Kapitel Zwei

Obgleich in Russland die Wissenschaft, deren Tätigkeit erst mit Lomonossoff (gestorben 1765) ernsthaft einsetzt, weniger Zeit für ihre Entwicklung zur Verfügung hatte als die Wissenschaft im westlichen Europa, so besaß sie dafür den großen Vorzug, dass ihre Gelehrten einen schon vorbereiteten Boden vorfanden und auf sicheren Grund bauen konnten. Die Wissenschaft des Westens (ich habe hier vorzugsweise die angewandten Wissenschaften im Auge) hatte im Anfange gar keine anderen Richtlinien zur Verfügung als die elementaren und unzusammenhängenden Versuche der alten griechischen Schriftsteller, deren Arbeiten nicht nur in Bezug auf ihre Aufgaben und Anwendungsformen einer wirklichen Wissenschaft recht ferne standen.

Wieviel konnte wohl aus den Werken über Physik und aus den naturwissenschaftlichen Arbeiten eines Aristoteles und der alexandrinischen Gelehrten geschöpft werden? Die Gelehrten in Europa mussten sich die Wege zur wahren Wissenschaft erst selbst bahnen, die Gelehrten Russlands hingegen betraten sofort, vom Anbeginne ihrer Tätigkeit an, den richtigen und gut vorbereiteten Weg und konnten vollkommen zuverlässigen Führern folgen wie Descartes, Gallilei, Leibniz und Newton. Der Unterschied war hier in gewisser Beziehung ein solcher, wie er zwischen der Erfindung der Buchstaben und der Erlernung des schon vorhandenen Alphabetes besteht. Dieser gewaltige Unterschied muss aber vorher durchaus ins Auge gefasst werden, ehe eine richtige Wertung der vorausgesetzten Aufgaben auf dem wissenschaftlichen Gebiet in Russland durch eigene und schöpferische Tätigkeit einsetzen kann.


Die Russen haben unzweifelhaft ihre Fähigkeit für jede wissenschaftliche Tätigkeit bewiesen. Diese Fähigkeit gab ihnen zusammen mit der ausgezeichneten wissenschaftlichen Schulung, die sie durchmachen durften, die Hoffnung, dass die russische Nation bei der außerordentlich schnellen geistigen Entwicklung unserer Zeit wahre Wunder auf wissenschaftlichem Gebiete leisten werde. Die Wirklichkeit hat diese Hoffnung nicht gerechtfertigt, und der bekannte Wunsch Lomonossoffs ist bis heute nur ein frommer Wunsch geblieben. Unter außerordentlich günstigen Himmelszeichen geboren, hat die russische Wissenschaft der Welt dennoch kein neues Licht schenken können. In der Mathematik, Chemie, in den biologischen Wissenschaften können wir allerdings einige Gelehrte aufweisen, die eine ansehnliche und ehrenvolle Stellung in der wissenschaftlichen Welt Europas einnehmen. Den Stempel einer speziell russischen Wissenschaft jedoch weisen die Arbeiten dieser Männer keineswegs auf; dazu sind sie nicht zahlreich und zusammenhängend genug, und was die Hauptsache ist, sie besitzen gar keinen scharf ausgesprochenen nationalen Charakter. Dazu kommt noch, dass die wissenschaftlichen Arbeiten unserer größten Gelehrten, trotz all ihrer Vorzüge, nicht eine so tiefe und umfassende Bedeutung haben, um in einer ganz bestimmten Weise den allgemeinen Gang der wissenschaftlichen Entwicklung zu beeinflussen, oder um in der Entwicklungsgeschichte auch nur einzelner wissenschaftlicher Gebiete epochemachend zu wirken.

Indem Danilewsky von den wissenschaftlichen Aufgaben des kommenden slawisch-russischen Kulturtypus spricht, weist er u. a. auch auf Kopernikus hin. Wenn es sich um den Beweis handeln würde, dass der slawische Volksstamm überhaupt die Fähigkeit besitzt, Europa dann und wann einen großen Gelehrten zu schenken, so wäre Kopernikus gewiss ein Beweis für diese Fähigkeit, die aber sicher noch von niemandem bestritten worden ist. Mit der Theorie unseres slawophil gesinnten Herrn Danilewsky aber hat dieser berühmte Pole entschieden gar nichts zu tun. Denn es unterliegt keinem Zweifel, dass der Name des Kopernikus, der unlöslich mit den Namen des Deutschen Kepler, des Italieners Gallilei und des Engländers Newton verknüpft ist, durchaus nur der europäischen oder romanisch-germanischen, keineswegs aber der künftigen russisch-slawischen Wissenschaft angehört*.

*) Hierbei soll auch zugleich auf ein charakteristisches Merkmal hingewiesen werden: Wenn es sich um irgendeinen großen Mann polnischer Abstammung handelt, sei es nun auf wissenschaftlichem Gebiete wie um Kopernikus, oder auf militärischem und politischem wie um Sobiesky, dann werden die Polen nicht nur als echte Slawen anerkannt, sondern es wird fast gar kein Unterschied zwischen ihnen und den Russen gemacht, ihr Ruhm ist in diesem Falle auch unser Ruhm. Besteht aber die Absicht, die vorhandenen unnormalen Beziehungen zwischen Russland und Polen zu betonen, dann werden die Polen als Abtrünnige, Treulose und Verräter des Slawentums, als Überläufer in das feindliche lateinisch-germanische Volkselement bezeichnet, die zusammen mit diesem untergehen müssen, ohne das geringste Anrecht auf die kommende Größe des slawischen Volkstums zu haben.

Dass die Slawen ebenso wie die Angehörigen der anderen Volksstämme auf der Erde die Fähigkeit besitzen, mit mehr oder weniger Erfolg wissenschaftlich zu arbeiten, das bedurfte wohl keines Beweises. Aber dass Russland (und mit ihm alle Slawen) auch in wissenschaftlicher Beziehung einen besonderen kulturhistorischen Typus bildet, und dass es berufen ist, außerhalb des europäischen wissenschaftlichen Lebens seine eigene, besondere, slawisch-russische Wissenschaft zu begründen, dafür fehlen uns durchaus noch die Beweise, und der genannte Verfasser bleibt sie uns auch schuldig. Er kann auf keinen einzigen realen Beweis selbständigen Schaffens hinweisen, das vom europäischen Einflüsse unabhängig wäre. Er nennt einige wenige russische und slawische Gelehrte, zu denen noch einige andere Namen hinzugefügt werden könnten, die aber alle durchaus zur wissenschaftlichen Welt Europas gehören, ebenso wie Kopernikus, nur mit dem Unterschiede, dass ihre Namen keinen großen Wendepunkt in dieser Welt bezeichnen.

Bevor Russland als Kulturmacht in die Erscheinung trat, haben andere slawische Völkerschaften, die am europäischen (Geistesleben mehr oder weniger Anteil hatten, niemals irgendwelche Ansprüche auf eine besondere antieuropäische Eigenart auf dem Gebiet des Denkens erhoben. Alle derartigen Ansprüche müssen auf Russland allein zurückgeführt werden. Aber auch die voreingenommensten Forscher auf diesem Gebiet können in Wirklichkeit gar nichts ausfindig machen, was diesen Ansprüchen auch nur im entferntesten entsprechen würde. Wenn wir jedoch alle Vorurteile und alle willkürlichen Prophezeiungen und Phantasien beiseitelassen, so kann auf Grund einer hundertvierzig jährigen Erfahrung der sichere Schluss gezogen werden, dass die Russen fähig sind, an dem allgemeinen wissenschaftlichen Schaffen in Europa in demselben Maße ungefähr teilzunehmen wie die Schweden und Holländer.

Aber wie geringfügig auch im Vergleiche mit unseren Ansprüchen die wahren Resultate unseres wissenschaftlichen Schaffens heute erst sein mögen, so hat die Wissenschaft Russlands doch schon den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht und tritt in die Epoche ihres Niederganges. Unsere besten Gelehrten, sowohl auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, als auch auf dem der humanistischen Wissenschaften, haben zum Teil ihre Laufbahn schon abgeschlossen, zum Teil sind sie im Begriffe, es zu tun. Arbeiter sind auf wissenschaftlichem Gebiete mehr als früher zu finden, doch wirkliche Meister fast gar nicht. Dank dem unaufhörlich anwachsenden Materiale wissen unsere jungen Gelehrten mehr als ihre Vorgänger wussten, aber sie verstehen ihr außerordentliches Wissen viel weniger zu nutzen. Anstatt eines vollkommenen wissenschaftlichen Aufbaues sehen wir nur eine nach allen Richtungen immer größer werdende Anhäufung von Baumaterial, und die Tätigkeit des Gelehrten wird immer mehr zur Tagelöhnerarbeit des Handwerkers. Zudem ist das Interesse an der Wissenschaft selbst, jene Begeisterung für wissenschaftliche Arbeiten, von der früher der beste Teil der russischen Gesellschaft beseelt war, vollständig verschwunden. Und nur mit dem Mangel an allem wissenschaftlichen Interesse kann die vollkommene Gleichgültigkeit erklärt werden, mit der die russische Gesellschaft die neue Universitätsverordnung vom Jahre 1884 aufgenommen hat.

In Anbetracht der Ärmlichkeit der vorhandenen Resultate auf wissenschaftlichem Gebiete in Russland und der geringen Hoffnung für die Zukunft in dieser Beziehung könnten unsere patriotischen Gefühle vielleicht in dem Gedanken Trost finden, dass die Wissenschaft im engeren Sinne dieses Wortes, also als Zusammenfassung gründlicher und positiver Kenntnisse, überhaupt nur eine untergeordnete Sphäre geistigen Schaffens bedeute, in der das schöpferische Denken wenig Raum für seine Betätigung findet, und in der sich der Geist der Nation und des Stammes nicht in seiner Eigenart wirklich zum Ausdrucke bringen kann. Die positive Wissenschaft (abgesehen von ihren technischen, für das Leben nützlichen Anwendungsformen) ist ja überhaupt nur ein Bruchteil des ganzen Materials, aus dem einzig und allein die Philosophie ein vollständiges Denkgebäude aufrichten kann. In der philosophischen Weltanschauung wirkt sowohl der Geist des Individuums als auch der Volksgeist vollkommen frei und selbständig, und darum muss der Ausdruck unserer kulturellen Eigenart vorzugsweise auf diesem Gebiet gesucht werden. Wir wollen daher untersuchen, was die russische Philosophie eigentlich zum Ausdrucke bringt!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches RUSSLAND UND EUROPA
Platon (428 v. Chr. bis 348 v. Chr.) antiker griechischer Philosoph

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