Berlin

Ich hatte die große Stadt seit dem kalten Winter im Jahre 1823 nicht gesehen, da mich, den Tertianer, das Interesse an Herrn Mattausch und Fräulein Eunicke, weiland Theaterheroen, zu einer Fußwanderung bewegte. Ich war überwältigt von dem stattlichen Eindrucke, den Berlin nun gewährte. Damals, da ich wie die große Armee im Jahre 1812 mein Dasein aufs Spiel setzte, um Berlin zu sehen, wie jene Moskau sehen wollte, da man zu Hause den Tertianer erfroren glaubte, gab es noch keine Museen und kein Königstädter Theater. Jetzt empfing mich, als ich am Morgen den Kopf aus dem „Hôtel de Russie“ steckte, der schäumende Wassersprung einer Fontäne und der Anblick des Museums und anderer stolzer Gebäude. Ich mußte mich zuerst besinnen, ob das dasselbe Berlin sei, das ich als Knabe gesehen hatte.

Die Linden sind eine der schönsten Straßen Europas. Die Cannebière in Marseille ist länger und wohl ebenso breit, aber es fehlen ihr die stattlichen Häuser zu beiden Seiten. Nur die Pariser Boulevards wirken interessanter. Vielleicht beeindruckt die große Petersburger Straße noch stärker durch ihre vielen Paläste. Aber sie hat bestimmt nicht den Reiz der Linden.


Kommt man am Abend von der Charlottenburger Chaussee nach Berlin, so merkt man, in welch tadellose, vornehme, grandiose Stadt man einfährt. Die Bäume des Tiergartens, durch den die Chaussee führt, duften und flüstern, das Brandenburger Tor grüßt mit seinen fünf hohen Passagen. Weit hinauf zwischen den Öffnungen sieht man innen die Straßen der breiten Stadt mit ihren Hunderten Gaslichtern. Der Pariser Platz empfängt einen, vorwärts in einer sehr breiten Straße zieht sich ein hoher vierfacher Lindenkranz hinauf. Nach rückwärts verliert sich die weiße Heerstraße im dunklen Wald.

In der Mitte der Linden liegt der Spazierweg. Dicht daran auf jeder Seite folgt der dunkel beschattete Reitweg, an den sich nach außen die bepflasterten Fahrstraßen anschließen. An den Häusern endlich ziehen sich die Bürgersteige entlang. So zeigen sich dem Auge sieben Ströme, deren jeder seine eigene Menschenwelle führt. Das Gaslicht schimmert, der Mond strahlt durch die Baumkronen, man hört das Murmeln des Menschengewühls und das Rasseln der Wagen. Still und vornehm schauen die stattlichen Häuser auf das Leben zu ihren Füßen.

Drei Hauptstraßen durchschneiden die Linden: die schweigend, breite und ruhige Wilhelmstraße, in der Palast an Palast steht, die geräuschvolle Friedrichstraße, die in langer Strecke schnurgerade durch die Friedrichstadt läuft und ein dichtes Fußgängergewühl unter die Linden gießt, endlich die Charlottenstraße.

Wo die Linden aufhören, beginnt der Opernplatz, vielleicht einer der schönsten der Welt. Weit oben im Hintergrund schließt ihn die hohe, breite Schloßfassade ab, tief unten über den Zweigen der Lindenbäume sieht man noch das Brandenburger Tor und die Viktoria. Neben uns das neue Palais des Prinzen Wilhelm, von dessen Firsten Adler in die Luft streben, und das alte Prinz-Ferdinand-Palais, die jetzige Universität. Anschließend das Opernhaus mit seinem dunklen Säulenportal, die Bronzegestalt Blüchers, das kleine Palais, in dem der König wohnt, das Zeughaus mit seinen weißgrauen Kriegswappen, die neue Hauptwache, vor ihr die schneeweißen Bildsäulen Blüchers und Scharnhorsts von Rauch, dahinter ein dunkles Wäldchen, aus dem die Singakademie, der Sitz Zelters, hervorblickt.

Das alles übersieht man mit einer Wendung. Schreitet man nun weiter dem Schloß entgegen, so steht man bald auf der breiten Schloßbrücke, über die fünf Wagen nebeneinander fahren können, ohne die Fußgänger zu stören. Vor uns liegt ein breiter Platz am Schlosse, der Lustgarten. Das goldene Kreuz des Domes flimmert, die Wasser des Springbrunnens rauschen in der Luft, das Museum mit seiner gebieterischen Säulenhalle und den springenden Rossen an seinen Ecken tritt stolz wie eine Erinnerung Griechenlands vor das entzückte Auge. Die steinernen Kais des Flusses, weithin mit leuchtenden Gebäuden besetzt, winken herauf.

Laßt uns hier zur späteren Stunde der Nacht vorbeieilen, wenn der Menschenlärm schweigt und das Getriebe sich in den Häusern verliert. Die Lichter verlöschen, aber im Mondesschimmer plätschert die hohe Fontäne fort und belebt mit ihrem eintönig frischen Geräusch die Stille. Wir wollen uns an die hohe Treppe des Museums setzen und der Träume nicht wehren.

Wenn die deutschen Schriftsteller über Berlin schreiben, so sprechen sie von den Eckenstehern und von Wien und schimpfen auf den Berliner Witz. Dabei wissen sie ihn nicht einmal einzuordnen, weil er weder klassisch noch romantisch sei. Mit Wien und Berlin geht es wie mit Schiller und Goethe: statt daß wir uns nach Goethes Ausdruck freuen sollten, „zwei solche Kerle“ zu haben, vergleichen wir sie und streiten uns darüber, was vorzüglicher und was geringer sei. Und über die Eckensteher, die Glaßbrenner für die Literatur erfunden hat, lacht man, wenn einem der Akzent verständlich ist, vergißt aber nicht, sich wegen des Lachens zu entschuldigen. Jeder Hansnarr, der alles für Gemüt hält, was langweilig ist, spricht ein Wort von der Gemütlichkeit und bedauert, daß der Berliner Witz kein Gemüt habe.

Daß man so viel Animosität gegen das Berlinische findet, davon liegt der Grund in ganz anderen Dingen. Der Witz, den man tadelt, ist nur ein Symptom, an das man sich zunächst hält. Die Dornen des Busches schlägt man, aber der ganze Busch mit Keim und Wurzel ist gemeint. Berlin ist ein Machtgedanke, der seit Friedrich dem Großen den Nachbarländern unklar zum Bewußtsein kam. Dieser Gedanke einer jungen Herrschaft voll historischer Energie wird gefürchtet und befehdet wie jede neue Macht. Das klare, norddeutsche, preußische, entschlossene Element wird gemeint und das bißchen Witz wird seinetwillen gescholten. Preußen hat einen breiten und kantigen Buckel, der es verträgt, geschlagen zu werden. Man sollte dieses energische Wesen des Nordens nicht leugnen, das konzentriert und beleidigend sich im Berliner ausprägt. Man sollte eine Opposition dagegen ganz natürlich finden, Rom hat den Samnitern und Volskern die Meinung nie streitig gemacht, daß es übermäßig sei; es hat sich abgefunden, unhöflich und herrschsüchtig genannt zu werden. Jede neue staatliche Macht beleidigt. Ihre bloße Existenz ist für die Nachbarn schon eine Beleidigung. Wer sich in der Geschichte darum kümmern wollte, der würde ein höflicher Mann, ein guter Gesellschafter, aber sonst nichts.

Karl der Große war für die Römer ein barbarischer Parvenü, den sie zu Hause verspotteten, dem sie auf der Straße aber das Knie beugten. Napoleon war für seine Zeitgenossen ein Emporkömmling, für die Geschichte aber ist er ein Halbgott. Wenn Berlin seit hundert Jahren seine Statthalter zu Kopenhagen, zu Amsterdam, zu Genf und zu Dresden sitzen hätte, so würde man seine Witze vortrefflich finden.

Man täuscht sich sehr, wenn man hinter den Witzen und Übermütigkeiten, hinter dem aufgeblasenen Plunder und den Wortgefechten der Berliner nichts als leeren Dünkel und Hochmut sehen will. Es wird daran diesem auch nicht fehlen, aber es fehlt auch nicht an dem klaren oder unklaren Bewußtsein, das Herz eines mutigen Staates zu sein.

Man vermißt in Berlin mit Recht und gutem Grunde die vollsaftige, gemütliche Menschenart Süddeutschlands, die Gesellschaft, wo der Mensch nicht mehr sein will als eben er selbst, wo man nicht gemacht zu sein braucht oder geistreich oder von wichtiger Stellung, um gerne gesehen zu werden. Allerdings begegnet man hier oft jenem weißblütigen Elemente, das man bloß Verstand, Geist oder gar Raffinement nennt und das eigentlich unschöpferisch ist. Es ist aber fast immer so in der Welt gegangen: der energische Verstand, dem man die Zeugungskraft abspricht, hat in politischen Dingen stets die Führerrolle an sich gerissen, soviel auch die Professoren dagegen sagen mögen. Die Römer waren die energischen Verstandesmenschen, die Griechen waren nur sehr kurze Zeit eine politische Macht.

Dergleichen sei eine Tröstung, wenn der eigentlich unschöpferische, aber schneidende, dreiste und absprechende Berliner lästig wird. Ein Bajonett des schnellsten, willkürlichsten Urteils geht durch alle Berliner, und in gewisser Art sind sie eigentlich auch alle Soldaten. Sie greifen alles an. Hinter den Witzen der Berliner steckt meistens ein starker Charakter, sie haben keine fahrige, aphoristische Natur. Mitunter ruhen sie auf dem scharmantesten humoristischen Aplomb.

Es ist sicher nicht zu leugnen, daß bei der Anlage Berlins zu einer neuen welthistorischen Hauptstadt ein Fleck Landes ausgesucht wurde, der durch keine abgelebte Zivilisation bereits vorgeformt war. Es ist erstens gar keine Gegend bei Berlin, zweitens kein Ackerland und drittens kein Vergnügen. Der Tiergarten kann nicht auf die Rechnung der Natur gesetzt werden. Er ist noch jung, noch im frühesten Frühlingsalter, kein Schöpfer, sondern eine Schöpfung Berlins, bereits ein Denkmal der Bildung.

Merkwürdigerweise ist über Gründung und Ursprung Berlins gar nichts Sicheres zu sagen. Man weiß über Athen und Palmyra mehr. Man kann also mit Bequemlichkeit eine Mythe erfinden, daß der erste Berliner von einer Bärin gesäugt, von Adlern gespeist und von wilden Männern erzogen worden sei. Damit wäre Berlins Wappen erklärt. Der erste Berliner baut sich dann eine Hütte in der Gegend, wo heute die Stadtvogtei steht, fängt in der Spree Fische. Es kommen Wenden zu Besuch und so entsteht ein Fischerdorf. Daraus wurde Berlin. Daneben wächst auf dem morastigen Spreegestrüppe Kölln, es entsteht der Werder und am Ende gar die Friedrichstadt. So ist es gekommen, daß man jetzt mit der Droschke gedankenlos vom Brandenburger Tor in die Königstadt fahren kann.

Dagegen, daß man die Stadt gerade an diesem bescheidenen Spreeufer angelegt hat, läßt sich nichts sagen. Erstens sind die Leute tot, und zweitens würde es nichts helfen. Drittens hat ein Ort an sich ja nicht viel Verantwortlichkeit. Daß man die Stadt aber so gepflegt und begünstigt hat, daß sie eine imposante Hauptstadt, die stattlichste Metropole des norddeutschen Landes wurde, darüber mag man sich billig und bescheiden wundern. Die Erklärung ist nun einmal des Menschen geistiges Brot, also gestatte man den Historikern den geschwätzigen Kommentar. Wo die Situation einer wichtigen Stadt vorteilhaft ist, da rechnen sie ihr Gedeihen und ihre Macht aus der vorteilhaften Lage aus; wo das nicht der Fall ist, beweisen sie, die Stadt müsse eben darum eine große Bedeutung gewonnen haben, weil sie so ungünstig liege. Es ist also anzunehmen, daß eine schlechte Lage Volk und Land zu größerer Tätigkeit nötigt und anspornt, Verfall und Erschlaffung nicht aufkommen läßt und um so gewaltigere Hilfsquellen entdecken läßt, je weniger sie selbst gewährt.

Mitten in einem höchst mageren Binnenlande, kapriziös fast ebenso weit von einem Hauptstrome, von der Elbe, wie von einem andern, der Oder, entfernt, hat sich die Hauptstadt entwickelt. Sie hat sogar die mächtigere Havel verschmäht, die nur ein paar Meilen entfernt fließt. Dem tiefschwarzen, still ernsthaften Flusse, der Spree, hat sie sich ganz hingegeben, einem Flusse, der durch den „Beobachter an der Spree“ bekannt ist und der zum Teil dieser Bekanntschaft wegen und weil er durch Berlin fließt, in unserer deutschen Literatur eine so geplagte Stellung einnimmt. Die Spree leidet unschuldig. Sie war früher da als Berlin. Sie hat sich Berlin nicht angemaßt und ist ein viel würdigerer Fluß, als man denkt. Sie ist ein bescheidenes Veilchen unter den Flüssen, nicht wegen ihres Geruches am Unterbaume, sondern wegen ihrer stillen Vorzüge. Sie ist von gleichmäßiger, sehr achtungswerter Tiefe und in diesem Punkte ein viel zuverlässigerer Charakter als manche große Prahler, zum Beispiel die Elbe, die sich an manchen Stellen ganz vergißt und die Schifffahrt von Jahr zu Jahr schwieriger macht, als ob sie in die versagenden und versiegenden Jahre hohen Alters geriete. Die Spree ist geachtet von den Obst- und Holzkähnen. Sie trägt Dampfschiffe und ist fruchtbar und schöpferisch wie ein Kaninchen. Es gibt keinen Fluß, der so reich an Fischen von aller und bester Art wäre wie die Spree. Das stolze Geschlecht der Aale, verschwenderisch gedeiht es in der Spree. Der Berliner spricht von diesem hochadeligen Fisch mit sicherem Gleichmute. Wie jedes andere ordinäre Gericht kann er ihn täglich auf dem Tische haben.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Reise durch das Biedermeier