Der Wienerwald

Herr von Kurländer fragte mich eines Tages, ob ich schon in der wienerischen Schweiz gewesen sei, und schlug mir für den nächsten Sonntag einen Ausflug vor. Für eine solche kleine Lustpartie über Land ist der Sonntag am geeignetsten. Es streichen dann nicht die Ackersleute beladen und keuchend unter der Last und Hitze des Tages an uns Müßiggängern vorbei, sondern sie sind auch geputzt und lustbeflissen. Herr von Kurländer lächelte, als ich erfreut seine Einladung annahm. Er zeigte mir dann neubearbeitete Lustspiele und führte mich in sein weißes Zimmerchen. Er ist nämlich der bekannte Herausgeber des dramatischen Almanaches, und das weiße Zimmerchen ist ein glatter, scharmanter Raum mit glänzenden, weißgrauen Wänden und Möbeln, wie geschaffen, um darin Lustspiele zu schreiben.

Ich halte den Einfluß, den unsere Umgebung auf unseren Geist besitzt, für sehr bedeutend, zuweilen sehe ich den Geist für einen zusammengesetzten Mechanismus an. Ich könnte nie begreifen, wie Grillparzer seine dunklen Poesien in Kurländers lichtem Arbeitszimmer empfangen könnte oder wie ein moderner Schriftsteller in einem Zimmer ohne Ausblick in die freie Natur, an einem Tische voller Unordnung, auf einem Papier, das nicht glatt und schön sich in die Feder legt, arbeiten könnte.


Nicht bloß das Herz, auch der Geist hat seine Illusionen, oder richtiger: Geist und Herz sind ein richtiges Ehepaar, man kann das eine nicht vom anderen trennen. Herr von Kurländer ist ein garçon in dem Alter, in dem die Pferde keine jungen Zähne mehr haben, er ist ein Wiener Kavalier. Gibt es für ihn eine passendere Beschäftigung, als französische Lustspiele für das Burgtheater zu bearbeiten? Der munteren Karoline Müller, der romantischen Peche hat er dann Visiten zu machen wegen der oder jener Szene, ob ein blaues Band oder ein rosenfarbenes besser stehen würde und wie kurz oder wie lang das Schürzchen werden dürfe. Es ist uns rastlosen Gesellen des jungen Schrifttums äußerst heilsam, zuweilen mit einem solchen garçon in einem weißen Zimmerchen zusammenzukommen, das kleine Interesse an einem Gärtnerburschen oder podagristischen Alten des Lustspieles zu sehen, das einen solchen Schriftsteller tagelang beschäftigt, die schüchterne gesellige Rücksicht zu bemerken, mit der er über einen anderen Schriftsteller der Stadt in „vielleicht“ und „dürfte“ urteilt. Bringt er unser dreistes Urteil richtig in Zug, so versichert er uns schließlich, just so denke er auch.

Als ich am frischen, dampfenden Sonntagmorgen über die Bastion hinaus nach dem äußeren Tore wanderte, gesellten sich einige Wiener zu mir. Vor dem Tore harren die „Linienschiffe“ der Passagiere. Die Zollschranke am Eingang der Stadt heißt nämlich die „Linie“, sie wird nicht immer ohne Gefahr passiert, wenn man Tabak oder Politik als Konterbande mitführt. Die Linienschiffe heißen gewöhnlich „Zeiselwagen“ und können allen Hypochondristen empfohlen werden. Keine ausländische Feder hindert den vaterländischen Stoß auf das Gangliensystem. Meine Leber war umgewendet, als wir das nächste Dorf erreichten. Aber Dornbach ist so nahe, daß ich keine Zeit für Betrachtungen gewann und mich ins Theater versetzt glaubte. Denn in unglaublich kurzer Zeit waren wir mitten in den Bergen. Der Weg ging zwischen den Landhäusern der Wiener dahin, vor einer Viertelstunde etwa war ich noch in der breiten, ebenen Hauptstadt, jetzt war keine Spur mehr davon zu erblicken. Wir zogen singend und lachend durch den Bergwald. Die Sonne spielte durch die Baumzweige hindurch mit uns. Die Wiener erzählten Witze vom Staberl, von den Ungarn, vom Kaiser und wieder vom Theater. Überall erscheint der Kaiser. Man glaubt es nicht, wenn man sich die einfache, harmlose Persönlichkeit dieses Herrn ins Gedächtnis ruft, daß er so reichhaltigen Stoff für die Unterhaltung der Wiener bietet. Er ist aber wirklich auch darin der Mittelpunkt Wiens. Zur Zeit, als ich mit den Wienern in einem stillen Hause am Waldberge saß und mir ihre Erzählungen zu einem frugalen Frühstücke anhörte, lebte er noch und hatte eben seine letzte Reise nach Böhmen angetreten.

Die Jugend unserer Zeit verwirft die Pietät und will keine Illusionen gestatten, sie findet es ärmlich, alles Interesse an eine Person zu binden, sie mag den Staat nicht als Familie statuieren; beobachtet man aber die Sympathien der Österreicher für ihren Kaiser, so findet man es nicht auffallend, daß er ihnen mehr bedeutet als einst Napoleon den Franzosen, ja, daß sie am Ende für ihn größerer Opfer fähig waren, als die grande nation ihrem empereur zu bringen bereit war, obwohl Franz I. kein Held und Genie war.

Kaiser Franz ist mit den Wienern aufgewachsen, er hat stets ihre Sitten geteilt, hat die schwersten Zeiten mit ihnen durchgemacht und war für alle seine Untertanen immer zugänglich. Dazu war er anscheinend unbefangen, und darin ruht ein unschätzbares Gut des Herrschens. Wenn ihnen alles fehlgeht, wenn sie Unrecht zu leiden glauben, so bleibt die Hoffnung der Österreicher und Preußen immer noch der Kaiser und der König. Auf ihren gerechten Sinn vertrauen sie unwandelbar. Das darf man keinen Augenblick vergessen, wenn man sich über die monarchischen Sympathien der Bevölkerung dieser Staaten wundern will. In den Ausdrücken: „Ich gehe zum Kaiser, ich appelliere an den König“, zeigt sich die breite Basis ihres Staatsgefüges und der Volksstimmung.

Einer unserer Gefährten war vor zwei Jahren bei der Schweizerhütte, vor der wir eben saßen, dem Herzog von Reichstadt begegnet. Auch die Erinnerung daran führte das Gespräch wieder zur Person des Kaisers zurück. Im Widerspruch zu den Gerüchten, die von der unglücklichen Stellung dieses Prinzen am österreichischen Hofe wissen wollen, erzählen nämlich die Wiener viele interessante Geschichten, wie Napoleons Sohn gut behandelt worden sei, namentlich vom Kaiser selbst. Franz habe stundenlang mit ihm gespielt, ihm Bleisoldaten und Trommeln gekauft und herzlich gelacht, wenn ihn der kleine Napoleon durch unablässiges Trommeln zur Türe hinaus nötigte. Als der König von Rom größer geworden sei, hätten ihm schöne Mädchen viel zu schaffen gemacht. Sein Taschengeld habe für die freigebigen Geschenke nicht immer reichen wollen. Wenn er nun dem Großvater nur den leeren Beutel gezeigt habe, so habe dieser stets ausgeholfen. Einmal habe ihm der Kaiser eine besondere Freude mit neuen Dukaten machen wollen, die eben erst aus der Münze gekommen und noch nicht im Umlaufe gewesen seien. Der junge Napoleon habe sie ohne weitere Bedenken ausgegeben und dadurch eine ausgedehnte Untersuchung notwendig gemacht. Endlich sei man bis zu der schönen Dame vorgedrungen, die die Goldstücke ausgegeben hatte, und die Angelegenheit habe sich aufgeklärt. Lange Zeit soll Fräulein Elßler von ihm zärtlich geliebt worden sein. Übrigens waren alle Mädchen in ihn verliebt. Sein Tod sei von allen Wienerinnen unendlich betrauert worden. Er starb an einer Krankheit seiner schmalen lothringischen Brust und an seiner jugendlichen Unbedachtsamkeit. Jetzt schläft er bei den Kapuzinern neben den Habsburgern, viel tausend Meilen entfernt vom Grabe seines gewaltigen Vaters, der auf der Welt nichts heißer liebte als ihn.

Wunderbares Schicksal! Sohn eines Kaisers aus dem Stegreife und einer geborenen Kaiserstochter. Erzogen und geliebt von denen, die seinen Vater stürzten. Sterbend in der Fremde, ohne Frankreich gesehen zu haben. Begraben inmitten der Kaiser Deutschlands, drei Jahre lang König von Rom. Wie freundlich hat das Geschick das Haus Napoleons bedacht, zuerst mit Lorbeer und dann mit Zypressen.

Als wir aufbrachen, um weiter in die Berge und Täler hineinzusteigen, setzte der Erzähler noch hinzu: „Man weiß gar nicht, wie sehr unser Kaiser Napoleon zugetan war und was ihn bewogen hat, ihn zu stürzen.“ Nein, das wissen wir nicht, und ich glaube auch nicht, daß die Liebe des Kaisers Franz zu Bonaparte so groß war.

Es ist mir noch mit dem Bild keiner Landschaft so gegangen wie mit diesem Wald an der Donau. Ich strich im Geschwätz und Sommerträumerei gedankenlos durch das Grün, ohne mir einen einzigen großen Blick im Gedächtnis zu bewahren. Die Vögel sangen aus Leibeskräften, die Gräser dufteten, ein zärtlicher Sommertag blinzelte zufrieden an den sanften Berglehnen, geputzte Leute schritten still, sonntäglich an uns vorüber, nichts weckte mich aus dem Halbschlummer meines Geistes und Herzens.

Welcher Reiz einer großen Stadt, binnen einer Stunde aus dem Tosen einer modernen Metropole in berauschende Bergeinsamkeit treten zu können. Der muntere Vogel mit arglosen schwarzen Augen auf dem nächsten Baume sieht aus, als sei er aus dem Lande unserer Jugend herangeflogen. Seine alte Melodie bringt uns alle kleinen Lieder zurück, die wir in der Jugend gesungen haben. Wir werden wieder unschuldig, können wieder beten und werden naiv in der ewig wechselnden und doch gleichbleibenden Natur Gottes.

Halb im Traume erreichte ich die Höhe eines langen Waldberges. Eine dunkelgrüne Hügelfläche dehnte sich vor meinen Blicken aus. Unbestimmt, ohne Abwechslung, wogte sie über den dunklen Schein der Donau hinweg, die still in der Mitte floß. Das Auge fühlte sich wohl in dieser weiten Einförmigkeit. Meine Gefährten wiesen einander die ungarischen Berge und die steirischen Alpen, mich fesselte nichts als die grüne Fläche an beiden Ufern der Donau, eine Landschaft, wie ich sie ähnlich vorher niemals gesehen.
Wir stiegen in feinem Staubregen die Berglehnen wieder abwärts nach Wien zu und kamen in ein abgelegenes Tal, aus dem uns das alte Gemäuer eines verlassenen Kartäuserklosters grüßte. Mehrere Stunden wanderten wir durch das frische Grün dieses Tales dahin. Mir war, als spazierte ich in einem Garten. Unter allen Bäumen kamen geputzte, lustwandelnde Wiener zum Vorschein. Über Hadersdorf und Hütteldorf ging unser Weg an Laudons Denkmal vorüber. Feldmarschall Laudon war der beste Reitergeneral unter Friedrichs Feinden. Er wurde von seinem Gegner sehr respektiert. Still ruht sein steinernes lichtes Monument unter Bäumen. Er ist jetzt tot. Alles stirbt, die Wiener spazieren vorüber und denken an Küsse, ans Essen und Trinken. Man braucht wirklich ein sehr borniertes oder sehr weites Herz, um etwas vom Ruhm bei der Nachwelt zu halten.

In Hütteldorf wimmelt es von Wagen und Leuten. Man sitzt im Freien, sieht die Wiener Straße hinab, lacht in Gottes goldener Sonne und findet die Welt vortrefflich. Ich wollte noch in das Theater und bestieg allein den merkwürdigsten Zeiselwagen, der in Wien zu finden ist. Der Kutscher und das Pferd waren dürr, der Wagen vertrocknet. Mein blanker Frack und meine blühende Weste nahmen sich hier höchst unpassend aus. Ich mußte das Ansehen eines Flüchtlings haben, den der Feind auf einem Balle überrascht hat. Das fühlte ich immer stärker, als ich in die Nähe Schönbrunns kam, mitten unter die strahlenden und blitzenden Equipagen des Adels.

Wie ein Feenschloß lockte Schönbrunn auf der rechten Seite an der Berglehne. Entschlossen kommandierte ich meinen Zeiselkutscher mitten hinein unter die glänzenden Equipagen der Kavaliere. Mein Zeisel flatterte unsicher wie ein Spatz unter edlen Vögeln umher, und ich hätte mich sehr geschämt, wenn ich nicht gewußt hätte, daß mich hier niemand kennen konnte. War es ein ästhetisches oder ein Minderwertigkeitsgefühl? Ist es eine Schwäche, für einen solchen Zynismus unbrauchbar zu sein, so bin ich in der Beziehung schwach. Die unpassenden Gegensätze, mein Frack, der Zeisel und die Kavaliere peinigten mich, und ich fand keine Ruhe, die schönen vorüberfliegenden adeligen Damen zu betrachten, am wenigsten meine elegante Lorgnette dazu herauszunehmen. Lorgnette und Zeisel waren nicht nur unpassend, sondern lächerlich. Ich stieg aus, um Schönbrunn anzusehen. Zwei große goldene Adler sitzen auf den schlanken Torpfeilern und geben dem schönen Lustschlosse ein vornehm kaiserliches Aussehen. Terrassenförmig erhoben sich die stolzen Gebäude. Oben auf der Höhe brannte ein Pavillon golden mit vielen Fenstern in der Abendsonne.

In Schönbrunn, auf dem großen Platze vor dem Schlosse, war es, wo der junge Staps aus Thüringen Napoleon erstechen wollte und von Rapp verhaftet wurde. In den französischen Stücken, in denen der deutsche Student zum Fortleben verurteilt ist, heißt er gewöhnlich monsieur Burskenschaft und trinkt sehr viel Bier.

Reich und vornehm erscheint Wien besonders, wenn man im Sommerabendscheine neben unzähligen Equipagen durch die breite Vorstadt direkt zur Burg fährt und dort trotz des warmen Abends im Theater alles besetzt findet. Da weiß man nicht, wohin mit Menschen, Wohlstand und Vergnügen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier