Reformation, Renaissance, Humanismus.
Beide Abhandlungen geben im wesentlichen Vorträge wieder: die erste einen Vortrag in der Berliner Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1910, die zweite eine Rede vor der Philologenversammlung in Marburg (Oktober 1913).
Beide Abhandlungen erstreben eine lebendige Anschauung des Wesens und des Werdens der Renaissance, rein und mehr als das sonst geschehen ist aus den Zeugnissen der gleichzeitigen Quellen: vor allem der literarischen, in zweiter Linie der künstlerischen. Auf diesem Wege erweist sich gelegentlich auch eine kritische Auseinandersetzung mit den bisherigen Theorien der Renaissance als erforderlich.
Aber während jener Akademievortrag, zwar in gemeinverständlicher und nach möglichster Gegenständlichkeit trachtender Darstellung, den Charakter einer gelehrten Spezialuntersuchung trägt, die von einem prägnanten Punkt ausgeht, ihre fest begrenzten Bahnen einhält, unmittelbar zu den Quellen dringt, diese meistens sprechen lässt und dabei nur Ausblicke gibt in die allgemeinen geschichtlichen Beziehungen, will der andere Vortrag, der seinem Anlass gemäß eine gemischte, wenig vorbereitete Hörerschar zu unterrichten und zu überzeugen bestimmt war, unter Aufstellung neuer Gesichtspunkte und Mitteilung neuer Ergebnisse, eine Übersicht bieten über das große Ganze der Renaissancefrage. So kommt es, dass die beiden Abhandlungen in ihrem Inhalt sich an einigen Stellen schneiden: die zweite drängt dort bündig zusammen, was die erste in ausführlicher Vorlegung des Stoffes nachgewiesen, begründet, erläutert hatte. Auch diese, übrigens an Umfang nicht beträchtlichen Doppelfassungen unterscheiden sich immerhin voneinander durch abweichende Beleuchtung, unterstützen und steigern sich wohl auch gegenseitig und wirken gerade im Verein zur allseitigen Klärung des Problems. Ich habe deshalb nur zwei ganz geringe Kürzungen der zweiten Abhandlung für zweckmäßig erachtet.
Meiner Forschung gilt die Erkenntnis der Renaissance nicht, wie das seit Jakob Burckhardts Büchern immer noch meistens der Fall ist, als ein kunstphilosophisches Seinsproblem. Sie betont weniger das Zuständliche und Gesetzliche. Sie sucht überhaupt nicht den Querschnitt der Epoche, sondern ihren Längsschnitt: den wechselvollen genetischen Prozess. Sie geht nach Möglichkeit den Abstraktionen und Konstruktionen aus dem Wege und wendet sich zur konkreten Vielheit und Gegensätzlichkeit der Einzelerscheinungen, zur Fülle des Persönlichen, zur Mannigfaltigkeit und Divergenz der individuellen Schöpferkräfte. Und als Leitseil in diesem Gewirr des pulsierenden Geistes dienen ihr nicht die Gedanken und Urteile der späteren Jahrhunderte, sondern
einzig die Bekenntnisse der gleichzeitigen Führer jener großen Bewegung.
Nicht erwarte ich freilich das Heil allein von der personalgeschichtlichen, der im engeren Sinne biographischen Methode. Vielmehr will ich — wenn ich hier programmatische Worte aus meiner literarhistorischen Erstlingsschrift (Reinmar und Walther, S. 1 f, 32 f., 54 f.) auf das Gebiet der gesamten Kunst ausdehnen darf — auch jene verborgeneren Fäden aufdecken, die sich von Dichter zu Dichter, von Künstler zu Künstler, von Landschaft zu Landschaft zwischen Künstler und Publikum, Schriftsteller und Leser fortspinnen und von gewissen Entwicklungsgesetzen der künstlerischen Form gezogen werden, weil ja jede poetische und künstlerische Richtung ihre Bedeutung erhält durch die Wirkung auf ein bestimmtes Publikum (mag es am Anfang auch noch so klein sein!) und diese notwendig bedingt ist durch einen inneren Zustand der Vorbereitung, der Empfänglichkeit eben dieses Publikums. Immer noch sehe ich jedes dichterische, jedes künstlerische Erzeugnis an als Summe von dem, was eine im Publikum vorhandene Spannung löst, eine wenn auch unbewusste Bedürftigkeit aufhebt, und dem, was aus der eigentümlichen Beschaffenheit des dichtenden, schaffenden Individuums entspringt. Wie ich im Jahre 1880 Aufkommen und Entfaltung der deutschen Minnepoesie zu ergründen suchte durch die Betrachtung ihrer sprachlichen Form, ihres Stils und ihrer poetischen Technik, die ich damals im Unterschied von der metrischen und musikalischen Form die innere Form nannte (doch gibt es im Metrisch-Musikalischen gleichfalls ein geheimes Bereich innerer Form!), so lege ich auch heute für das Verständnis des Werdens und Wachsens der Renaissance größtes Gewicht auf Beobachtung und Analyse der inwendigen Kunstform: sei es der sprachlich-literarischen, sei es der bildnerischen. Aber eifriger, als ich es einst für nötig hielt, muss — dies habe ich inzwischen längst eingesehen und durch eigene Forschung zu betätigen versucht — auch die Wandlung der treibenden Ideen, die Umgestaltung der voranleuchtenden Symbole und Schlagworte, muss deren Gehalt an neuen geistigen Werten aufgespürt und genau in ihrem Beharren wie in ihrem stufenmäßigen Fortschreiten verfolgt werden. Auch in dieser Gedankenwelt waltet neben der persönlichen Kraft ein außerpersönliches Leben, gleichsam über den Häuptern der schaffenden, dichtenden Individuen. Auch von dem Leben dieser Gedankentypen gilt bis zu einem gewissen Grade jenes kennzeichnende Wort, das ich in meinem Jugendbuch für die Fortbildung der inneren Form prägte und durch das ich, damals deren planmäßige, umfassende Untersuchung rechtfertigte: das einzelne dichtende, schaffende Individuum ist sich über dieses Leben nicht klar, aber es steht unter seinem Bann.
Allerdings bleibt zu Recht bestehen, dass jene inwendige Kunstform tiefer hinabreicht in die Sphäre des Halbbewussten, Unbewussten als der typische Gedankengehalt künstlerischer Hervorbringungen. Und der wissenschaftlichen Erkenntnis literarischer und bildender Kunstkritiker, mittelalterlicher und moderner Zeit sind gerade durch eine vielseitige, auf jene innere Form gerichtete methodische Arbeit kostbare und verschiedenartige Ernten von höchstem Ertrage herangereift.
Die eigentliche Zukunftsaufgabe für eine vollbefriedigende Erkenntnis der Renaissance liegt, scheint mir, fortan darin, dass man für das Trecento und die ersten Jahrzehnte des Quattrocento eine moderne, wissenschaftlichen Anforderungen entsprechende biographische Betrachtung, die neuerdings innerhalb wie außerhalb Deutschlands, zumal auf kunstgeschichtlichem Gebiet, bereits treffliche Früchte gezeitigt hat, umfassend und eindringend überall durchführe, sie namentlich auch auf alle irgendwie bedeutsamen literarischen Persönlichkeiten anwende, wobei Carl Justis Werke, vor allem das vollendetste, sein "Winkelmann“, Vorbild sein müssten, dass man aber gleichzeitig auch mit wachen Sinnen merke auf das überpersönliche Leben jener Zeitenwende in ihren Gedankentypen wie in ihrer inwendigen literarisch-künstlerischen Form.
Auf dem Weg zu solchen Zielen wird freilich Erfolg haben, nur wer das unerlässliche Gebot der Stunde erkennt und beachtet : die historische Auffassung und Darstellung zunächst freizuhalten von jeder, wie immer gearteten ästhetischen oder geschichts-philosophischen Dogmatik und von allen Wertungen, die auf die Voraussetzung eines ewigen, absoluten, idealen Kunstkanons sich gründen.
Gewiss, auch diesem Standpunkt will ich sein Recht nicht bestreiten. Aber ich bin, je tiefer ich in das Phänomen, das wir Renaissance heißen, eindrang, desto unerschütterlicher davon überzeugt, dass für die Anfänge ihrer Entwicklung, zumal für das Trecento, zuvor erst endlich einmal die geschichtlichen Tatsachen und Hergänge im einzelnen fest und sicher ins Auge gefasst werden müssen. Denn endlich, denke ich, sollte er zerreißen, der trügende Schleier traditioneller anachronistischer Formeln, Begriffe, Vorurteile, die seit dem 16. Jahrhundert bis auf unsere Tage Klassizismus, Rationalismus, Liberalismus, Neuidealismus, Neuromantik und allerneueste Geschichtsgnostik über das geschichtliche Verständnis und die geschichtliche Beurteilung der Renaissance gehängt haben, und an die Stelle des verzerrten Bildes, das gleich ungerecht bewundert wie gehasst worden ist und wird, sollte die Einsicht treten in die realen Formen und Wandlungen, in die geistigen Antriebe und Tendenzen jener komplizierten europäischen Kulturerscheinung, die niemals allein von kunstgeschichtlicher oder gar kunstphilosophischer Betrachtung begriffen werden kann. Wohl ist es klar, dass das, was wir Renaissance nennen, in der Sphäre des Künstlerischen, des Formens und Gestaltens sich entfaltet und auswirkt. Aber keineswegs ist es mit der Entwicklung der bildenden Kunst eins, und gewiss nicht wurzelt es in dieser. Vielmehr ist die Renaissance eine geistige Revolution aus allgemeinen seelischen Motiven. Sie hat demgemäß ihren frühesten, vollkommensten, bleibendsten und umfassendsten Ausdruck im kunstvoll geformten Wort, in der rednerisch-literarischen Kunstsprache, in einer die mittelalterliche Tradition umwandelnden Symbolik geistiger und sinnlicher Anschauung, die eigentliche Quelle aber ihrer Kraft in einem religiösen Glauben an die göttliche Schönheit der Welt und des Lebens, in einem Persönlichkeitsdrang, der eine nationale, ethische, soziale Neuordnung als das höchste Ziel empfindet.
Wenn ich die nachstehenden Abhandlungen jetzt selbständig veröffentliche, um sie dadurch der allgemeinen Benutzung bequemer zugänglich zu machen, so gelangt ein vor vier Jahren gefasster und seitdem auch schon mehrmals angekündigter Entschluss infolge des Krieges verspätet zur Ausführung. Aber auch heute wird, hoffe ich, von dem Inhalt dieser Blätter eine Wirkung ausgehen. Ist doch nach den Erlebnissen der vergangenen vier Jahre gerade die Zahl derer im Wachsen, die sich sehnen zu den hohen Menschheitszielen und so dem weltgeschichtlichen Problem der Renaissance mit ernstem Eifer nachzusinnen fähig und bereit sind. Ihnen diene dieses Buch als nützliches Geleit.
Berlin-Grunewald, den 13. Juli 1918.
Konrad Burdach.
Inhalt.
Vorwort
I. Sinn und Ursprung der Worte Renaissance und Reformation
II. Über den Ursprung des Humanismus
Anmerkungen
136. König Heinrich VIII. von England. Von Hans Holbein d. J. Windsor Castle.
132. Karl VIII. von Frankreich. Miniature. Paris, Nationalbibliothek.
067. Reiterbildnis eines Imperators. Römische Bronze. Neapel, Nationalmuseum.
086. Schlacht zwischen Fußsoldaten und Reitern. Bronzerelief von Bertoldo di Giovanni (dem Lehrer Michelangelos). Florenz, Nationalmuseum.
087. Reiterschlacht. Gemälde von Paolo Uccello. London, Nationalgalerie.
095. Die Prunkrüstung Kaiser Karls V. Von einem Mailänder Waffenschmied des 16. Jahrhunderts. Florenz, Nationalmuseum.
154. Papst Julius II. Ausschnitt aus einem Gemälde von Raffael. Florenz, Palazzo Pitti.
156. Papst Leo X. Weiß gehöhte Kreidezeichnung von Sebastiane del Piombo. Chatsworth, Sammlung des Herzogs von Devonshire.
157. Papst Clemens VII. in jungen Jahren. Von Sebastiano del Piombo. Neapel, Nationalmuseum.
05. Bronze Statue of Martin Luther in Eisleben
RA 024 Melanchthon Philipp
RA 026 Spalatin
RA 030 Bugenhagen Johannes
RA 031 1 Brenz Johannnes
RA 033 Myconius Friedrich
RA 035 Cruziger Caspar
RA 037 Mathesius Johann
RA 041 Camerarius Joachim