Leipzig. Der Frühling ging, der Sommer kam.

Der Frühling ging, der Sommer kam. Es war kühl und behaglich im Hotel und objektiv ruhig in meinem Herzen. Da Makkaroni auf den Tisch kamen, beschloß ich, nach Italien zu reisen. Ich teilte das auch einem meiner Nachbarn, den ich nicht kannte, mit. Der nickte bloß mit dem Kopfe. Er war in ein Frikassee vertieft und hatte keine Zeit. Ich wollte es ihm eben noch einmal sagen, als mir der Wirt mit Hand und Auge winkte. Ich kannte jenen Wink, er sagte: „Dein Nachbar ist ein berühmter Mann.“

Es war ein großer dicker Kerl mit schmutziger Leibwäsche, der sehr angelegentlich zu Mittag aß. In seinem Gesicht fehlte alle Klarheit, der Frack war mit rotem Schnupftabak infiziert, wenn er sich etwas vom Essen erholte, stopfte er garstigen, unanständigen Tabak in eine weiche, kraftlose Nase. Die ganze Person kam mir ungewaschen vor. Ich mag nie begreifen, wie ein reinlicher Mensch oder ein Liebhaber oder Dichter oder wer zum Teufel sonst ein Stück Spiegel im Hause hat, Tabak schnupfen kann. Das starke, in saftlosem Fleische baumelnde Gesicht hatte von edlem Ausdruck nur eine kultivierte Schlauheit und eine fein fidele Gourmanderie.


Als die Tafel zu Ende kam, holte er Atem, nahm eine Prise, sah mich an und sprach: „Das machen Sie recht, nach Italien zu reisen, das muß jeder Mann von Bildung. Man muß seine Saison dort zubringen statt in den Bädern.“ Die kleinen Augen lächelten dazu, als zerdrücke die Zunge süße Konfitüren.

„Sind Sie nicht ein Herr von Uckermann?“ fragte er. „Nein, mein Herr.“ „Ach, Sie lächeln, Sie sind ganz gewiß ein Herr von Uckermann.“ „Nein, mein Herr, das bin ich ganz gewiß nicht.“

Pause. Man flüsterte mir ins Ohr, es sei ein Herr von Rumohr. Richtig, tief in den halbkahlen Kopf schlich die Stirne hinein. Da waren alle die feinen, glatten Gedanken zu sehen, die sich in Rumohrs Schriften finden.

Seine Manieren sind die eines sicheren Weltmannes, der gerne herzlich tut. Seine Sprache ist geräuschlos und ohne Prätention, wie sie ein objektiver Mann haben muß. Die Unterhaltung mit ihm war, wie sich das erwarten ließ, sehr amüsant.

Ich liebe es sehr, wenn man die einzelnen Dinge, ja oft die größeren Interessen leicht nebenher abmacht, nur berührt und sich im eigentlichen Leben nicht stören läßt. Ich halte das Leben für die Hauptsache und hasse die Geschäfte. Nichts ist mir widerwärtiger, als wenn unsere großen Interessen als Geschäfte betrieben werden, wenn man feierlich wird, sich erst räuspert, das Taschentuch herauszieht, eine Stelle zitiert oder den lieben Gott, den überhaupt die Leute sehr inkommodieren, um Beistand bittet.

Man darf nach meinen Sympathien höchstens etwas davon tun, wenn man unter lauter Gegnern lebt, wo man fortwährend um Leben und Tod seiner Ansichten besorgt sein muß. – Wenn man die große und kleine Erfahrungs- und Wissenswelt durchstudiert, so kommt man allmählich zu der Einsicht, daß jedes Jahrhundert für irgendein neu gewonnenes Terrain leidenschaftlich Partei nahm, daß dieses Terrain in kurzem wie eine bekannte Gegend durch die vielen Reisenden abgenützt war, und daß dann eine neue Jugend der Weltgeschichte kam und das Neueste wieder alt wurde. Darüber soll man nicht die Empfänglichkeit verlieren, man soll in jedem Frühling poetisch sein, mit den Vögeln singen, aber – man soll human werden.

Es ist mir indes nicht unbekannt, daß man nicht in seidenen Strümpfen, mit Handschuhen und einem Paradedegen durch den Wald geht, in dem man erst einen Weg bahnen will. Darum liebe ich meine rauheren Kampfbrüder, die harte lederne Stiefel und groben Filz tragen und schonungslos die große Holzaxt schwingen, um das Gestrüpp aus dem Wege zu räumen.

Während Perioden der Entscheidung gelten in der Weltgeschichte Kriegsgesetze. Es bedarf der schonungslosen Richter. Aber gibt es ein Gesetz, das nicht zu streng wäre? Ich würde auch in Krisenzeiten das leichte Leben eines Herrn von Rumohr in Schutz nehmen.

Die Leichtigkeit Rumohrs, über alles Wichtige hinzugleiten, ist mir angenehm. Er treibt es bis zur Koketterie. Meinethalben. Er liest keine Zeitung, sondern sein Jockei tut es für ihn; er referiert ihm nur, wenn etwas geschieht. Also oft sehr lange nicht. Und es muß etwas Reelles geschehen, ehe dieser Referent daran glaubt. Seit dem Falle Warschaus hatte er bis zum Juni 1833 fast gar nichts geschehen lassen.

Übrigens gab Rumohr der alten Zeit nur noch ungefähr drei Jahre zum Leben, „in zwei Jahren und elf Monaten ist's mit ihr vorbei“, sagte er. Nun, Geduld! Das kann eine Welt schon aushalten, die bereits so viele Jahre gewartet hat. Freilich sind die letzten Minuten im Kerker schlimmer und länger als die ersten Jahre.

Er spricht mit liebenswürdiger Wegwerfung und erlaubter Selbstschätzung von seiner Schriftstellerei. Er will Novellen schreiben, ich habe es ihm mit Eifer geraten. Wir saßen miteinander am Fensterbrett, aus seinen Augen lachte ein kultivierter Fuchs, als er auf eine schlanke, eben vorübergehende Dame wies und sagte: „Die hat mir auch so zugeredet, sie ist schuld, daß ich jetzt nur noch Novellen schreiben werde.“

Ich sagte ihm voraus, unseren deutsch-lyrischen Kritikern werde seine Formeneinfachheit nicht zusagen. Er zuckte die Achseln und lächelte. Der Kellner Georg ward gerufen, wußte aber auch nicht, wo die deutsche unbefangene Kritik zu finden sei.

Es ist richtig, sie tasten mit Rebellenhänden seine steinernen Gestalten ab. Übrigens bin auch ich mit keinem seiner Bücher zufrieden, er weiß sie bloß anzufangen. Aber dieser Anfang voll plastischen Geschmacks ist schon des Versuches wert.

Rumohr ist ein bequemer Mensch, nicht geschaffen, die Welt in großen Schritten zu fördern, aber doch, sie auf kleinen Promenaden zu begleiten, wo sie für spätere Reisen ihre Gesundheit stärkt.

Ich glaube, er ist ohne aristokratische Ader, ich bin aber dessen nicht ganz sicher, da ich in neuerer Zeit viele Pferdefüße aus unscheinbarsten Verhüllungen habe hervorgucken sehen. So die ganze süddeutsche Schule der Aretin, Bangenheim, ein Mann von schönem Geiste und schlechtem Stil; der widerwärtige, altkluge Gagern, eine publizistische Köchin Kotzebues, die „Knochenzulage zum Fleisch“, die über Politik wie über Pfarrhausküchenangelegenheiten spricht.

Rumohr sagte, ich solle mich jetzt nicht um sie kümmern; wenn ich nach Süddeutschland komme, werde ich ihnen doch nicht aus dem Wege gehen können.

Es ist in Rumohr das Goethesche behagliche Wesen, und sobald es nichts Pretiöses zur Schau trägt, mag ich es gerne leiden; es ist ein angenehmer, vornehmer Materialismus, der Wohlbehagen erzeugt. Goethe hat auch nur seinem Wohlbehagen alle Philosopheme angepaßt, die an ihm vorübergezogen sind. Er war im Grunde der subjektivste Mensch, aber er war ein Weltmann, der seine Gedanken zu verbergen wußte, und feiner Ton ist immer Objektivität.

Rumohr glitt herunter vom Fensterbrett und sagte schüchtern: „Sie sind wohl ein Herr von Uckermann?“ „Nein, mein Herr“, sagte ich, „ich bin kein Herr von Uckermann, aber ich bin des Teufels.“ „Das tut nichts“, erwiderte er, „darf ich fragen, warum?“

Nein, mein Herr, das dürfen Sie nicht; denn Sie würden meinen Teufel nicht erkennen, Sie sind ein Artist, und was die deutschen Lyriker zuviel haben an nebelhafter Poesie, das haben Sie zu wenig. Leben Sie wohl, Gott stärke Ihre Schönheit.

Als Mann von Bildung schickte ich auf die Post und ließ mir für den nächsten Wagen einen Platz bestellen. Ich steckte mir für den Notfall einige Bücher in die Tasche, kaufte mir eine Mütze und war mit einem Wort fest entschlossen, glücklich zu reisen.

Als gutes Omen, daß ich wenigstens Bildschönes hören würde, begegnete mir auf dem Thomasgäßchen der Komponist Marschner, der aus Hannover gekommen war, um seinen „Hans Heiling“ aufzuführen. Wir sagten uns in aller Eile, daß wir sehr berühmte, vortreffliche Menschen seien und kamen uns mit beispielloser Schnelligkeit näher. Denn es fing an zu regnen, und wir hatten beide nur einen Regenschirm.

Man hat mir gesagt, Marschner wisse sehr wohl, was er wisse. Er wisse sich zu schätzen. Das habe ich auf dem Thomasgäßchen unter dem Regenschirm gar nicht so arg gefunden. Er wußte, daß er beliebte Opern geschrieben habe, er wußte, daß wir keinen Überfluß an Komponisten haben, er wußte, wie wichtig es sei, dramatisch zu komponieren, und er wußte schließlich, daß er mit Eifer, Fleiß und großem Interesse in seiner Arbeit lebe. Ich würde es ihm übelnehmen, wenn er das nicht gewußt hätte. Warum soll einer barhaupt gehen, der sich einen Hut kaufen kann?

Nur die Lumpe sind bescheiden! – Ich hatte mir Marschner größer und ernsthafter gedacht, er ist ein kleiner, feister, fixer Mann mit behaglichem, schlauem Gesicht, spricht wie ein Buch und trägt weiße Halstücher, weil er beinahe blond ist. Wenn ich ihn in großer Toilette des Abends auf dem musikalischen Gerüst bei Lampenschimmer gesehen hätte, so wäre er mir wahrscheinlich äußerlich wie der große Rossini vorgekommen. Auf dem Thomasgäßchen aber ist die Illusion sehr schwierig. Er hat wie Rossini ein vornehmes, wohlgenährtes Gesicht, ein gewisses behagliches Adagio. Aber seine Opern sind deutsch bis auf den letzten Strich. Die klugen Leute sagen, er sei ein Nachahmer Webers. Die Ähnlichkeiten in allen Kunstproduktionen sind in Deutschland das Studium der mittelmäßigen Richter. Sie jagen mehr nach Ähnlichkeiten als nach Genuß. Reminiszenzen, das ist das magische Wort, womit sie sich und andere täuschen. Diese Art der Kritik wird noch lange nicht aussterben, weil sie das bequemste Mittel darstellt, sich selbst in seinen enormen historischen Kenntnissen zu bespiegeln.
Ich sehe diese Helden mit dem Theaterglas bewaffnet das Haupt hin- und herwiegen und bei jeder neuen Nummer der schönen Nachbarin zuflüstern: „O mein Gott, Euryanthe! Freischütz! Oberon!“

Es singt eine Nachtigall wie die andere, und sie ahmen einander nicht nach.

Der gelbe Schwager blies, ich fragte Marschner eiligst, wie, bei welcher Gelegenheit, in welcher Situation und um welche Zeit er seine Opern komponiere, ob vor oder nach Tisch, im Negligé oder im Frack, im Bett oder im Freien, sitzend, stehend oder gehend. Das ist mir sehr interessant, seit ich weiß, daß der berühmte Philolog Reisig zum Beispiel seine besten und tiefsten Studien an der platten Erde, auf dem Bauche liegend, machte. Mein Stubenkamerad auf der Universität, mit dem ich zugleich jene wichtige Notiz hörte, fing von da an, auch Philologie zu studieren und sich auf den Bauch zu legen; ich erwarte alle Tage, daß er berühmt wird. Beethoven komponierte im Schlafrock, und zwar in einem sehr schlechten, den er mit einem Strick zusammenband. Marschner gestand mir, daß er seine besten Gedanken auf dem Spaziergange in einer Pappelallee habe.

Der Schwager blies zum zweiten Male. Für die Pappeln kann ich nicht stehen, es kann auch eine Lindenallee sein –, mein Gemüt ward bewegt durch die Fanfare des Schwagers und durch das Scheiden. Aber für die Allee bürge ich. Der Schwager blies zum dritten Male, ich mußte den Regenschirm und Marschner verlassen. Die Freunde gaben mir ihren Segen und der Wagen fuhr los. Als ich ordentlich verpackt war, fragte ich, ob das auch die Post nach Italien sei. „Ne“, sagte man mir, „die geht nach Anhalt.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier