Die Steiermark

Der Wagen fuhr langsam, weil es steil aufwärts ging. Ich legte mich bequem ins Türfenster, um in frischer Abendluft zu träumen von den wunderlichen Dingen dieser Erde. Wie ich wiederum über ein Gebirge führe, um das Glück dahinter zu suchen, nachdem ich ausgefahren von Jäschkowitz im Lande Schlesien. Ach, es waren immer noch nicht die Pyrenäen, es waren unbekannte illyrische Berge, und man hatte mir sogar erzählt, zwischen diesen Bergen bis Laibach hinunter wimmle es von Räubern. Am Ende saßen sie schon bei mir im Wagen und ließen mir nur noch ein wenig Muße zum Schwärmen in der schönen Nachtluft. Es war so räuberisch still, ich war wirklich todeseinsam und dachte an meine Mutter, die immer gefürchtet hatte, es würde mir etwas Besonderes passieren. Wenn man mich hier totschlug und in eine Schlucht würfe, so erführe sie nie, was aus mir geworden sei. Das beunruhigte mich.

„Schaun S’, die schönen Berg’, die Wiesen und die ganze G’schicht“, rief mein Gegenüber. Dadurch erfuhr ich zugleich, daß ich ruhig schlafen könne. Einen Spitzbuben mit österreichischem Dialekte weiß ich mir nicht zu denken.


Der Mond belehrte mich beim flüchtigen Vorübergehen, daß eine Dame neben mir sitze. Es regnete sanft, und uns allen im Wagen war nicht recht nach einer Unterhaltung zumute. Wir räkelten uns im Wagen zurecht und hielten uns still. Es war nicht unbehaglich, so ein wenig zu dösen und dann wieder hinaus in das verregnete Land zu sehen.

Am andern Tage waren wir in Laibach. Der Ort ist berühmt durch einen Kongreß und durch seine großen Krebse. Ich wollte mich dort auch verschönern und suchte eine Barbierstube. Zwei Raseure hatten einen armen Bauern unter dem Messer, dessen passiven Heldenmut ich lebhaft bewunderte. Er war eingeseift bis an die Wimpern und man rasierte ihn, daß ihm das Wasser aus seinen Augen drang. Nur einige Male fiel er den Künstlern in die Klingen, um einmal auszuspucken und aufatmen zu können. Dazu sprachen die beiden Hauptdarsteller ein kauderwelsches, diplomatisches Idiom. Die Aktion sah mir bedenklich aus, und ich kehrte flugs um.

Die Menschen und die Gegend passen nicht recht zueinander. Die Landschaft ist ziemlich gewöhnlich: ein paar Waldberge sind da, ein Flüßchen, viel Grün und was sonst noch zur einfachen Hausmannskost gehört. Die Bewohner sehen wie halbe Türken aus oder wie Ungläubige, um mich besser auszudrücken. Dieses Aussehen hatten sie aber gewiß schon vor dem Kongreß. Die Frauen tragen nämlich einen großen Türkenbund aus Handtüchern um den Kopf. Wenn ich im Österreichischen von Menschen spreche, so meine ich immer nur die Frauen. Die Männer sind Österreicher. Aber das Frauenzimmer erhält eigentlich das östliche Kaisertum. Die Frauen sind immer konservativ.

Es schien mir, als sei viel Türkisches in diesem Lande. Die Abstufung vom Osmanischen zum Albanesischen, von da zum Istrischen, Steirischen, Wienerischen ist niedlich und kommt einem Norddeutschen manchmal recht unbedeutend vor. Es sind nämlich nur kleine Modifikationen jenes bequemen Materialismus, der aus den Zelten der Osmanlis stammt und zu Wien in den Kaffeehäusern wiederzufinden ist. Die christliche Stadt Wien hat viel Mohammedanisches im Kaffeetrinken, Tabakrauchen und sonstigen islamitischen Vergnügungen. Sankt Stephan ist in der Liebe viel erfahrener als die heilige Sophie in Istanbul. Es fällt schwer, im übrigen Deutschland einen Menschen zu finden, der sich mit demselben unsäglichen Behagen wie der Wiener vor dem Kaffeehause niederläßt. Er streckt die Beine von sich, die Augen gehen langsam auf in stiller Wohlbehaglichkeit, die Nasenflügel bewegen sich träg-lächelnd in gesunder Naturkraft. Dieses wollüstige, vegetative Wesen versteht man erst, wenn man aus dem Süden heraufkommt.

Zwei solche wienerische Wesen saßen mit mir im Postwagen; ein Männlein und ein Fräulein. Das Männlein war ein reicher Bäckermeister aus Wien, jung an Jahren, glatt und schön von Antlitz, gesund wie ein Krebs. Er saß den ganzen Tag still und rauchte so lange, bis er etwas zu essen bekam, und aß so lange, bis er wieder zum Rauchen überging. Er strotzte von Wohlbefinden und war viel zu schwer für die Eilpost. Seine Schwester war eine komplette Schönheit. Nicht die kleinste Störung fand sich an der ganzen Person. Alles war schön und regelmäßig und ohne Leidenschaft. Man konnte darauf schwören, es sei eine aufgenudelte Heilige, die den Mund bloß zum Essen und Beten und die großen himmelblauen Augen nur zum Schlafen hatte.

So groß aber ist die Macht jeder Formenschöne, daß ich dieses leblose Mädchen siebzig Meilen lang immer mit Vergnügen angesehen habe. Sie sprach nur zuweilen, wenn sie gefragt wurde, „ja“ oder „nein“. Ihr Bruder sagte auf der ganzen Tour nur dreimal: „‘s regnet halt wieder“, einige Befehle in den Wirtshäusern abgerechnet, die er den Kellnern gab. Der dritte Begleiter, ein alter Gouverneur irgendeiner dalmatinischen Festung, unterhielt sich immer vormittags eine Stunde mit mir. Während der übrigen Zeit schlief er. Täglich behauptete er zur Einleitung des Gesprächs, er habe eine sehr große Ähnlichkeit mit Napoleon. „Sehr eine fatale Ähnlichkeit“, pflegte er zu sagen. Man habe ihn schon einmal deswegen absetzen wollen. Die Ähnlichkeit bestand darin, daß er nicht groß war, schlecht Schach spielte und seit vierzig Jahren an einem unersättlichen Magenkrebs litt. Eigentlich war er ein sehr gebildeter Mann, er hatte sich nur mit ganz anderen Dingen beschäftigt als die gewöhnlichen Leute von Bildung. So erkundigte er sich bei mir, ob ich ihm nicht Aufschluß über den ›Harz‹ geben könne und was man sich eigentlich darunter zu denken habe. Ursprünglich hielt er ihn für einen großen Berg in Kurland, wußte aber nicht gewiß, ob er noch existiere. Seine zweite Frage ging nach dem Herrn Marquis von Lafayette. Er habe von ihm sprechen hören, solange er lebe, aber er habe nie ›etwas G’wisses über ihn zu seiner Wissenschoft moch’n kenna. Es muaß ein sehr sonderbarer Mensch g’wesen sei.‹

Aber er hatte viele hundert Male bei Frau Generalin Neipperg gespeist, die einst die Gattin Napoleons war und den König von Rom geboren hat, und viele tausend Male bei Kaiser Franz. Nur war ihm immer die fatale Ähnlichkeit mit Napoleon im Wege gewesen. Er nannte Napoleon immer einen unruhigen Mann, den jetzigen Gemahl der Marie Louise aber stets einen ›feinen Kavalier‹. Neipperg soll wirklich ein sehr liebenswürdiger Mann sein, obwohl er kränklich, wenn ich mich recht erinnere, lahm oder gelähmt ist. Ich werde mich immer eines Abends in Cilli erinnern, weil er diese Gegend aufs beste charakterisiert. Wir saßen beim Nachtessen in einem reinlichen, behaglichen Wirtshause. Einige Notabilitäten der Stadt reihten sich um den Gouverneur und hofierten ihm auf das untertänigste. Das Gespräch kam auf Karl X. und die Berry, die sich in Steiermark niederlassen wollten. Die ganze Gesellschaft zerbrach sich den Kopf darüber, warum der König von Frankreich sich so lange außerhalb seines Landes aufhalte, ja, sich sogar in einem anderen Lande niederlassen wolle. Eine Gerichtsperson aus Cilli erlaubte sich mit vielen Reservationen zu bemerken, daß es vielleicht richtiger wäre, wenn der König in seinem Lande bliebe. Da erhob sich unten am Ende der Tafel ein kleiner Mann und murmelte ziemlich unverständlich, er spüre der Sache schon lange nach, es müsse da irgend etwas vorgefallen sein. Der König von Frankreich habe Unannehmlichkeiten gehabt, sei verdrießlich geworden und eine Zeitlang außer Landes gegangen. Die Regierung habe unterdessen ein Verwandter übernommen.

Diese Meinung wurde aber mit allgemeinem Unwillen verworfen und der Redner einer naseweisen Zeitungsleserei beschuldigt. Der Gouverneur sagte: „Solche G’schichten gehn uns nix an“, der Bäckermeister trat ins Zimmer und sprach: „‘s regnet halt wieder.“

Wir brachen auf. Die Cillicier wünschten dem alten Gouverneur Glück zu seiner großen Karriere und empfahlen sich ihm namentlich. Der Gouverneur versprach: „Scho recht, scho recht, wann i nur net die unang’nehme Ähnlichkeit hätt’.“

Durch das Murtal in Steiermark ging es immer weiter. Ich las, die schöne Heilige schwieg, der Bäckermeister rauchte, der Gouverneur schlief. Man spricht sehr viel von der schönen Steiermark. Es ist an der Straße nur eine gewöhnliche, halb gebirgige Gegend. Aber es gedeiht hier ein schöner Menschenschlag, namentlich in Graz. Dort im Theater habe ich Claurensche Mädchen gefunden, mit allen kleinen materiellen Schönheiten, mit Grübchen, mit Rosen und sonstigem Detail. Graz ist wirklich der Ort, wo man das „Vergißmeinnicht“ noch einmal lesen könnte. Die Romantik ist noch in ihren Kinderschuhen, die Mädchen sind kurios verführerisch.

Auch ist ein altes Schloß da, auf das sich die Leute sehr viel zugute tun. Man hat eine wunderbare Aussicht von hier über die Stadt und die kleinen Täler in der Nähe. Mir war es allerdings wichtiger, daß der Weg hinauf bei sehr hübschen Häusern vorbeiführte. Das heißt, bei Häusern, in denen sehr hübsche Mädchen wohnten. Dicht am Schloßberge steht ein besonders hohes, schönes Haus, aber das Mädchen, das am Fenster saß, reizte mich noch mehr. Ich versuchte einen kleinen Roman, aber ich mußte die ersten Zeilen wieder ausstreichen, um schnell nach Wien zu kommen.

Ich weiß von Graz sonst nichts Charakteristisches zu erzählen, als daß der Adel der Provinz, der sogenannte Kavalier, hier noch seine erste Heldenrolle spielt, daß man viel Kruzifixe sieht und daß ich des Nachts auf dem Heimwege die Stadt woanders suchte, als wo sie war. Trotzdem ich mich verirrt hatte und sehr spät nach Hause kam, fand ich die Wirtsstube meines Gasthauses noch belebt. Es wurden noch „Hendln“ verspeist und „Seidln“ getrunken. Die Backhendln sind bekanntlich der Mittelpunkt der österreichischen Nationalität. Es ist ein historischer Fehler, daß die Österreicher nicht ein Backhendl im Wappen haben.

An einem Tisch war besonders viel „Spektakel“. Da wurde die Resi am meisten getätschelt, da schien es das schönste „Theater“ zu geben. Der Hauptredner war ein magerer Gerichtsschreiber, der die Gesellschaft damit so vortrefflich unterhielt, daß er sich hochdeutsch zu sprechen bemühte. Das ursprünglich Komische war für sie das Berlinerische. Unter dieser Firma nahmen sie aber alles hin, was von ihrer Mundart abwich. Besonders komisch war ihnen die volle richtige Aussprache der Doppelvokale und Diphthonge. Sobald sie aber vermuteten, daß ich aus Berlin sei, wurden sie verlegen. Die Kinder machen sich über den Schulmeister nur lustig, wenn er nicht in der Nähe ist. Bald aber kehrten sie zu jener entwaffnenden, fast übertriebenen Bescheidenheit zurück, die ein gut Teil ihres liebenswürdigen Wesens ausmacht.

Resi leuchtete mir zu Bette und fragte, ob ich noch was zu „schoffen“ hätte. Bei frühem Morgenstrahle flog ich zum Tore hinaus. Die erste Person, die uns begegnete, war ein Liguorianer. Dieser Orden steht in dem Rufe, die ausgezeichnetsten Hausfreunde zu liefern. Er ist darum noch sehr in Aufnahme.

Wir flogen mit der goldenen Sonne durch die stillen Waldberge. Ich bemerkte hierbei, daß die Lobpreisung der steirischen Natur mehr die Alpen Obersteiermarks angehen möge, zu denen die reicheren Wiener ihre Sommerausflüge machen.

Eine stumme Reisegesellschaft wurde um die Person einer Nonne vermehrt. Ich wurde durch fromme Intrigen ins Kabriolett verwiesen, weil ich mich gottlos aufgeführt hatte. Wir saßen nämlich bald nach Ankunft jenes geistlichen Möbels in einem kleinen Städtchen bei Tisch. Es wurde in allerlei Sprachen gebetet, das Essen blieb aber schlecht. Einige unchristliche Äußerungen entfuhren mir zu wiederholten Malen. Man bekreuzigte sich und rückte von mir ab. Die Nonne mit ihrem Fastengesicht redete der schönen Wienerin zu, Gott die Ehre zu erweisen und ins Kloster zu gehen. Die Wienerin nickte mit dem Kopfe. Mir schnitt es ins Herz, daß dieser schöne, gottgefällige Leib niemals zur Freude geweckt werden solle. Ich lief hinaus und trieb den Schaffner zur Abfahrt. Der Kondukteur neben mir schlief, der rotbäckige steirische Postillon mit dem kernigen, hohen Körper knallte auf seine breiten, hohen Pferde. Ich wußte nichts Besseres anzufangen, als über die Unsterblichkeit der Seele nachzudenken. Mit diesem Thema beschäftigen wir uns schon seit vielen Jahrhunderten; ach, und „ma waß holt immer no nix G’wisses!“

Die Leute im Wagen und die meisten Österreicher brauchen doch einen ganz andern Himmel. Für einen solchen Himmel würde ich mich gehorsamst bedanken.

Gegen Abend ging es fortwährend bergauf. Wir kamen zum Fuße des Semmerings, auf dessen Gipfel das eigentliche Erzherzogtum Österreich beginnt. Dort steht ein steinerner Obelisk, ein einsames Gasthaus und dunkles Nadelholz. Von hier fällt der Weg steil ab durch dunkle Talschlünde. Es war Abend geworden, und einzelne Lichter blickten aus den schwarzen Tiefen. Einst donnerten hier die französischen Kanonen der großen Armee abwärts zu den blutigen Schlachten an der Donau. Als ich mitten in der Nacht zum erstenmal erwachte, waren wir im flachen Lande, und hinter mir hörte ich wieder den Bäckermeister: „‘s regnet halt wieder!“ Zum zweitenmal weckte mich die Morgenfrühe auf der Spinnerin am Kreuz. Vor meinem Blicke lag ein glänzendes Häusermeer, der Postillon knallte und der Kondukteur sagte mit befriedigtem Lächeln: „Schaun S’, Euer Gnad’n, dos is Wean.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier