Dresden

Dresden ist eine schöne Stadt an der Elbe, das weiß jedes Kind. Es wäre Luxus, über die Merkwürdigkeiten dieser Stadt noch etwas zu sagen, da jeder reputierliche Gebildete unseres Vaterlandes einmal dagewesen ist oder hinreist. Es hat an die sechzigtausend sächsische Einwohner, von denen zwei Drittel seit vielen, vielen Jahren an einer epidemischen und kontagiösen Krankheit, nämlich an Stockschnupfen, leiden.

Schlechte Historiker sind der Meinung, Meißen sei die älteste Hauptstadt Sachsens gewesen, weil man noch heutzutage jeden Sachsen an der Aussprache dieser Stadt erkenne. Aber die berühmte Porzellanfabrik des Ortes hat wirklich Einfluß auf den Volkscharakter gehabt: kein deutscher Volksstamm faßt den Fremden so höflich, porzellanartig fein an als der sächsische. Meißner Porzellan und sächsische Höflichkeit sind weltbekannt. Aber nicht alle Leute wissen, daß Porzellan und diese Höflichkeit die schneidendsten Scherben geben, wenn sie verletzt werden.


Über die Kunstanstalten Dresdens, das japanische Palais, das grüne Gewölbe, die Rüstkammer und die Bildergalerie läßt sich nur Preisliches sagen, und die Leichtigkeit, Eintritt zu erhalten, zeugt von größter Liebenswürdigkeit.

Die Einwohner scheiden sich in streng gesonderte Gruppen: unter den höheren Klassen und den höheren Regierungsbeamten findet man sehr feine, geschmackvolle Bildung und vornehme, kultivierteste Manieren. Sie erkennen, daß sie an Ludwig Tieck am Altmarkt einen bedeutenden Dichter besitzen. Und wenn sie seine Vorlesungen und ihn selbst nicht besuchen, so geschieht es entweder, weil man das eine nicht kann ohne das andere, oder weil sie nicht vier bis fünf Stunden mäuschenstill sitzen mögen, oder weil ihnen seine Schriften lieber sind.

Die Gicht hat Ludwig Tieck ein wenig zusammengeworfen. Sonst trägt er noch die klarsten Spuren eines Mannes, der schön gewesen ist. Was den dichtenden Denker vor der blöden Menge immer auszeichnet, das Auge mit seinem Glanze und Drange, das ist ihm in aller Schönheit geblieben. Tieck ist ein überlegener Geist in der Gesellschaft, solange ihm keine Usurpationsgedanken an die Literaturthrone in den Sinn kommen. Er weiß wie ein überlegener Geist bei den groben Schmeicheleien zu schweigen, die ihm der Schwarm mit plumpen, fetten Händen auftischt. Er spricht glänzend, wenn ein literarisches Lebensthema berührt wird. Wie gewöhnlich macht er mehr Wesen von dem, was unwichtig an ihm ist. Er spricht mit größerem Nachdruck von seinen Studien als von seinem Talente. Als er den „Tod des Dichters“ geschrieben hat, soll er geseufzt haben über die Masse dessen, was er lesen müsse, ungefähr wie ein Historiker, der eine unbekannte Geschichte schreibt, zu der viele neue Quellen gelesen werden müssen.

Die Hofräte ignorieren Tieck, aber auch vieles andere. Als die Periode der Briefwechsel in unserer Literatur begann, da drohte ein Aufstand unter ihnen auszubrechen. Khun, Kind und Genossen erschienen mit echauffierter Menge im Kasino:

„Scheen guten Abend, Herr Hofrat ...“

„Ei, scheen guten Abend, Herr Hofrat!“

„Wie befinden sich der Herr Bruder Hofrat?“

„Danke gehorschamst, Herr Bruder Hofrat ...“ Pause.

„Den angepriesenen Briefwechsel schon gelesen, Herr Bruder Hofrat, zwischen Schiller und Goethe?“

„Ach ja, was meinen der Herr Hofrat dazu?“

„Unter uns gesagt ...“

„Wees es Gott, Bruder Hofrat, wenn mer alle unsere Briefe hätten drucken lassen ...“

„Hätten drucken lassen wollen, habe ich nicht recht, hochgeschätzter Herr Bruder ...“

„Die Welt hätte andere Dinge zu heeren gekriegt, als – als ...“

„Sub sigillo, Herr Bruder, als diese Lappalien ...“ Der Vorhang fällt, die Herren rauchen weiter und beklagen sich, daß die Solidität aus der Literatur verschwindet.

Daneben ist Dresden reich an feinen alten Räten vom Appellationsgerichte und so weiter, die mit dieser Klasse gar nichts gemein und eine literarische Zunge haben und ein stilles, gediegenes Urteil.

Einige deutsche Städte führen wie die Studenten ihre Spitznamen. So nannte die Dichterschule aus dem „linkischen“ Bade Dresden nie anders als Elb-Florenz, und obwohl ich sonst nicht viel Gemeinschaftliches habe mit diesen Sängern im schwarzen Frack, so nenne ich Dresden doch immer gern Florenz, da sich wirklich viel Entsprechendes in den Verhältnissen und Beziehungen dieser Stadt mit der toskanesischen Hauptstadt findet.

Die Künste waren lange Zeit par excellence in Dresden zu suchen, wie einst unter den Mediceern in Florenz. Der Hof war katholisch und zumeist mit italienischen Prinzessinnen beschickt, die die italienische Sprache und eine italienische Oper mit sich brachten. Noch heute liegt in der Nähe des Schauspielhauses ein italienisches Dörfchen. Paläste mit italienischen Namen, Denkzeichen der Zeiten des prächtigen August finden sich noch vielfach und erinnern an romanische Dinge und Töne. Der kleine wohlhabende Staat Sachsen bot ebenfalls mancherlei Parallelen mit Toskana.

Dresden ist eine der Städte, wo ich gerne ankomme. Es hat mir immer aus der Ferne das meiste Vergnügen gemacht. Aber man muß aus den schlesischen Grenzwäldern nach Sachsen reisen, um einen entzückenden italienischen Anblick zu finden: das bergige, sonnenfrische Bautzen, die schöne hügelige Straße links mit den blauen Bergen, die hinabführt zu dem heiteren Bischofswerder, wo so hübsche Mädchen wohnen, das alles stimmt überaus empfänglich. Und nun kommt man zu den waldigen Bergen, wo die breite Straße eilig hinabrennt zum Elbtale, und zwischen Fichten, Tannen und Landhäusern sieht man weit unten im Hintergrunde, begrenzt von einer sanften Hochebene, eine breite Stadt mit italienischen Türmen, Kirchen und Schlössern: Florenz, das blühende, in weichen, gefälligen Farben prangend und lockend. Dieser Anblick hat soviel Südliches, Fabelhaftes, daß er mir stets die buntesten Hoffnungen und Illusionen weckt. Dresden wimmelt stets von Reisenden. Es ist eine Winter- und Sommersaison, die Italien vertritt. Die Brühlsche Terrasse an der Elbe, von der man hinab gegen Meißen, hinauf bis in die Vorberge der Sächsischen Schweiz sieht, klingt von allen Sprachen Europas.

An warmen Sommerabenden ist es sehr hübsch auf der Brühlschen Terrasse. Bunt, vornehm und heiter, so daß man gar nicht in Deutschland zu sein glaubt. Geputzte, schöne Gestalten mit fremden Gesichtern schreiten vorüber. Die Terrasse steigt kühn und steinern vom Flusse auf und stößt rückwärts überall an den langen Palast. Die Illusion des Fremdartigen dauert so lange, bis uns ein Registraturgesicht aufstößt, eines jener unvertilgbaren Gesichter der Heimat, die Lachen, Ärger und heimliche Liebe in uns erwecken. Solche alte Busenkrausen, gelbe Stulpstiefel, weißliche Kaschmirhosen, Schnupftabaknasen, weiße Unterhalstücher, silberne Uhrketten sieht man noch häufig in Dresden.

Auch eine Erinnerung aus der Rotenmützenzeit von Halle, aus der Zeit des Zorns und des Enthusiasmus ohne Gedanken begegnete mir dort. Wir sahen einander zweifelnd an: „Entschuldigen Sie, mein Herr ...“ „Ah, ich wollte mir eben auch erlauben ...“ „Sind Sie nicht ...“ „Haben wir nicht zusammen ...“ „Bist du wirklich der Bruder Medardus aus der Klausstraße?“

Es ist ein sehr bedenkliches Unternehmen, einen alten Universitätsfreund wiederzufinden. Die Menschen gehen zu verschiedene Wege. Der Jugendfirnis der Akademien, der alles ausgleicht, geht verloren. Da gibt es noch wüste, fatale Kirchhofszenen, die Vergangenheit selbst wird vergiftet. So wie man sich hüten muß oder sich nur vorsichtig daran machen darf, alte Plätze einstiger Poesie aufzusuchen, die neue, anteillose Gesichter entweihen, so wird auch das Antlitz der Freunde und Geliebten oft alt, stumpf und unkenntlich.

Mein Bruder Medardus hatte sich leidlich frisch erhalten. Hatte jahrelang still zwischen Bergen gewohnt, ein liebendes Weib gefunden, und hoffte noch von der Welt. Das ist die Hauptsache. Wer noch hofft, ist noch jung. Seine Augen können noch leuchten, sein Herz kann noch beben. Bittet Gott, daß er euch nicht die Hoffnung überleben läßt, und bleibt empfänglich für die kleinsten, putzigsten Hoffnungen.

Im Jahre 1827 waren wir auf dieser Terrasse gestanden, den Kopf voll vom griechischen Testament und von orientalischen Kirchenvätern. Das Herz voll von Sehnsucht nach himmelblauen Augen, die wir auf der Schule geliebt hatten. Voll Sehnsucht nach der stillen, schattigen Pfarrstelle, nach dem Frieden beschränkter, aber eigener Häuslichkeit.

Wie ist das anders geworden, Medardus! Moderne Wünsche schweifen über Berge und Länder, und das Idyll des Herzens ist doch nicht zerstört.

Wir beide sind durch die Sächsische Schweiz gezogen, Liebeslied auf Liebeslied singend, wechselnd wie die Schwalbe, der schlesische Pietätsvogel. Verse haben wir auf kleine Blätter geschrieben und haben sie von der Bastei in die grüne Tiefe hinabflattern lassen, durch die silberglänzend die Elbe zieht. Der Wind nahm sie auf seine Flügel, und jedes Mädchen, das sie fand, war auch gemeint.

Es sind keine großartigen Verhältnisse, aber mannigfacher Reiz liegt in diesem sächsischen Gebirge. Blau und violett erheben sich die einzeln abgespaltenen Berge wie Steinschlösser ringsum. Die Sächsische Schweiz ist ein Milchschwesterchen des Riesengebirges. Der schlimme, gewaltige Bruder hat alle Kraft in sich gesogen, nur die Anmut, die Taille und der hüpfende Wuchs ist dem Schwesterlein geblieben. Das Riesengebirge ist der Napoleon der deutschen Berge, die Sächsische Schweiz die leichte, bewegliche Josephine, der er mit der Tafelfichte die Hand reicht. Rasch stürmt er von dort vom Westen des achtzehnten Jahrhunderts aufwärts und immer aufwärts; auf dem „Hohen Rade“, dem Konsulate, ruht er einen Augenblick und eilt dann geflügelt auf die Koppenhöhe des Kaisertums. Dort schließt jäh das hohe Gebirge und fällt in entsetzliche Gründe. Dort verschwindet der Kaiser.

Aber auf der Bastei gibt Josephine ihre heiteren Hoffeste, und im Ottowalder- und Amselgrunde sind die süßen Erinnerungsplätze der revolutionären Liebe des Generals Bonaparte. Dort liegen für ewige Zeiten die unsterblichen Liebesbriefe, die ein großer Mann vergessen muß, denn die Größe ist einsam und lieblos.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier