Berliner Theater

Das Theater und die Schauspieler sind in Berlin das tägliche Gespräch. Ganz Deutschland bringt nicht so viel Rekruten zur Bühne wie Berlin. Alles urteilt über das Theater und alles bespricht die Aufführungen.

In Wien sind die Theater die Hauptsache, in Berlin das Theater. Über das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt ist man nun ziemlich beruhigt. Es hat allen Witzen standgehalten und wird langsam wetterdunkel und hart. Im ganzen ist es eine großartige Konstruktion Schinkels. Daß seine vielen Fensterlatten an ein Tropenhaus erinnern, stört allerdings. Der tunneldunkle Eingang, der Mangel einer lichten, lockenden Eintrittshalle mag zu tadeln sein, dafür entschädigt aber reich der grandiose Treppenaufgang und der edle, stolze Stil des Innenraumes. Auf dem Frontgiebel des Gebäudes fährt Apollo mit einem Gespann krummbeiniger und krummgeflügelter Drachen von dannen. Gott sei Dank hat das Berliner Publikum noch nicht enträtselt, daß es Chimären sind, die den pythischen Gott fahren. Die desfalligen Witze sind uns daher noch geschenkt. Apollos Wagen ist ein sinnig erdachtes Symbol für das Theaterhaus. Glückliche Zeit, da die Chimären einen Gott ziehen konnten.


An der anderen Seite des Schauspielhauses galoppiert ein Hippogryph ebenfalls vom Dache herunter. Das ist natürlich von der Witzhypochondrie ausgebeutet worden: „Vorn und hinten reißt die Kunst aus!“

Man hat Schinkel den Bramante Berlins genannt und hinzugesetzt, daß er den Italiener übertreffe. Sicherlich ist er bis jetzt der geschmackvollste Baumeister Berlins.

Das Glänzendste im Innern des Schauspielhauses ist der Konzertsaal, der in prächtiger Weiße schimmert und in dem aus vielen Nischen die Büsten von Künstlern in hellstes Licht schauen. Der Zuschauerraum ist sehr behaglich und ohne Prätention hübsch.

Die Berliner haben eine Art Tradition: daß nämlich alles über den Gendarmenmarkt gegangen sein müsse, was in der deutschen Schauspielerwelt Sitz und Stimme einnehmen wolle. Frühere Zeiten und die Leiter des Berliner Theaters, Fleck, Iffland, Devrient und Wolf, haben sie dazu verleitet. Aber diese Zeiten sind schon lange vorüber. Weder Devrient noch Wolf haben so organisch für die Bühne gewirkt, daß sie eine allgemeine Richtung, eine Schule geschaffen hätten, von der das Theater zu Berlin noch heute Ton und Farbe trüge. Es ist nichts mehr von ihnen zu sehen als ihre schönen Büsten im Konzertsaal. Das ist am meisten Wolfs wegen zu bedauern. Nicht daß er etwa ein größerer Schauspieler gewesen wäre als Devrient – o nein. Er war nur ein bedeutender Mensch neben diesem Titanen. Aber dies bedeutsam Menschliche ist es eben, was dem allgemeinen Tone des Berliner Schauspiels so wohl zustatten gekommen wäre. Dies bedeutsam Menschliche ist es eben, was dem Schauspiele jetzt so völlig abgeht. Das Theatralische, das Gemachte hat trotz dem Beispiele Wolfs alle in ihren Bann gezogen.

Devrient konnte und durfte nur sehr bedingt, nur anregend wirken. Er war ein Individuum, dessen Gesetze nur für die eigene Person Gültigkeit hatten. Er war wie ein strahlender Komet, dessen Verhältnis zum ganzen Sonnensystem der Schauspielkunst so schwer zu definieren ist, daß alle Bildung nach ihm sich schnell zur Karikatur verkehren mußte.

So ist es gekommen, daß das Berliner Schauspiel jahrelang ohne durchdringende Einwirkung eines bedeutenden künstlerischen Genies blieb. Es geriet in den Zustand einer verworrenen Mittelmäßigkeit und nimmt keineswegs mehr den ersten Rang in Deutschland ein. Das fällt um so stärker auf und betrübt eigentlich, als vielmehr nirgends mit solcher Freigebigkeit alle Mittel für die Kunst zur Verfügung gestellt werden wie hier. Es fehlt eine glückliche Hand, ohne die jede Kunst ein ärmliches Machwerk bleibt. Und wie es denn immer zu geschehen pflegt: das Gleiche gesellt sich zum Gleichen. Publikum, Dichter und Schauspieler finden in genauer Wahlverwandtschaft zueinander, und alles vereinigt sich zur Mittelmäßigkeit.

Man muß zugeben, daß sich in Berlin die mannigfachste Intelligenz findet, aber das Theater hat damit wenig zu schaffen. Das Theaterpublikum assimiliert sich immer den Schauspielern. Man darf deshalb gar nicht daran denken, die eigentlich geschmackvolle Schicht Berlins im Theater zu finden. Nein, das Interesse der geistig führenden Kreise ist nicht auf das Schauspiel gerichtet. Das Theater hat keine künstlerische, sondern eine gesellschaftliche Funktion. Man besucht gelegentlich das Theater, um einem leeren Teetisch zu entrinnen.

So bleibt ein ganz anderes stehendes Publikum, als man von einer Stadt wie Berlin erwarten sollte. Die Atmosphäre Berlins ist eine räsonierende, eine kritische. Die Berliner brauchen das Theater als ein allbekanntes Objekt des Besprechens: Ob der Herr Krüger brav wie gewöhnlich oder ungewöhnlich brav gespielt habe, ob Fräulein von Hagn angenehmer aufgefallen sei als vor soundso viel Jahren Fräulein Bauer. Es ist ihnen eigentlich nicht so sehr um den sogenannten Genuß zu tun – sie wollen nur dabei gewesen sein. Sie sind geborene Historiker, die alles mitgemacht und angesehen haben wollen, um ein gewichtiges Wort darüber reden zu dürfen. Es liegt in diesen Verhältnissen, die das Theaterpublikum bilden, einzelnes Liebenswürdiges, wie denn überhaupt die Berliner hinter einer manchmal verletzenden Schärfe viel Bravheit bewahren. Aber das genügt nicht, um ein Publikum zu erzeugen, das sich richtig und bedeutend benimmt und fördernd und bildend auf die Schauspieler einwirken könnte.

Und wie steht es mit den Dichtern? Raupach und Angely füllen meist das Repertoire. Keiner von ihnen ist geeignet, Schauspieler und Publikum zu erziehen. Nicht daß ich Angely unrecht tun will. Es ist zwar Journalistenstil geworden, ihn zu schmähen und als Sündenbock der deutschen Theaterdichter hinzustellen. Aber er hat manches zusammengestellt, was völlig wahr und vergnüglich genannt werden muß. Er macht im Grunde durch seine bloße Tätigkeit der Nachbildung keinen besonderen Anspruch, übt die Schauspieler in leichten Situationen und Reden und füllt ein sonst leeres und verlassenes Lustspielrepertoire. Aber er ist bloß ein Übersetzer und Nachbilder der Franzosen und nicht geschaffen, irgendwelche erzieherische Funktionen auszuüben, obwohl vielleicht seine ausländische Komödienkur den Schauspielern recht dienlich sein mag.

Raupach darf nicht einmal diesen kleinen Vorteil für sich buchen. Dieser entsetzlich fruchtbare Dichter, den seine guten Freunde den berlinerischen Shakespeare nennen, übt den nachteiligsten Einfluß auf die Schauspieler. Er besitzt ein ordinäres rhetorisches Talent, mit dem er seinen Leuten jene Traratiraden zuschneidet, bei denen sie die Beine spreizen, die Augen verdrehen und mit Hurra abgehen können. Der Mann ist leider mit seiner Fruchtbarkeit die Kartoffel der deutschen Theater geworden, das tägliche Gericht der Armut. Ich spreche hier nur von seinen Schau- und Trauerspielen. Seine Lustspiele sind meist grob, einseitig und farciert, aber ich glaube, es ist nicht selten ein ganz geschickter dialektischer Geist in ihnen, und wenn auch die Komik darin wie sonst das Pathos von ihm übertrieben wird, so hat es hierbei weniger auf sich. Ein gewisses vehementes, forciertes Wesen liegt ja in der Komik der Berliner im Gegensatz zu der sanfteren, kindlicheren Spaßhaftigkeit der Wiener. Ihr Kern ist vielleicht jene altkluge Kritik, die den echten Berliner überhaupt charakterisiert. Und das harmoniert im Grunde mit dem Raupachschen altklugen, dialektisierenden Wesen, dem aller jugendliche unbefangene Genius, dem die Poesie abgeht.

Raupach führt gewiß die Berliner Schauspieler immer weiter ab von einem einfachen und natürlichen Spiel. Seine Stücke wimmeln von den breiten, alltäglichen Schauspielredensarten, sogenannten Sentenzen und Abgängen. Sie enthalten so wenig Notwendigkeit in Verhältnissen und Folgen, daß sich die deklamierenden Schauspieler los und ledig aller Bande fühlen und ins Publikum hineinwirtschaften und lärmen. Hohl und äußerlich reiht Raupach Situationen aneinander, wie sie ihm am gelegensten in Raumers „Hohenstaufen“ in die Hände fallen. Alle Verhältnisse und Begebenheiten seiner historischen Stücke könnten ebensogut ganz anders sein, es würde eben auch solch ein Hohenstaufe darin herumschreiten wie sein Barbarossa oder sein Friedrich II. Die Weiber sind alle überflüssig. Sie müssen nur immer mitspielen, damit Madame Crelinger eine Rolle bekommt. Ist es irgendwie möglich, so muß die Heldin auch wahnsinnig werden, denn Madame Crelinger spielt den Wahnsinn sehr gut, oder mit anderen Worten: jede Wahnsinnige auf der Bühne wird beklatscht. Eine solche Person, die aus allen Kreisen des Gewöhnlichen herausschreitet, entweicht somit auch dem Vorstellungsgange des Publikums, und was nicht aufgefaßt wird, gilt als außerordentlich. Es waltet eine so leere Äußerlichkeit, ein solcher Mangel innerlichen, tiefen Verarbeitens in Raupachs Dramen, es gleichen die Figuren so sehr den bloßen Puppen, daß mir immer vorgekommen ist, als halte Herr Raupach die Personen an Drahtfäden in der Hand und spreche alle Rollen mit wechselnder Stimme selbst. Es ist mir oft ganz unheimlich zumute geworden, wenn ich ihn auf dem Eckplatz der dritten Parkettbank sitzen sah mit seinem öden Gespenstergesichte. Hinter der schwarzen Hornbrille entdeckte man kaum die Augen. Die Schnupftabaksdose und den Stock hält er fortwährend vor sich, als leiteten sie alle Verbindungen unter dem Parkett hindurch von der Bühne in seine Hand. Er stopfte Tabak in die geräumige Nase, in jeder Szene drei- oder viermal, als probierte man da oben ein neu erfundenes Kartenspiel von ihm. Friedrich der Große hat bei einer langen, schweren Schlacht nicht so viel Spaniol gebraucht wie Raupach für einen Hohenstaufenabend, und der prosaische Alte Dessauer hat bei Abhaltung der Wachparade gewiß poetischer dreingesehen als Raupach bei Vorführung seiner dramatischen Erzeugnisse. Wenn man es aber den Stücken nicht anmerkte, verriete es Raupach selber, daß er das sogenannte Dichten gleichsam als Geschäft betreibe. Gelegentlich wird er uns mit einer Aufstellung beschenken, wieviel Personen, wieviel Land und wieviel Leidenschaftsquantitäten nötig seien, um ein Stück mit soundsoviel Akten und Abgängen zusammenzusetzen.

Wir haben es aber hier nur mit der Wirkung dieses Schriftstellers auf die Schauspieler zu tun, sein größeres oder geringeres sonstiges Verdienst kann also nur auf diese Weise angedeutet werden. Und sein Einfluß auf die Berliner Schauspieler, für die er ungefähr alle acht Tage ein neues Stück schreibt, ist außerordentlich nachteilig. Meist neigt man ohnehin hier zu der pathetischen, deklamierenden Richtung, nun kommen die Raupachschen Stücke mit den Phrasen, die in die Luft gesprochen werden, mit Interessen, die sich nur an das Parterre wenden, ohne Bezug auf die innere Konstruktion des Stückes. Es kommen diese Dramen, die nur durch den stolzen, herausfordernden Klang großer Worte eine Wesenheit gewinnen wollen, mit ihrem rauschgoldenen Flitterkram – wie könnten sie auf Schauspieler einwirken, die ohnedies in der bloßen Erscheinung des Wortes und der Gestalt das Eigentümliche der Schauspielkunst suchen?

Es wäre töricht, der Intendanz des Theaters alle Inkonvenienzen aufzubürden, die zum Teil historisch bedingt sind. Von Berlin ist hier zufällig die Rede, der größte Teil aller übrigen deutschen Schauspiele ist mitgemeint.

Der Mittelpunkt des Berliner Lustspiels ist Fräulein von Hagn. Sie ist voll modernen Reizes, voll Grazie und pikantem Zauber. Hätte Herr Crüsemann ein besseres Organ und die Bühne einen sogenannten Liebhaber, wie sie an Crüsemann einen gewandten Bonvivant besitzt, so könnte sich hier ein sehr munteres, graziöses Lustspiel entwickeln. Herr Rott und Herr Lemm spielen sehr charakteristisch, die meisten übrigen Schauspieler vergessen ihren tragischen Deklamierschlendrian, der Humor Rüthlings und Schneiders erfreut oft sehr angenehm, wenn sich diese Herren dem allgemeinen Fehler des Übertreibens und Starkauftragens nicht hingeben. Hier erscheint Madame Crelinger vollkommen würdig ihres ausgezeichneten Rufes.

Diese Dame ist der glänzendste Ausdruck der Deklamierschule des Effektspiels, und es ist wohl erklärlich, wie sie mit ihren wunderbar schönen Mitteln berauschen kann, sobald ihre hochgesprochenen Worte wirklich hohe Worte, hohe, ideale Poesie sind. Sie folgt der französischen Manier, wie man sie in Paris von einer Phädra oder Athalie erwartet. Es geht ihr nur für diese rhythmisch auf- und absteigende Form die geniale Abwechslung und Überraschung der besten Franzosen ab. Sie ist aber zu sehr eine Deutsche, als daß sie das extravagant Unnatürliche dieser Richtung angenommen hätte.

Die Gräfin Orsina in Lessings „Emilia Galotti“ ist eine ihrer berühmtesten Rollen. Sie nötigte aber die klare, besonnene Prosa Lessings, der vielleicht nichts als musikalischer Fall zur vollkommenen Schönheit fehlt, zu wogendem Rhythmus und gab die Orsina mit dem prunkenden Tone und zurückgeworfenen Nacken einer Medea. Nur wo diese Manier der reichbegabten Frau nicht beikommen kann, nur im Lustspiele entwickelt sich alle ihre Anmut und siegreiche Schönheit.

Es wäre nun noch eine, vielleicht die wichtigste Dame des Berliner Schauspiels zu erwähnen, Frau Wolf. Ich habe sie leider nicht spielen sehen und weiß nicht, ob sie krank, tot oder vergessen war. Als sie in Wien auftrat, bewies sie in allen Stücken, daß sie eine vollkommene Meisterin jener einfachen und prunklosen Darstellung sei, die an der Burg herrscht und deren wichtigster Repräsentant heute Herr Seydelmann ist.

Seydelmann deklamiert nicht, rezitiert nicht – er spricht. Er bringt das Wort selbst und den einfachen Gedanken wieder zu Ehren. Das Atomistische, Unklare und Durcheinandergeworfene im Vortrag unserer meisten Schauspieler faßt er zusammen. Er ordnet seine Sätze, seine Worte treten einfach, aber gebietend auf und erzwingen Aufmerksamkeit. Seydelmanns Rolle mag noch so unbedeutend sein, man sieht in ihm immer den Mittelpunkt des Stückes, weil er jedes geistige Element in seinen Worten zu versammeln weiß. Er hat das Wort, den Gedanken und die Darstellung einer abgeschlossenen künstlerischen Figur auf der Bühne emanzipiert. Nur Wolf macht ihm scheinbar das Prioritätsrecht streitig. Aber nur scheinbar. Wolfs Wesenheit war ebenfalls Wort und Gedanke, aber in anderer Richtung, zu einem anderen Zwecke. Er gehörte eben auch zur rhetorischen Richtung unserer Schauspieler, und sie war nur in ihm zur größten Freiheit und Grazie ausgebildet. Er hatte die widerstrebenden Elemente seiner Persönlichkeit gezwungen, aber eben nur in die eine Richtung des Schönsprechens gezwungen. Nicht diese zunächst liegende Schönheit des Wortes macht Seydelmanns Wesen aus. Er erstrebt nicht dieses näherliegende Ziel, sondern die Schönheit des Ganzen. Er will die fertige, abgerundete Kunstfigur einer dramatischen Person darstellen. Darum ist er im einzelnen mehr charakteristisch als schön, darum ist er bei aller scheinbaren Prosa, die für einen Unkundigen in diesem Mangel an Bemühung festzustellen wäre, viel poetischer als alle Schönredner.

Am deutlichsten entfaltet sich Seydelmanns Können in der Rolle des Carlos in Goethes „Clavigo“. Es ist sehr bezeichnend, daß Seydelmann diese Rolle gewöhnlich als erste seiner Gastspiele wählt. Sie entwickelt in ihrer Kleinheit, in ihren engen Grenzen alle Kräfte, die ihm zu Gebote stehen. Carlos, ein routinierter Hofmann, ist fein gekleidet, und es ist ihm doch alles bequem. Er ist zu Hause in den vornehmen Kleidern, nirgends fühlt man etwas Geckenhaftes. Seine Rede ist leicht hingeworfen, aber auch in halben Tönen äußert sich Schärfe. Das klare Scheiden der kleinen Worte und Begriffe, das Ordnen der unbedeutenden Dinge zu einer ganzen großen Vorstellung charakterisieren Carlos wie Seydelmann.

Jeder fühlte die ungewöhnliche Erscheinung eines ganzen echten Menschen da oben hinter den Lampen, die Manifestation eines starken menschlichen Geistes. Ich habe es gesehen und gehört, daß ein Publikum nach acht Worten in allgemeinen rauschenden Beifall ausbrach. Und dieses Publikum sah Seydelmann zum ersten Male.

Es wäre zu wünschen, daß man sich der häufigen Vergleichung Seydelmanns mit Devrient ganz enthielte. Was dem einen fehlt, besitzt der andere. Devrient war der Held aller Leidenschaft, er riß mit Titanenkraft alles Geniale, Ungewöhnliche und Übermenschliche erschreckend vor unsere Augen, mitten unter uns hinein. Seydelmann besitzt nichts von diesen außerordentlichen genialen Kräften. Was ihm aber an Glanz und Schimmer abgeht, ersetzt er durch künstlerisches Maß und die Vollendung seiner Gestaltung; wenn man ein übertreibendes Gleichnis gebrauchen will, so verhält er sich zu Devrient wie Goethe zu Shakespeare. Wenn man aber diese an sich unstatthafte Vergleichsweise benutzen will, um seine theatralische Erscheinung zu charakterisieren, so könnte man sie vielleicht am besten neben die literarische Leistung Lessings stellen. Die Bekämpfung des Schwulstes, der Übertreibung, das Streben nach Einfachheit, Klarheit und Schönheit in Worten und Gedanken findet sich hier wie dort. Und auch darin gleichen sie sich vielleicht, daß es fraglich ist, ob ihre Kräfte für die höchsten Höhen der Poesie ausreichen.

Es ist zu vermuten, daß Seydelmanns Einfluß auf die Berliner Bühne ein sehr günstiger ist. Man darf allerdings nicht hoffen, daß er selbst für sie gewonnen werden könnte. Er ist lebenslänglich und auf das vorteilhafteste in Stuttgart engagiert, lebt dort in dem angemessensten und bedeutendsten Kreise und wird auch hier in seinem ganzen Umfang gewürdigt. Schon bei einem lockenden Wiener Engagement bewies man ihm in Stuttgart durch Wort und Tat, welchen Wert man ihm zumaß. Man kann das bedauern, da Berlin allerdings ein umfangreicheres Terrain für seine Wirksamkeit wäre und die kunstfreundliche Verwaltung hier gewiß keine Opfer scheuen würde, ihn zu gewinnen und seine Tätigkeit so einflußreich wie möglich zu machen.

Es war ein heißer Tag in Berlin, und der ist in Berlin doppelt heiß. Die großen, vornehmen Häuser der Friedrichstadt sehen dann öde und durstig aus wie die armen vornehmen Leute, die einsam in ihren Palästen sitzen müssen und niemand Ebenbürtigen haben, mit dem sie sich unterhalten könnten. Ich stieg langsam wie ein Wüstenreisender über die Schloßbrücke. Auf dem Zeughause, dem Palais und den Linden lag ein dicker Sonnennebel. Ich wagte gar nicht aufzublicken. Ein schildwachstehender Soldat, an dem ich vorbeischritt, hatte sich auf Gnade und Ungnade der Sonne ergeben, sein Gesicht flehte stillschwitzend um Pardon.

Mein Weg ging nach einer hinteren Türe des Opernhauses durch dürren, trostlosen Bauschutt. Man baut in der Nähe einen neuen Palast; es kostet viel Ungemach, ehe ein Mensch und ein Haus groß und schön werden. – Es war nicht mehr weit bis zu jener kleinen Tür, die ich durchschreiten mußte, wollte ich in dem dunklen Hause eine Probe von Spontinis „Olympia“ ansehen und anhören. Olympia soll nach der Ansicht Spontinis eine Tochter Alexanders gewesen sein. Irgend etwas erinnerte mich an die Anekdote, die erzählt, wie Alexander mit seinen Kriegern durch die Wüste gezogen sei und ihm ein Soldat einen Helm voll Wasser gebracht habe. Alexander aber habe den Helm mit Wasser umgestürzt, da er nichts vor seinen Kameraden voraushaben wollte. Ich fühlte es, daß ich kein Alexander sei, obwohl ich nur durch Berlin und nicht durch die ganze Wüste steuerte. Hätte mir ein Preuße einen Trunk geboten, ich hätte keine Umstände gemacht.

Im Opernhaus war es kühl; es roch etwas nach ordinärem Lampenöl. Ich stolperte über einige Stangen, die später zu Alexanders Triumphzug nötig waren, ich hörte jenen prosaischen Spektakel, der nun einmal zu einer Opernprobe gehört. Alle Augenblicke beginnen nämlich mit großem Lärmen Musikstücke, man wird in irgendeine Illusion hineingezaubert und plötzlich klappert es – der Kapellmeister unterbricht den Schwung. Irgend etwas war falsch; einzelne Instrumente faseln noch ohne Zusammenhang weiter, und vom Orchester nach der Szene und umgekehrt beginnt ein didaktisches Hinundherreden.

Ich gelangte an eine halbe Kompanie preußischen Linienmilitärs, die in leinenen Hosen und blauen Jacken mit rotem Kragen alte Veteranen Alexanders darstellten. Sie hatten eben eine Pause und redeten zur Abwechslung und Erholung statt des harten dorischen Dialektes den weichen berlinerischen. Über einige kleine Treppen, durch mehrere Türen drang ich endlich bis ins Parterre vor. Da es nicht erleuchtet war, konnte ich in der ersten Viertelstunde nichts unterscheiden. Aber ich hörte ein Kichern, Wispern, Lachen, leises Schwatzen und Flüstern, als ob das ganze Parterre bevölkert sei. Mitunter schien es mir auch, als wolle jemand leise um Hilfe rufen, aber es geschah doch eigentlich nicht, und so wurde dieses geheimnisvolle Geräusch immer mysteriöser.

Aus diesem Tumulte unbestimmter Dinge flüchteten meine Augen nach der halb erleuchteten Bühne. Dort lag im Hintergrunde eine prachtvolle asiatische Stadt. Kleine Menschen in europäischen Nankinghosen und modernen Überröcken bewegten sich nach vorne, schrien ein wenig und warfen die Arme nach links und nach rechts. Einige Damen saßen an der Seite und speisten Eis. – „Kassander, Kassander, Monsieur Bader, kommen Sie her an diese Seit, und mag sie kommen, das Mensch, die junge Dame, von die andre Seit“, das waren die ersten Worte, die ich von Spontini hörte. Er hob den Taktstock und das Haus geriet in eine unglaubliche Leidenschaft. Alles bewegte sich, ein junges heißes Mädchen nach dem andern drängte sich an mir vorüber. Wie Schuppen fiel es mir allmählich von den Augen. Das Parterre war angefüllt von jungen Dämchen, die sich der edlen Tanzkunst befleißigten.

Wenn das Orchester ein Ballettstück begann, schwirrten sie zum Teil wie ein Schwarm Frühlingsvögel hinauf zu Kassander. War der störende Lärm vorbei, kamen sie wieder herab. Gleichgestimmte Seelen, affektvolle Referendare, kampfbegierige Söhne des Mars empfingen sie mit asiatischen Zeremonien und unzweideutigen Komplimenten. Mir gingen die Augen auf wie Noah, als er zum ersten Male bemerkte, daß er den Wein erfunden habe. Neben mir saß eine blonde Dianenjungfrau mit einem Auge voll heißer Mondesstrahlen, ein blöder junger Mann, dem Anscheine nach ein beginnender Student, machte ihr mit zarten mythologischen Redensarten den Hof. Dianens Jungfrau lächelte spöttisch, als wolle sie sagen, die Mythologie genüge heutzutage nicht mehr. Vor mir saß eine volle Zilizierin von der Spandauer Straße. Links von ihr der alte Liebhaber, der vor acht Tagen neu gewesen war, rechts der neue. Aber da war nichts von Eifersucht zu sehen, wie denn eine solche bei klassischen Leuten nicht gefunden wird, die sich in das unvermeidliche Fatum fügen. Der alte Liebhaber richtete seine liebkosenden Worte so gut, daß meine Nachbarin, die Dianen-Jungfrau, darüber nicht im Zweifel blieb. Der eigentlich Betrogene war nur der romantische Student, der trotz seiner philologischen Studien die klassische Zeit Alexanders nicht begriff. Vielleicht hat Goethe jene Stellen im „Faust“, da das küssende Mädchen „mit Äugeln schon dem Nachbar sich verbindet“, in einer Opern- oder Ballettprobe geschrieben. Es ist hier nicht der Ort, jenes olympische Dunkel im Parterre des Opernhauses gänzlich zu enthüllen. Auch setzte sich der gefällige Rezensent der Staatszeitung neben mich und begann mir die Olympia zu erklären. Ich sah und hörte aber nur auf Spontini. Er dirigiert mit einem religiösen Eifer, der alles in Bewegung setzt. Man wirft ihm vor, daß er nur sich selbst aufführe. Aber Eitelkeit ist der notwendige Fehler aller großen Leute, namentlich derer, die die Welt mit Worten oder Tönen erobern wollen. Ein Künstler, der nicht eitel ist, gleicht einem Weibe, das nicht gefallen will. Beide sind langweilig. Die Eitelkeit hat ein Hauptverdienst um die Weltgeschichte.

Spontinis Opern sind eine wichtige Merkwürdigkeit Berlins. Ja, sie sind ein kunsthistorisches Moment unserer Kultur. Es gibt nicht leicht so viel Glanz und Zusammenwirken mannigfacher Kunstäußerungen an einem anderen Orte wie an der Spontinischen Oper in Berlin. Nur spirituelle blasse Christen verstehen das Ballett nicht und schmähen seine Schönheit. Es ist eine glänzende Erinnerung an die verlorengegangenen Zeiten unserer schönen bloßen Körper. Nur rigoristische Dramatiker haben hie und da mit Recht die Ausdehnung der Bewegung auf Kosten des Wortes und der Musik zu tadeln. Ich verlebte zwei wunderliche Abende in der Oper, und der heftig dirigierende Italiener wird mir ewig unvergessen bleiben. Alles flog in Massen und Tönen an mir vorüber, das Opernhaus wimmelte von Köpfen. Wenn Madame Schröder-Devrient, Alexanders Weib, Arme und Stimme erhob, da klatschten und schrien die Leute. Aber die bedeutendsten Personen traten eigentlich vor dem Werk zurück und gingen in ihm unter.

Über allem zerknitternden Flitter treiben rauscht und wogt eine lebendige Opernmusik. Die Tänzerinnen in ihren kurzen, aufgebauschten Röcken drehen sich und ihr stehendes Lächeln im Kreise umher. – Die große Oper ist sehr geschickt für die vornehme Welt erfunden. Sie ist nicht da, um bestimmte, gesonderte Eindrücke, den gesammelten Nachdruck einer Situation oder eines Charakters hervorzubringen, sie soll nichts sein als ein großer, bewegter Hintergrund, eine Anregung, sich eine beliebige phantastische Welt neben unserer begrenzten, abgezirkelten auszumalen. Die Fülle, der überraschende Glanz, der mannigfache Reiz flüchtet sich hierher und läßt die fleißigen, mit Geschäften und Plänen überlasteten Leute ausspannen. Man darf sich nicht wundern, daß geistreiche und bedeutende Leute öfter in der großen Oper als im Schauspiel zu finden sind, während die gelernt-dogmatischen oder nachsprechenden Kritiker ihr gerechtes Ärgernis an ihr nehmen. Was findet der Staatsmann, der Denker, der Dichter bequemer? Die bunte Farbenwelt einer wechselnden Oper oder das dürre Gerüst eines Dramas? Erst wenn ein Drama erfunden wäre, das den schönen Kern des Lebens gefällig darlegte und damit zu einem höheren Leben reizte, dürfte die große Welt gebeten werden, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Sonst aber lasset ihr den Glanz und die bunte Fernsicht der Oper und des Balletts. Sie sind die heitere Verspottung der Konvenienz, der engen Regel und Polizeiordnung. Man sieht, man hört, man träumt, man läßt seine Sinne spielen, vergißt, ist in Anspruch genommen und doch nicht müßig. Ich glaube, es ist der Augenblick gekommen, die Wirkungskreise der Oper und des Schauspiels genauer zu bestimmen. Der Oper haben wir alles Gewaltige, Große, Glänzende unserer Stücke zuzuweisen, dem Schauspiel alle feinen Abschattungen der Gedanken und der kleineren Verhältnisse zu erhalten, die in der Oper verlorengingen. Eine gesungene Raserei wirkt mehr als eine gesprochene, einer gesungenen Besonnenheit wird man das Abgeschmackte ansehen. Die Leidenschaft, das Gewaltigste, das ein Mensch erleben kann, wirkt übertrieben, wenn sie uns bloß in Worten vorgestellt wird. Sie findet ihre Schönheit in der begleitenden Musik. Denn die ist von Haus aus der Form und dem Gesetze so stark unterworfen, daß sie nirgends ungeregelt erscheinen kann. Ihr Wesen bewahrt sie jederzeit vor der Plattheit und dem Rohen. Die Deklamation findet ein tönendes, blühendes Grab in der Oper, das Heldentum der Affekte seinen schönen Kulminationspunkt in der hinzutretenden Hilfsmacht der Musik. Vielleicht werden unsere guten Dichter künftig Operngedichte – nicht -texte – schreiben. Es wird zu einer Reform wie in der Kriegskunst kommen, seit man das Schießgewehr erfand. Das ist eine Perspektive, die unsere Theaterkritik völlig unbeachtet gelassen hat.

Wer neue Erscheinungen nach alten Gründen beurteilt, hat immer unrecht. Er taxiert die Reize eines jungen Mädchens nach seinen alten stumpfen Sinnen. Wer unsere Theaterverhältnisse durch die Rückführung in die Vergangenheit heilen will, verfällt in denselben Fehler. Jeder kommende Tag ist neu, keiner ist je so gewesen, wie er ist. Jede große Umwandlung in den Ansichten und in den Tätigkeiten der Welt bedroht die bestehende Bildung insofern, als es zeitweise so aussieht, als könne die erworbene Zivilisation plötzlich verlorengehen. Ich halte diese Furcht für unnötig. Ich glaube, die Kultur geht nie verloren. Sie ist der göttliche Gedanke der Welt, der ständig fortschreiten muß, um sich zu erfüllen.

Nur aus völligem Mißverstehen können die alten fallenden Männer einer Kultur die junge Generation der Barbarei anklagen, wenn sie ihre Fußstapfen verläßt. Es geschieht dies niemals aus Mutwillen oder Zeitvertreib; im Gegenteil, Nacheiferung und Pietät für die Größen der Nation sind der Jugend natürlich. Die ewige Jugend, die in allen wichtigen Krisen der Kulturgeschichte neue Wege und neue Manifestationen des menschlichen Geistes sucht, sollte gepriesen werden. Sie stürzt sich immer in einen Kampf, der unter Umständen ein ganzes Leben geringgeschätzt und verfolgt machen kann.

Aber es wird wohl noch lange so gehen, daß man die Erneuerung des Zeitgeistes für den Modetand einer müßigen Jugend hält. Statt zu denken, schmäht man, wenn wir darauf hinweisen, daß auch das Theater altmodisch geblieben sei. Man schiebt es auf die Schauspieler und auf sonstige Zufälligkeiten, wenn das Theater der Generation, die uns voranging, heute nicht mehr gefällt. Wenn wir uns änderten, müssen wir da nicht auch unser Theater ändern?

Wenn sich aber unsere Dichtung nicht beugt und zu einer angemessenen dramatischen Form durchkämpft, vielleicht auch, wenn unsere Schauspieler nicht natürlicher und wahrer werden, so weiß ich nicht, was das Schauspiel von dem völligen Untergange, von dem gänzlichen Siege der Oper retten soll.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier