Innsbruck

Ich weiß keine Stadt, in der Deutsch gesprochen wird, die meinem Auge und meinem Herzen so lieblich entgegengekommen wäre wie Innsbruck. Nur Wien begrüßte mich gleich an der Spinnerin am Kreuz mit noch rascheren Küssen. Aber ich wußte schon, daß Wien eine sehr schnell verliebte Stadt sei.

Vielleicht war an meiner Begeisterung auch schuld, daß der Sonnenschein wie blankes Gold auf allen Dächern der Stadt lag. Ich liebe den Sonnenschein. Wenn es düster und regnerisch wird, rücken wohl die Felsen um Innsbruck bedrohlich zusammen und unternehmen traurige Demonstrationen gegen die Stadt. Aber ich frage nie, wie wird das schöne Mädchen aussehen, wenn es Runzeln hat!


Es ging mit wunderlichem Wohlbehagen unter den Arkaden der Stadt hin, wo man mit der Sonne »Verstecken« spielen kann. Ich hatte mir eigentlich nicht gedacht, daß die Tiroler eine so bedeutende Stadt bilden könnten. Sie sehen auch hier so aus, als gehörten sie eigentlich nicht ganz hierher. Der Tiroler ist wie für das Land geschaffen. Es ist merkwürdig, wie edel er hier, und sei es in Lumpen, aussieht. Das feierliche Gesicht eines Tiroler Bettlers mit seinen stillen, regelmäßigen Zügen setzt einen in Verlegenheit. Sie sehen alle aus wie hochgeborene Granden, die in den verborgenen Tälern zur Belustigung Lumpenball spielen.

Aber stolz auf Innsbruck sind die Tiroler. Ich glaube, sie ließen es gerne während der Wochentage unbenutzt stehen, um Sonntags herzukommen, die Kirchen zu besuchen und die Tiroler Berge anzusehen. Sie haben eine Schwäche für Innsbruck. Es gibt auch sonst bedeutende und wohlhabende Städte in Tirol, aber Innsbruck ist ihre Jugendgeliebte, sie hat ihre heißesten Tränen und ihre besten Taten gesehen, sie ist ihr Heiligtum.

Die Stadt zieht sich mit ihren elfhundert Häusern wie von Deutschland nach Italien hin. Eine Merkwürdigkeit ist das »Goldene Dachl«, dessen Bedeutung schon der Beiname des Stifters bezeichnet. Friedrich mit der leeren Tasche hat es angelegt. Es ist eine putzige Renommage, ein kleines, vorgebautes Dächlein mit goldbelegten Ziegeln. Der Tiroler erwirbt gerne Geld. Er verschleudert es nicht so schnell und leichtsinnig wie der Italiener, aber es hat auch nicht einen toten Wert für ihn wie für den geizigen Schweizer. Er liebt das Schmucke, er kauft viel und gibt ohne Bedenken ein Drittel seines Erwerbes für einen schönen Hosenträger, ein feines Hemd oder eine weiche Samtjacke aus. Aber er ist viel zu ordentlich, um mehr als ein wenig eitel zu sein.

Eines beweist das Goldene Dachl, das schon jahrhundertelang völlig unberührt steht: die Ehrlichkeit der Tiroler. Es hat sich niemand an einem Ziegel vergriffen. Ich glaube es gerne, daß der Versuch des Diebstahls am Zusammenhange der Masse und an der Beschwerlichkeit des Zuganges scheitern würde, aber moderne Industrieritter hätten gewiß schon hundert Versuche gemacht. Ein Diebstahl ist in Tirol eine große Seltenheit. Wenn einer vorfällt, so ist der Dieb gewöhnlich von auswärts.

Nächst Hofer ist der Kaiser Max eine Hauptperson in Innsbruck. Er hat in der großen Kirche ein eigentümliches Denkmal. Hinter einem Eisengitter steht eine Art Sarkophag, auf dem in lauter kleinen Nürnberger Hochreliefs seine Schlachten abgebildet sind. Es ist sehr bezeichnend, daß man ihn durch solche kleine, scharmante Sächelchen verherrlicht hat, diesen letzten ritterlichen Sanguiniker. Er war der schönste deutsche Schauspieler, der noch einmal Romantik und persönliches Heldentum spielen wollte zu einer Zeit, wo die antiromantische Vernunft erfunden wurde.

Ein Tiroler, der mir die Martinswand wies, erzählte, eigentlich sei es kein Engel gewesen, der ihn daraus gerettet habe, sondern ein Gemsjäger. Der Kaiser Max habe ihn dafür geadelt, und seine Familie existiere noch. »Aber«, setzte der Tiroler hinzu, »auf die Martinswand ist noch keiner hinaufgekommen und herunter erst recht nicht.«

In unserer Wirtsstube gab es so viele Bilder von Hofer wie Kuverts auf dem Tische. Der Kaiser Franz hing einsam hinter dem Ofen, von Fliegen verunglimpft. Das ist nicht bös gemeint, das Schicksal hat es so gefügt. Und Hofer hat die Leute wirklich begeistert. Er war in seinem Leben der Mittelpunkt seiner Landsleute und ist es heute immer noch. Für die besten Gedanken brauchen die Völker Fleisch und Blut gewordene Gestalten. Eine solche Heldengestalt ist aber leider für Deutschland bis jetzt immer noch nicht gekommen. Wir hatten noch keinen gemeinsamen Helden und haben keinen. Nur Klopstock und andere patriotische Dichter können am Strohfeuer ihrer Worte warm werden und sich mit Hermann trösten, mit Hermann und Thusnelda und mit Thusnelda und Hermann. Vernünftigen Leuten, die gerne etwas Rechtschaffenes verehren möchten, ist das zu lange her. Es geht uns kein Landwehrmann in das Feuer, wenn wir ihm sagen: »Im Namen Hermanns und Thusneldens, Michel, geh' drauf.« Was kümmert den Michel Hermann und Thusnelda?

Jedes Volk muß einen Helden haben, bei dessen Namen ihm das Wasser in die Augen schießt.

Tirols heroische Zeit war der Aufstand von 1809. Das frühere Geschlecht ist freilich damals vor dem Feind geblieben. Aber im Namen Andreas Hofers hat die neue Generation ein Losungswort bekommen. Andreas Hofer ist ein moderner Schutzpatron Tirols geworden. Sein Bild hängt nicht umsonst in allen Wirtsstuben.

Ich hatte mir nun so sicher eingebildet, in Innsbruck wohne das Glück. Aber, ach, es war wieder nichts. Ich glaube, das Glück ist bloß ein Gedanke. Und ich mußte wieder weiter. Die Tiroler sind gut, brav und lieb, ihre Treuherzigkeit ist keine Koketterie und auch in der Fremde nicht affektiert, aber ich fühlte, ich könnte auch hier nicht auf die Dauer leben.

Ich ging rechts hinaus zum südlichen Tor zum Berg Isel und nahm Abschied vom lieben Innsbruck. Ich sah noch einmal über die sonnenhelle Stadt. Die Turmknöpfe funkelten und die Bergwände rauchten. Ich sah nach Schloß Ambras hinüber, wo Wallenstein Page gewesen und einst hoch vom Fenster herunterfiel. Wer ein großer Mann werden soll, bricht in der Jugend nicht den Hals.

Immer bergauf ging es jetzt über den Schömberg nach dem Brenner, bald lag Tirol und ganz Deutschland unter uns. Es war alles totenruhig um mich her. Hier gähnte eine schwarze Schlucht, der kein Auge auf den Grund sah, dort hob sich eine magere kleine Hochebene. Der fromme Wahn hat ein Kirchlein draufgebaut, das einsam und verlassen stand wie eine abgestorbene Religion. Auf solchen hohen, schweigsamen Bergen lernt man beten. Man ist dem Herrgott wirklich näher und hofft, er werde die Worte hören, die man spricht. Ich habe es von Jugend auf für ein unbilliges Verlangen gehalten, daß er sich in alle die kleinen, niedrigen Kammern begeben solle, um verworrene Wünsche anzuhören. Namentlich da so viele Leute im Winter unter die Bettdecke kriechen und ihm dort ihren Jammer vormurmeln.

Auf einem solchen hohen, stillen Berg spürt man, daß die Naturkräfte ganz nahe sind. Man wird wach und vorsichtig, denn jedes Versäumnis ist hier lebensgefährlich.

An der äußersten Höhe des Berges, die die Straße erreicht, ist noch eine einsame Poststation. Dort aß ich ein Stück Brot und trank ein Glas Wasser. Es wurde dunkel, ich setzte mich in den Wagen und machte die Augen zu. Es ging bergab nach Süden, den Weg hinunter, den die Teutonen und Ambronen einstmals zogen. Ich kann das indes nicht verbürgen, es ist nur eine dunkle Erinnerung aus meiner Schulzeit. Meine Gedanken verwirrten sich. Plötzlich erwachte ich und ward inne, daß ich sehr schön eingeschlafen war. Was ich verschlafen hatte, war nicht zu ermitteln. Der Wagen hielt, ich stieg aus, es war sehr dunkel. Die Pferde wurden gewechselt, kein Mensch sprach, ein sanfter, liebenswürdiger Regen träufelte vom Himmel. Die Luft war warm wie der Atem eines Mädchens, von den Bergen sah ich nichts als zweifelhafte, groteske Umrisse.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier