wollte ich diesseits, wenn möglich bis Peenemünde gebracht werden. Der Zöllner schüttelte den Kopf, führte mich aber doch in einige Lotsenwohnungen. Die Leute dort erklärten mich für verrückt, einer jedoch trat vor die Türe, um nach Wetter und Wind zu sehen. Als er wieder eintrat, kratzte er sich am Kopfe, meinte aber, er wolle es versuchen.

Ich nahm also Abschied von meinem Zöllner, den Frauen und den niedrigen braun- und aschfarbigen Hunden dieser Insel und watete zum Strande. Obwohl das Wetter und das Meer nicht gerade beruhigend aussahen, mußte doch keine große Gefahr drohen, da die Lotsen noch ein zweites Boot vom Sande in das Meer schoben, um nach den Netzen zu sehen. Die straffen Kerle mit ihren kleinen Glanzhüten, kurzen Jacken und großen Wasserstiefeln wateten bis über die Knie im Wasser, der Sturm warf ihnen den kalten Regen ins Gesicht. Sie trieben es aber, als wäre das ganz in Ordnung und ein scharmantes Vergnügen.

Ich wurde denn auch in ein nasses Fahrzeug gewiesen und flüchtete mich wie ein Huhn auf die Latte, um nicht ganz im Wasser zu sitzen. Ich winkte dem Zöllner zum Abschied, und das sturmgepeitschte Meer nahm mich auf. Zum Regen gesellten sich jetzt Spritz- und Sturzwellen, der Wind brüllte und das Segel wurde alle fünf Minuten in eine ganz andere Richtung geworfen. Der direkte Gegenwind nötigte zu ständigem Sitzwechsel.

Ulrichs Schoner lag etwa einen halben Büchsenschuß von dem Punkte entfernt, wo ich mit den Lotsen in See gegangen war. Nachdem unser Fahrzeug eine volle Stunde gegen Sturm und Wogen gearbeitet hatte, war ich noch nicht in der Linie des Schoners. Dabei waren wir ununterbrochen tüchtig gesegelt. Plötzlich schrien meine Lotsen: „West – Südwest!“ Sie bemerken das so schnell, als wir den Regen entdecken, wenn er uns auf die Nase fällt. Es war ein brauchbarer Wind nach Swinemünde, ich drang also darauf, bei meinem Schoner angelegt zu werden. Die Arbeit begann. Nach Verlauf einer zweiten Stunde lagen wir Bord an Bord. Ich mußte im Unwetter soundsoviel Taler und Groschen zusammensuchen. Der Geldverkehr ist mir nie so gemein vorgekommen.

Erich sah blaß aus und war mit dem heiligen Jakob sehr unzufrieden. Der Uhrmacher litt sehr, besonders am Magen und seiner Trostlosigkeit, noch mehr aber, wie er sich ausdrückte, an der unzarten Behandlung.

Der Schoner selbst hatte sein gut Teil Schuld daran. Er hatte sich sehr unruhig verhalten, der Sturm hatte während der Nacht eigenmächtig den Anker gelichtet. „Sie glauben gar nicht, was das für eine Behandlung bei dem Nachtlager war. Zwei kleine Bänkchen, wie Sie sehen, und ein Stückchen Fußboden standen nur zur Verfügung. Ich wünschte mich als Passagier natürlich die Bank, dat ewige Hin- und Hergeschmeiße brachte mir aber immer wieder auf den Fußboden, und der unanjenehme Ulrich äußerte endlich, ich solle doch liegenbleiben, wo mir – ach!“ Wenn es nur für dieses Mal vorüber wäre! Keinen Fuß wollte er wieder aufs Wasser setzen.

„Aber wie wollen Sie denn auf die Insel Rügen zurückkommen?“ „Ach, Herr, det weeß ich jetzt noch nich. Aber ich geh nicht mehr aufs Wasser! Und der Kaffee, den der abergläubische Erich kocht!“

Zu meinem Schrecken erfuhr ich von Ulrich, daß er sich jetzt trotz des günstigeren Windes nicht hinauswagen könne. Draußen in der See seien soviel Wellen, daß man an ein Strichhalten nicht denken könne. Weil wir wegen des Peenemünder Hakens tief in die See hinaus müßten, könnten wir leicht nach Schweden verschlagen werden. Das war nun zum Verzweifeln. Ich äußerte mich denn auch sehr ungeduldig. Wenn ich das gewußt hätte, war’ ich mit den Lotsen weitergefahren.

Ulrich meinte, ich solle ihn nicht tückisch machen. Er müsse besser verstehen, was er zu tun habe.

So wurde es Nachmittag, der Wind ging noch sehr heftig, aber es war kein eigentlicher Sturm mehr, und zu meinem Erstaunen lichtete Ulrich den Anker. Er wandte sich zu mir, fluchte und erklärte, wenn uns jetzt ein Unheil passierte, so sei ich dafür verantwortlich, wir führen jetzt direkt über den Haken. Er brauchte wohl, wie die meisten Menschen, jemand, dem er die Schuld zuwälzen konnte. Mir war aber damit nicht gedient, da ich nicht die geringste Lust verspürte, in dieser kalten, unbehaglichen See zu ertrinken. Aber was sollte ich machen! Der Anker gab nach, wir flogen wie eine Nußschale in die stürzenden Wogen hinein.

Mit dem Peenemünder Haken hat es aber folgende Bewandtnis: von der Spitze Usedoms geht eine Sandbank unter der Wasserfläche weit in die See hinaus. Noch ziemlich weit im Meere draußen ist sie nur mit zwei Fuß Wasser bedeckt. Nun könnte man als Landratte annehmen, wir hätten immer noch Gelegenheit, nach dem Lande zu waten, wenn wir auf die Bank aufführen. Man sieht die Insel in einer Entfernung von kaum einer Meile. Aber was nützt das? Sitzt das Schiff einmal fest, so genügen einige Wogenschläge, um den Holzkasten in Trümmer zu schlagen. Kommt der Wind vom Lande her, so gelingt es nicht, sich zu retten, sondern man wird nach dem offenen Meere hinausgeschleudert. Zwei Fuß hoch im Meere sind bei gutem Wellenschlage vier Fuß. Ohne Planke oder Balken kann man mit den besten Schwimmkünsten sich nur ein Weilchen über Wasser halten.

Ulrich drückte das Steuer bald nach rechts, bald nach links und konnte sich nicht entscheiden, ob es wünschenswerter sei, sich von den Meeresströmungen nach Schweden werfen zu lassen oder auf den seichten Stellen des Hakens aufzulaufen. Erich maß die zweieinhalb Fuß, die der Schoner für seine Fahrt brauchte, an einer Stange ab. Da der Haken sehr nahe war, bebten seine Lippen, als er dem steuernden Ulrich die Tiefe zurief: „Sechs Foot, sechs Foot, fünfeinhalb Foot.“ So ging es ja recht gut. Wir glaubten schon, uns genügend weit draußen gehalten zu haben. „Vier Foot, vier Foot, knappe vier Foot, dreieinhalb Foot, drei Foot.“ Ulrich drückte stark am Steuer, um das Schiff weiter hinauszuhalten. Keine Silbe wurde dabei gesprochen. „Knappe drei Foot, zweieinhalb Foot!“ Der Uhrmacher hielt sich den Kopf und stürzte in die Kajüte. Wie der Vogel Strauß glaubte er sich aus der Gefahr errettet, wenn er sie nicht sehen konnte. Der Schoner schrammte bereits den Meeresgrund. Hinter ihm her zog ein breiter brauner Strich im Meere. Interessiert sah ich dem bleichen Erich zu, ob das Wasser einen Finger breit unter die zweieinhalb Fuß treten werde. Dann hätte uns selbst der brausende Wind nicht mehr geholfen, der in unseren Segeln lag. Ulrich drückte mit seinen letzten Kräften das Steuer hinaus. Die drohende Spannung hielt eine ganze Weile an. Es schien mir eine Art Ironie zu sein, mitten im Meere den Mangel an Wasser fürchten zu müssen. „Knappe zweieinhalb Fuß!“ „Ans Hinterteil alles! Her ans Steuer!“ schrien die Schiffer. Ich mußte den halb ohnmächtigen Uhrmacher aus der Kajüte reißen, er begriff nichts mehr. Es handelte sich jetzt darum, die Spitze des Schoners so flott und hochgehend wie nur möglich zu halten.

Der Wind kam von vorne. Er warf uns wie ein guter Freund in der Not aus der Gefahr heraus. Der Haken ging zu Ende, wir fanden tieferes Wasser. Nachdem wir die Gefahr überstanden hatten, wurden wir alle sehr lustig. Erich kochte sein Schöpsenfleisch, und der Uhrmacher mußte dazu Kartoffeln schaben.

Gegen Abend war der stürmische Wind sanft und brav geworden. Das Dampfboot „Dronning Maria“ strich mit seiner fliehenden Rauchsäule an uns vorüber. Als das Dunkel sich tiefer senkte, leuchtete uns der Swinemünder Turm. Das Meer nahm Abschied von uns, als wären wir ununterbrochen gut Freund gewesen.

Das erste Wort des Uhrmachers auf festem Boden war ein herzhafter Fluch. Er hatte im Nu wieder seine ganze Fassung gewonnen, schnaubte nach Essen und Schlaf und verabschiedete sich wortreich von mir.

Im Gesellschaftshause war noch Licht. Bei näherem Zusehen fand sich, daß ein Ball abgehalten wurde. Ich eilte nach Hause, Luisa schlug die Hände über dem Kopf zusammen und konnte sich nicht genug darüber verwundern, daß ich Frack und Schuhe heischte.

Ein schönes Mädchen im Tanzsaale trug rote Schleifen und tanzte vortrefflich Galopp. Sie fragte, warum ich so spät komme. „Mein Fräulein, der Peenemünder Haken hat meine Toilette verzögert, und gemeinster Hunger nach einem Beefsteak hielt mich im Nebenzimmer auf.“ Im Saale war es erstickend heiß. Auf der Ostsee draußen hatte ich gefürchtet zu erfrieren. So ändert sich das Menschenleben in ganz kurzer Zeit. Wenn man es nicht aufschreibt, vergißt man es. Viele wissen gar nicht, was sie alles erlebt haben. Namentlich denken die Leute, in Pommern sei nichts zu erleben; die Törichten!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier