Der Zobten

Während des vierwöchigen Aufenthaltes in Gräfenberg hatte ich von der Welt wenig erfahren, still war es um mich und in mir geworden. Traurig fuhr ich nun zwischen den Waldwänden der Berge an den rauschenden Gebirgsbächen dahin, und es war mir ein rechter Trost, daß sich nirgends ein Ausweg ins offene Land zeigte. Hier, hinter diesen Bergen, in den hölzernen Hütten, unter Leuten, die das Wort Politik nicht kannten, hatte ich mich wohl gefühlt.

Aber mittags öffneten sich die Zugänge in die Ebene, der Bischofssitz Johannisberg erschien und bald hatten wir ihn erreicht. Das Wort Johannisberg duftet wie eine Blume. Wenn hier auch nicht das Rheinische war, hier war es auch sehr schön. Am Abhang des Gebirges liegt Johannisberg und sieht weit hinein in die lichte schlesische Ebene. Still und sanft lächelnd schaut das Schloß des Bischofs auf das Städtchen herab. Ich denke mir stets eine solche Sommerresidenz eines hohen geistlichen Herrn mit großen, in Samttapeten ausgeschlagenen Zimmern und eingeweihten, verständigen Bedienten. Das Schloß liegt hoch, man sieht in das Land, doch niemand sieht in das Fenster. In einer Ecke der Zimmerreihe wohnt der Prälat in liebenswerter rötlicher Gesundheit, in der anderen seine lustige Kusine, die auch sehr gesund ist und zufrieden mit Essen und Trinken, kleinen Spaziergängen, Fahrten und Scherzen. In einem rottapezierten Gemache, etwa in der Mitte zwischen ihren Wohnungen, kommen die beiden zusammen zu heiterem Genusse der Gaben Gottes, der schönen Aussicht, der süßen Rebe, eines heiteren Verses und der anmutigen Wallungen des Menschenherzens.


Noch als der Mond heraufkam, trabten wir lustig fürbaß. Es war eine der schönsten Nächte, die über Schlesien geleuchtet haben mögen. Der Weg, dem wir wie alte Ritter auf gut Glück folgten, führte unter schlanken grünen Bäumen an einer Berglehne hin. Johanniswürmchen flogen wie kleine Sternenkinder in dem grünen Dunkel umher, wohin die Mondstrahlen nicht drangen. Als wir in eine Blöße kamen, sahen wir dicht unter uns das schlohweiße Kloster von Kamenz, schön wie eine junge, blasse Nonne. Dahinter stieg schwarz das Hochgebirge auf, von weichen, fließenden Mondwölkchen umsäumt. Als sich wieder eine dünne Laubholzung dazwischendrängte, glänzte das Ganze wie ein blaugrüner Schimmer aus dem Geisterreiche einer Kinderphantasie.

In süßem Dämmern kam ich an das Tor von Frankenstein. Bald ging es auf neuen Wagen weiter auf einer glatten Chaussee, die über Reichenbach nach Schweidnitz führt. Der Frankensteiner Bezirk ist die üppige Weizenkammer Schlesiens. Das Getreide wogt auf den Feldern in strotzender Gesundheit, das Land ist offen, und das hohe Mensen- und Eulengebirge schaut schweigsam wie ein wohlwollender Großvater hinüber.

Man sieht hier das schöne Widerspiel des Oderstrichs. In derselben Richtung wie der Strom ziehen sich die Berge von der ungarisch-mährischen Grenze bis an die sächsische hinab. An der letzten Abdachung dieser Kette führte mein Weg während jener Nacht. Man kann hier auf den Gebirgskämmen bis in die Ebenen der Moldau hinabsteigen, auf der anderen Seite über das Riesengebirge, den Iserkamm und die sächsischen Berge nach Thüringen hinein bis in die äußersten Höhepunkte des Harzes und der Weserberge. Wenigstens von Ungarn aus bis tief nach Sachsen hinein hängen die Gebirge hier zusammen wie eine spaltlose eherne Rüstung.

Süß schaukelte ich in dem weichen Wagen angesichts dieses langen, undurchdringlichen Leibes. Im Mondschein sah ich die langen Dörfer am Fuße der Eule liegen, die einst die Füße des Gymnasiasten ermüdet hatten. Die Kapitale dieser ungeheuren Dörfer ist Langenbielau, ein Ort, so groß, daß verschiedene Dialekte darin gesprochen werden. Diesseits des Baches, der ihn durchschneidet, sagt man: „‘s rehnt“, jenseits aber: „s’ rahnt“. Vielleicht gibt es überhaupt kein Ländchen in Deutschland, wo der Dialekt so tausendfach modifiziert ist und wo man soviel Abwechslung und Dreistigkeit im Erfinden trifft wie in Schlesien. Dabei ist doch die Atmosphäre der Sprache in solchem Maße Allgemeinbesitz, daß sich alles versteht, ja, daß jeder den Sinn solcher Worte, die im Augenblicke erfunden werden, alsbald begreift. Die neueste, unerwartetste, nie dagewesene Wendung eines Zustandes macht den Schlesier keinen Moment lang um einen Ausdruck verlegen. Er improvisiert eiligst ein ganz neues Wort, das niemand bisher vernommen; aber jeder Schlesier weiß auf der Stelle, was gemeint ist.

Als ich in Schweidnitz war, ging die Sonne tönend auf. Die Felder glitzerten im Morgentau, wie ein wohltuender Atemzug hob sich der Frühnebel von den Bergen, Lerchen stiegen in die Luft, Bauersleute zogen aus den Dörfern an die Arbeit. Ach, die Welt ist mir niemals schöner und reicher entgegengetreten. Tröstlich grüßte der dunkelblaue Zobten.

Die Breslauer Studenten halten alljährlich an seinem Fuße einen Kommers in toller Maskerade ab. Wie beim römischen Fasching ziehen sie zu Roß und Wagen im duftenden Juni aus, und Breslau staunt über ihre unpolizeilichen Gestalten. Viel Witz und Abwechslung wird da entwickelt. Don Quichotte und Sancho Pansa treten leibhaftig auf wie in der Mancha, und das Vergnügen an zweckloser Torheit kommt vielleicht in unserem Vaterlande nie so heiter zum Vorschein als bei diesen Kommersen.

Man muß die Chaussee nach Schweidnitz an solchen Tagen gesehen haben. Der magere Beutel oder der Kredit der Musensöhne reicht bei den meisten nicht weiter als bis zum nächsten Dorfe. Von da schleichen sich nun die heterogensten Masken auf die Bauernwagen. Dirnen sitzen auf dem Leiterbaume, brennendrote Doktoren aus Sevilla gehen jungen Schrittes auf dem Fußwege, tragen ihre Perücken in der Hand und erquicken die Bäuerinnen auf der Wiese mit kräftigem Ungarweine aus ihren Medizinflaschen, Mars hat sich einen Bauernklepper gemietet, jodelt tirolerisch und bittet die zu Fuß einherschreitende Minerva, unter deren Göttergewande bedenklich irdische Pantalons zum Vorschein kommen, um etwas Schwamm. Der Besitzer des Gauls, der der Sicherheit wegen nebenher geht, trägt den unsterblichen Helm und die rote Tabaksblase des Mars.

So kamen wir Götter und Sterbliche abends nach Merschelwitz, wo die Wege nach Breslau, Schweidnitz und dem Zobten zusammentreffen. Da der bunte Schwarm von Hunderten kaum damit rechnen durfte, ein Nachtlager zu finden, wählte man den sicheren Ausweg, keines zu suchen. Die Nacht wird bei unsterblichem Spiel süß verschwärmt. Es sind natürlich weniger Saitenspiele noch Pfänderspiele, auch nicht Theateraufführungen gemeint, sondern das reizende Landsknecht und Pharao.

Es ist nicht zu sagen, in welch mannigfachem Dérangement, in welcher Verwirrung die Kostüme und Gestalten jener Nacht gesehen wurden. Mars ohne Mantel verlor seinen letzten Silbergroschen und versuchte seinen Kredit bei einigen schüchternen Erdensöhnen; Minerva, tief im Negligé, war dagegen noch voll Würde. Die Lustigen der Gesellschaft hatten alles verloren und verspotteten das Glück. Sie setzten sich zusammen, sangen und scherzten und fragten nebenher ganz in der Stille bei diesem und jenem an, ob er ihnen nicht mit ein paar Groschen aushelfen könne. War das geschehen und hatten sie erst wieder ein kleines jeu für Anfänge zusammen, dann schwieg die Laune, denn die Begier ist stumm. Im anderen Winkel des Hauses begann der unterbrochene Jubel bei denen, die genug ausgebeutet waren. Um alle aber schwebte der blaue Qualm, Anzüge und Effekten lagen in süßer Unbefangenheit durcheinander. Die Tische und Stühle waren Biertonnen. Hie und da lag unter der hölzernen Bank ein Mattgewordener, ein Abgefallener. Wüster Schlaf lähmte Miene und Glieder. So fand die Morgensonne das Wirtshaus von Merschelwitz, und ihre ersten Strahlen jagten alles zum Aufbruch empor. Übernächtig, aber von jugendlicher Kraft getragen, zog die Karawane von der Heerstraße ab direkt auf den Zobten zu, der majestätisch und immer größer aus dem Morgen hervortrat.

Bei Sonnenaufgang brach der wilde Haufen wieder los. Es war jetzt ziemlich alles zu Fuß, und trotzdem das Eigentum auch die Nacht hindurch viel gewechselt hatte, sangen die Jugendlichen alle mit den Lerchen um die Wette. Sobald man des unscheinbaren Städtchens Zobten ansichtig wurde, das bescheiden am Fuße des Berges liegt, ordnete sich das Heer ein wenig. Als der äußerste Zobtener Vorposten das Flimmern im Morgenstrahle sah, setzte er die Lunte auf und Böllerschläge begrüßten die neue Herrschaft. Zobten verfällt nämlich in voller Rechtswahrheit den neuen Eroberern. Am Tore harrt die Unschuld, die jedoch höchstens zwölf Jahre alt sein darf, in weißgewaschenen Gewändern mit grünen Girlanden und empfängt die Sieger – alles übrige Frauenzimmer ist aus der Stadt geflüchtet. Auf dem Markte begrüßt der Bürgermeister die neuen Herren und übergibt ihnen die Stadt. Sie wird in feierlicher Gegenrede mit Haus, Hof und Familie angenommen. Das neue Regiment beginnt.

Ich brauche nun homerischen Schwung und Raum, um Einzelheiten von dem Lager zu erzählen. Wie sich die Helden Trojas reckten und dehnten, wie sie ihre Fechterspiele trieben, wie Thersites verhöhnt wurde, Ajax brüllte, Odysseus und Diomedes bei den Landsknechtstischen, die an den Straßenecken standen, intrigierten. Begleitet mich in das Zelt Agamemnons, in das Hauptquartier des Präsiden, das einem Seifensieder gehörte. Dort ruhten die Führer und wälzten Pläne in ihren Herzen. Zwei trojanische Jünglinge, bartlose Kriegsgefangene, hielten an der Türe Wacht. Sie waren die Blüte der Jugend von Zobten, und man hatte sie schwarz von oben bis unten angestrichen. „Luzifer“ hieß der eine der Jünglinge, „Unsinn“ der andere. Nach barbarischer alter Sitte hatte man ihnen den Gebrauch der Sprache verboten, bis auf zwei Redensarten. Unsinn mußte auf alle Anfragen erwidern: „Warum denn dieses nicht!“, Luzifer aber hatte zu antworten: „Salomo sagt: ›Das Weib ist bitter!‹“ Verfehlten es die Jungen, so wurden sie gestäupt.

Innen aber im Zelte Agamemnons beim Seifensieder Schmalz ging es lustig her. Auf dem Hofe brannte ein großes Feuer, an dem ein ganzer Hammel gebraten wurde. Voreilig erhoben sich mancherlei Finger nach dem lecker bereiteten Tiere. Die Edlen, die im gefälligen Negligé um das Feuer ruhten – Waffen und Rüstungen lagen beiseite – pflogen harmlose Gespräche über die Feier des Sieges, die bald vor sich gehen sollte, und über die Schulden der Völker, die noch aus der Zeit früherer Eroberungen in Zobten offenstanden. Kam dann auch Kunde von einzelnem Aufruhr und von Entzweiung der Völker, so ließ man sich nicht stören. Verklagte und Kläger warteten im Zelte des Atriden, besonders als Madame Schmalz anfing, den Schöps zu tranchieren.

Als Helios mit flammenhufigem Gespann tiefer hinabgeeilt war gegen die sächsische Grenze, begann die eigentliche Siegesfeier auf offenem Markte. Erzählt es, ihr Sterne, wie ihr die Helden trinken sahet, und hörtet noch spät am Abend, wie die kleinen Häuser zitterten, aber die Herzen der Argiver lachten.

Mitternacht war es geworden, auf vieler Recken Glieder lag schon bleierner Schlaf. Hell schien der Mond, die Lüfte säuselten weich und lind und brachten den unglücklichen Göttern Kunde von dem tragischen Ende. Nur des olympischen Zeus behagliches Lächeln bebte wollüstig durch seine Schöpfung. Da ging ich mit einigen Genossen durch das skäische Tor hinaus. Der Göttervater hatte uns Kraft erhalten, wir wollten den Berg noch besteigen.

Als wir in den schwarzen Wald traten, wechselten die Zeiten. Wie meilenferne Vergangenheit lag das homerische Epos schlafend hinter uns. Landleute, die sich zu uns gesellten, wallfahrten zur Kapelle oben am Berge, in der mit dem anbrechenden Morgen das Fest des Ortsheiligen beginnen sollte. Fern aus dem Walde drang das Jodeln einzelner Kameraden, von der anderen Seite hörten wir den monotonen Gesang einer Prozession.

Weiß stieg das neue Weltlicht zum Himmel empor, es ward Morgen. Das Riesengebirge tauchte in dunklen Massen vor uns auf, der Tag hob einen Schleier nach dem anderen, der hohe Turm von Schweidnitz enthüllte sich, die ersten Sonnenstrahlen schössen über die weiten, bunten Felder nach Breslau zu. Die Welt dampfte in frischer Morgenfrühe, die Lerchen erhoben sich, und weicher, bittender Kirchengesang klang an unser Ohr.

Ich ging seitwärts in den Wald hinein und kam zu einer grünen Holzblöße, von der man nach dem Städtchen hinabsehen konnte. Ich rastete recht lange. Unten auf der Straße sah ich Studenten in kleinen Trupps langsam heimwärts ziehen. Die Sonne, die eine Weile versteckt gewesen war, brach durch die Wolken, und ich fühlte mich recht behaglich, als ich die reinliche und hübsche Welt unter mir sah. „Die Jagd nach dem Glück will ich aufgeben“, dachte ich mir, „mit all meinem Reisen und Suchen habe ich ja doch den rotgoldenen Grenzpfahl des Glückes nicht finden können. Aber hat sich nicht allmählich Ruhe und Sicherheit in mein Herz gesenkt? Läßt sich das Glück nicht erobern, so läßt sich doch das Passende gewinnen.“

Was alles bewegt die Menschen! Und du, goldene Sonne, die du nun immer heißer wirst, bist stets dieselbe, bist dieselbe gewesen auf dem Felde von Troja wie zu unseren späten Zeiten, bist dieselbe geblieben auf allen meinen Reisen und auf den Bergen und Feldern Schlesiens. Ich grüße dich, Sonne!

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier