Magdeburg

Jerta machte im Wirtshause vor dem kleinen schmutzigen Spiegel ihre Toilette. Die Alte war durch die nächtliche Fahrt sehr erschöpft, lallte von der Cholera und lechzte nach Kaffee. Unser Reisegefährte war in der Nacht abhanden gekommen. Der Wirt, in einem ledernen Schafpelz steckend, der nur ein Stück bis über die Knie reichte, spielte als angehender Märker den geistreichen Galanten gegen die Damen, obwohl er noch verschlafen war. Halbblaue Strümpfe bedeckten nachlässig sein Unterbein, hölzerne massive Pantoffel schlugen den Takt zu seinen massiven Komplimenten.

Magdeburg selbst hat drei Merkwürdigkeiten: den Bürgermeister Franke, den Dom und die Sage vom Weiberball. Franke ist klassisch, der Dom romantisch-christlich, die Sage vom Weiberball romantisch-heidnisch, weil ein keuscher Vorhang über ihrer Unkeuschheit hängt. Dieser Weiberball, man nennt ihn auch den schönen Frauenverein, ist aber das Interessanteste an Magdeburg, trotzdem man von ihm wenig weiß. Sonst aber weiß man in Magdeburg alles. Es ist die erste preußische Stadt, preußischer noch als Berlin. In Magdeburg hat man das Schießpulver erfunden und in Berlin die Ironie. Und da es in Magdeburg jetzt auch einen Telegraphen gibt, weiß man in ein paar Minuten, ob man in Berlin gut oder schlecht geschlafen und ob Fräulein Hagn ein rotes Kleid oder ein rosenrotes getragen habe; aber was es eigentlich für eine Bewandtnis mit dem Weiberball hat, das weiß man nicht. Er ist das Zauberwort, den Strom der märkisch-preußisch-magdeburgischen Allwissenheit zu stopfen. Die Magdeburger werden kleinlaut, wenn man das verhängnisvolle Wort ausspricht, und je vornehmer sie sind, desto kleinlauter.


Man ist sehr fromm in Magdeburg, die guten alten Reichszeiten leben wieder auf. Ich war mit Fräulein Jerta in einer Gesellschaft, die meist aus Komödianten und Komödienliebhabern bestand. Es war nicht von Kotzebue und Raupach die Rede und von Theaterproben, sondern von Bischof Dräseke und vom Heiligen Geist. Wir mußten uns dem guten Tone anschließen und mit in die Kirche gehen. Der Dom wird schon sehr lange restauriert; man interessiert sich überhaupt in diesen Gegenden für alle Restauration, und die kirchliche kostet dem König von Preußen viel Geld. Dafür liebt man ihn aber auch nirgends so industriös als in Magdeburg, das ist seine allergetreueste Stadt, ein modernes Saragossa. Man geht in den Dom, um lange Predigten zu hören. Der kleine nüchterne Tilly, der den einfältigen Ruhm zu verlieren hatte, nie trunken gewesen zu sein, nie ein Weib berührt und nie eine Schlacht verloren zu haben, hat bekanntlich den Dom einst stark beschädigt. Die Wunden hat man echt protestantisch bis auf neueste Zeit offen gelassen. Erst jetzt wird wieder eine Heilung versucht. Friedrich der Große mag wohl schuld an dieser späten Kur haben; er interessierte sich nicht für die Kirchen. Das Gebäude ist wieder recht stattlich geworden. Nur weiß man nicht recht, welchen Stil es hat. Es ist nicht recht gotisch, nicht mittelalterlich, luftig, schnörkelig; gegen einen mystischen alten Dom nimmt es sich recht naseweis aufgeklärt aus. Es hat keinen tiefen Charakter.

Jerta hing an meinem Arm und war in großer Verlegenheit wegen des Windes, der sich zudringlich mit ihren Kleidern beschäftigte. Das war aber Ziererei, sie brauchte sich ihres vollen, schönen Beines nicht zu schämen. Der Magdeburger Heilige Geist wußte das am besten, darum wehte er. In der Kirche war Jerta recht andächtig. Es wurde von den fünftausend Mann, den wenigen Broten und zwei Fischen gesprochen. Eine Predigt fürs Militär und die Offizianten, die mit ihrem Brote zufrieden sein sollen. Heißhungrig hörten die Leute zu. Ich machte dem Herrgott im stillen Vorwürfe, daß er es nicht umgekehrt und fünftausend Brote für wenige Menschen gegeben habe, was ihm offenbar doch ebensowenig Mühe gemacht hätte. Der böse Kirchenrat Paulus in Heidelberg soll diese biblische Geschichte für einen Schreibfehler halten und wirklich der Meinung sein, die Zahl fünftausend gehöre vor die Brote. Es gibt recht schlimme und prosaische Menschen.

Als die Gemeinde gesättigt war, das Intelligenzblatt des Gottesdienstes, Todesfälle, Kindstaufen, Verlobungen und dergleichen materielle Dinge abgelesen wurden, faßte ich mir ein Herz, meine Nachbarin, die eigentlich polizeiwidrig weich und schwelgerisch katholisch aussah, anzureden. Sie war so oft mit der Hand nach dem Herzen gefahren, wenn der Bischof von den fünftausend Männern gesprochen und in Begeisterung hinzugesetzt hatte, das sei nur eine Angabe in Bausch und Bogen, es könnten ihrer noch viel tausend mehr gewesen sein. Ich glaubte, ihren Schmerz zu erkennen, daß sie kein größeres Herz habe, und es schien mir am passendsten, ein Gespräch über den Weiberball mit ihr anzufangen. Aber vom Weiberballe wollte sie nichts erzählen, und ich vergaß am Ende, danach zu fragen.

Wir sprachen über allerlei, wahrscheinlich war sie verheiratet, denn sie verteidigte lebhaft das System der Nichtintervention. Vor einem großen Hause ließ sie halten. Eben fuhr ein Wagen im Lohnkutschertrabe vorüber – wahrhaftig, Jerta saß darinnen. Ich war unschlüssig, was zu tun sei.
„Man ist zu Hause!“ „Gnädige Frau“, referierte ein Diener, „man hat sich beim Tee entschlossen, eine Bibelstunde zu halten; es wurde schon nach Ihnen gesandt. Johann muß Sie verfehlt haben.“

„Demain comme aujourd'hui, monsieur – bon soir!“

Und ich jagte der flüchtigen Jerta nach. Dem verräterischen Kutscher drohte ich mit der Polizei, wenn er nicht umkehre und mich und meine Sachen mitnehme. Jerta schwieg, und er folgte mir.

Bei Abzählung des Trinkgeldes fragte ich den Kellner nach dem Weiberballe. Er machte ein Faunengesicht, zog Augen und Stirn in die Höhe und darauf erzählte er leise, ungefähr zehn Minuten lang. Mein Kutscher rief, die Fremden klingelten, aber das Thema interessierte mich.

Meiner stockstummen Jerta gegenübersitzend, wußte ich nun, was der Weiberball sei. Aber ich darf nichts davon erzählen, es ist eigentlich eine ganz alte Geschichte. Schon der verstorbene Geheimrat Goethe wußte davon, als er den „Gott und die Bajadere“ schrieb.

Aber ich halte die Sage vom Weiberball für eine Verleumdung. Ich traue den Magdeburgern soviel Genialität nicht zu.

Jerta war liebeweich, meine Anhänglichkeit mochte sie gerührt haben. Als wir zum ersten Male anhielten, um auszusteigen, strich sie mir sanft die schlafverwirrten Haare und küßte mich flüchtig darauf. Ich war trotzig, wenn es mir auch wohl tat, und erklärte, daß ich nicht wieder die Nacht hindurchfahren wolle.

Das war nicht mein Ernst, ich wollte nur geschmeichelt sein. Leider gab man mir recht und blieb und konnte nicht begreifen, warum ich nicht freundlicher würde. Jerta schälte mir Kartoffeln und steckte sie mir selbst in den Mund. Ich biß sie in den Finger und schlief am Ende auf der Bank ein.

Der Mond schien hell, als ich erwachte. Es war kalt, und ich konnte mich kaum besinnen, wo ich war. In der Nähe hörte ich das Geräusch eines Schlafenden. Mein Gedächtnis kehrte langsam zurück. Ich nahm meinen Mantel um und versuchte mich zu orientieren. Die Sprache des nächsten Schnarchens kannte ich aus dem Wagen, sie interessierte mich nicht. Aber drei Schritte weiter stand, vom vollen Mondschein beleuchtet, ein zweites Bett. Halb angekleidet, unordentlich mit dem Mantel zugedeckt, lag Jerta darauf. Sie hatte sich die Haare aufgelöst, die lang und hellbraun beiden Seiten der Schlafhaube entschlüpften. Auch der Schuhe hatte sie sich entledigt, und der volle Fuß mit dem enganschließenden weißen Strumpfe streckte sich ein wenig über das Bett heraus. Ich betrachtete sie lächelnd. Da schien es mir, als zuckten ihre Augenwimpern und ihre Lippen. Das Bett war breit, ich setzte mich neben sie und näherte mich langsam ihrem Munde. Ich zweifelte nicht, daß sie wachte. Ich wollte keinen Kuß stehlen, ich wollte sehen, ob sie sich küssen ließe. Da ward plötzlich eine Tür zugeschlagen, die Alte kreischte auf, Jerta fuhr in die Höhe, ich war wie ein Blitz im Dunkel und streckte mich wieder auf die Bank hin.

Die Alte ermunterte sich allmählich. Der Kutscher weckte uns zum Weiterreisen. Ich schlief unerschüttert, um die Frauen beim Anziehen nicht zu stören. Leider war die, welche viel Ursache dazu hatte, nicht blöde, und die andere hielt sich im Dunkel.

Die Alte: „Der Herr hat einen gesunden Schlaf.“ Jerta: „So scheint es.“

Es ward Feuer im Kamin gemacht, Licht und Wärme spielten auf meinem Mantel hin und her. Mir war sehr behaglich. Jerta ging zum Feuer, um Kaffee zu kochen. Sie streifte die Ärmel des Kleides ein Stück in die Höhe und ordnete das Geschirr auf einem Tischchen beim Feuer. Flüchtige Vorpostenblicke flogen über mich hin. Da ging die Alte aus dem Zimmer. Es war ganz still, Jerta guckte ins Feuer, und ich lispelte ihren Namen. „Stehen Sie doch auf“, sagte sie leise, ohne sich umzusehen. „Ich kann nicht, mich hat der Schlag gerührt.“ „Ach, warum nicht gar.“ Dabei wendete sie sich um, ich sprang auf und eilte zu ihr, sie flüchtete hinter das Kaffeetischchen, die Alte trat ein.

Es gab ein friedliches, Voßisches Frühstück. Unterdes kam der Morgen; wir fuhren weiter.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier