Böhmen

An einem frischen, sonnenroten Morgen mußte ich Wien verlassen und fuhr über die Donau hinaus. Die Reise ging durch Mähren. Eigenartig wirken diese tschechischen Länder – Böhmen und Mähren sind nämlich im ganzen ein und dasselbe. Die Körper der Mährer sind mir nur etwas fleischiger vorgekommen. Es ist ein fruchtbares Land, das sich in der Sonne bis zu den Sudeten hinzieht.

Die Landschaft liegt breit und hügelig in strahlender Sonne. Auf den Äckern an der Straße wird fleißig gearbeitet. Die Wälder scheinen erst vor einem Jahre abgebrannt zu sein, hie und da sieht man auf einem Berggipfel eine verwaiste Baumfamilie oder an einem Abhang einen langsam sterbenden Stamm, sonst ist alles Wiesen- und Ackerland. Auf allen Hügeln ist es menschenleer. Die Dörfer sind groß und reich, und viele Kinder tummeln sich zwischen den Häusern umher. An den schmiegsamen, elastischen Bewegungen der Bevölkerung merkt man, daß man in einem slawischen Land sein müsse. Die Menschen sind höflich und zutraulich, aber eine unbestimmte Trauer umfließt ihr ganzes Wesen und läßt sie zurückhaltend erscheinen. Sie sind genügsam und ausdauernd in der Arbeit, ihre Feste bieten ein heißes und verwegenes Bild buntesten Lebens.


Wir fuhren weiter, sandige breite Berge hinauf. Eine lichtgrüne Holzung auf einem Hügel nahm uns auf, und als sie jenseits wieder abfiel, öffneten sich uns die ersten Blicke in den Kessel von Prag. Auf gesegneter Fläche zwischen kühnen Höhen zieht sich die Stadt hin, durchströmt von der schwer und breit dahinfließenden Moldau. Unser Klepper wieherte und setzte in eiligem Trab die Straße hinunter.

Prag ist der Stolz der Tschechen, ihr heiliges Mekka. Es war gegen Abend, als ich dort ankam. Ein regnerischer Nebel hing über der hügeligen Stadt und über den stolzen Schlössern, in denen vormals die prächtigen Ottokare, die stolz-wilden Hussiten herrschten. Da der Regen bald in Strömen herunterfiel, mußte ich vorerst im Zimmer bleiben.

Am nächsten Morgen sah ich mich in der alten, merkwürdigen Stadt um. Sie ist durch die Moldau in zwei Teile geschieden. Auf dem rechten Ufer liegt die Alt- und Neustadt, auf dem linken, an den Bergen hinauf und auf der Höhe selbst, die Kleinseite und der berühmte Hradschin. Die grauen stolzen Schlösser auf der Kleinseite künden von der Macht des böhmischen Adels und von der slawischen Herrlichkeit der früheren Jahrhunderte. Auf der kompakten, steinernen Brücke, die beide Städte verbindet, steht der heilige Nepomuk, der sein Leben dafür hergab, auf allen Brücken schweigend fortleben zu dürfen. Wie viele Leute, die ungerecht ersäuft wurden, sind im Dunkel der Geschichte verlorengegangen. Man sieht, daß es bei historischen Ereignissen sehr auf die Nebenumstände ankommt.

Jedes Kind macht die Bekanntschaft des heiligen Nepomuk und läßt sich die Geschichte erzählen, wie er sich geweigert habe, dem wüsten besoffenen König Wenzel das Beichtgeheimnis der Königin zu verraten, und wie er deshalb von der Brücke in den Fluß hinabgestürzt worden sei. Mit blitzenden Hellebarden habe man das Volk zurückdrängen müssen. Als er untergesunken sei, hätten sich fünf kleine Flammen leuchtend aus den Wellen gehoben.

Auf dem Hradschin wohnte eben Kaiser Franz. Er war das letztemal in Böhmen und gab an einem Sonntag Audienz. Die Menschen, die etwas zu erbitten hatten, strömten in den Empfangssaal, um ihre Wünsche vorzutragen. Wahrlich, es ist ein göttliches Glück, Kaiser zu sein. Hunderten konnte er an diesem Sonntagmorgen helfen, Hunderten konnte er eine verwelkte Hoffnung wieder auffrischen. Alle Gänge des Hradschin waren mit Bittstellern überfüllt. Karl X. hielt sich wegen der Anwesenheit des Kaisers nicht auf der Burg auf.

Ich besuchte auch den wunderlich schönen Dom, wo ein roter Küster mit zusammengeleimter Perücke schlechte Merkwürdigkeiten zeigte. Die Sonne brach draußen durch die Regenwolken und flog gleich in die Fenster über dem massiven Grab des heiligen Nepomuk und über das Grab Ottokars. Es ist mir unsicher im Gedächtnisse, als ob der Sarg von blankem Silber gewesen sei, aber ich kann nichts Positives darüber sagen, da mir Muhammeds Sarg nicht aus dem Gedächtnis ging, der in der Luft schweben soll, getragen von den Kräften eines unsichtbaren Magneten.

Der rote Küster schnupfte am Grabe. Eine schlechte Perücke und eine Schnupftabaksdose sind jeder Kirchenillusion tödlich. Beides sollte nicht geduldet werden. Die alten Fürsten des Reiches und der Kirche gingen im Notfalle mit völlig nackten Köpfen. Ich gedenke mit heiligem Schauer eines Bildes, auf dem dargestellt ist, wie Bernhard von Clairvaux Kaiser Konrad einen Kreuzzug predigt. Wenn Bernhard die Perücke und Schnupftabaksdose meines roten Küsters gehabt hätte, er würde keinen Kreuzzug zustande gebracht haben.

Das Innere der Kirche ist von einer wilden Schönheit. Der graue Tag und die bleichen Sonnenstrahlen mögen das ihrige dazu beitragen. Es entsteht der Eindruck einer böhmischen, recht großzügigen Pracht mit wilden, stolzen Motiven, nicht so sehr der einer weichen, künstlerischen Kultur.

Ottokar paßt in diese Auffassungsweise. Vielleicht liegt es daran, daß es mir einige Male so war, als sehe ich Ottokars Grab offen und ihn selbst hinter den Pfeilern rastlos umherschreiten, wild, halb in verschossenen vornehmen Samt gekleidet, halb in Eisen. Ottokar und Wallenstein waren die bedeutendsten Gestalten dieses Landes. Beiden blieb trotz genialer Anlagen und günstiger Verhältnisse der Erfolg versagt. Sie sind aber echte Vertreter ihres Landes.

Wallenstein vielleicht noch mehr als Ottokar. An dem fanatischesten Religionskriege nahm er mit dem kühlsten theologischen Indifferentismus teil. Er erlag, weil er keine Begeisterung mitbrachte und sich nicht mit zweiten Positionen begnügen wollte. Die ersten Stellen der Herrschaft sind immer nur großen Herzen offen, wenn es auch wilde und irrende wären. Der Kopf allein wird nur Minister. – Ein düsterer Palast ist in Prag nur noch übrig als Erinnerung an den großen Friedland. Auf den Schlössern im Lande begegnet man noch seinem Gedächtnisse, sonst ist der Name Waldstein verschwunden.

Ein Regenschauer lag über dem steinernen Tale, als wir auf den Berg heraustraten. Ich hatte mich so lange gefreut, das malerische, berühmte Prag zu sehen und fand es jetzt meist in schlechten Farben. Die Stadt dehnt sich an den Ufern des Flusses und an den Berghängen hin, tief unten erzählt schwarzgrau der Wischehrad von der alten, großartigen Slawenzeit. Inmitten der Moldau liegen zwei große Inseln, dort tummelt sich am Sonntag das Volk.

Ich wollte seine Vergnügungen kennenlernen und suchte am Abend einen Tanzsaal auf. Man stieg einige Stufen nieder in ein Kellerlokal. Es war ein spärlich beleuchtetes Gewölbe, in dem gezecht und getanzt wurde. Die Leute verhielten sich dumpf und sahen gar nicht heiter aus, nichts von der Wiener Lustigkeit oder der schlesischen Schwatzhaftigkeit war zu bemerken. Ich konnte mich eines merkwürdigen Eindruckes nicht ganz erwehren. Es sah so aus, als wollte sich eine Rittergesellschaft unter Schloßruinen für ihr gefahrvolles Leben entschädigen. Getanzt wurde im größten Gewölbe. Es ging wild, aber still hin und her. Schlanke Burschen sahen uns forschend von der Seite an mit ihren dunklen, schnellen Augen.
Die verschiedenen Ansichten über den Absolutismus nötigten mich, so rasch wie möglich das österreichische Staatsgebiet zu verlassen. Es war um die Zeit des Kongresses von Münchengrätz, und die Monarchen hielten sich eben in Theresienstadt auf, als ich vorüberfuhr.

Die Landschaft zeigt hier ein ungewöhnliches Gepräge. Überall tauchen schmale, blaue Spitzen auf. Meilenweit gruppieren sich hundert kleiner Türmchen, und mitten unter ihnen liegt in einem weiten Kessel Teplitz.

Wie hätte ich gerne hier eine Zeitlang geruht. Der Badeort erschien mir so glücklich neutral und fromm, ganz von Samt und Seide und voll Zufriedenheit. Aber es ging nicht. In einer kalten Mondesnacht fuhr mich der schläfrige Postillon über die Klumer und Nollendorfer Höhe. Sachsen empfing mich auf das angenehmste mit einer warmen Poststube in Pirna. Am nächsten Tage fuhr ich über Leipzig nach Berlin weiter.

Gott segne die Straße von Leipzig nach Berlin, sie hat es nötig. Ginge sie nicht durch Bitterfeld und bei Sanssouci vorüber, so brauchte man gar nicht aufzuwachen oder aufzustehen. Nichts stört den Reisenden auf dieser Tour. Bekanntlich kam Luther auch in Wittenberg auf die Kirchenreformierung. Wie oft war sie im Süden angeregt worden, aber die Schönheit der umgebenden Welt gestattete nirgends eine so entschlossene Resignation. In Wittenberg werden die Sinne durch nichts verführt, der Geist bleibt unverfälschter Geist.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier