Kapitel Eins

Leopold Ranke bespricht in seinem Werk „Weltgeschichte“ das Staatsideal bei Plato und bemerkt hierzu, dass dieses ganz klar und bewusst den Grundlagen des griechischen Staatswesens jener Zeit entgegengestellte Ideal in seinen Hauptzügen viele Jahrhunderte nach Plato in der allgemeinen politischen Ordnung des Mittelalters in Europa verwirklicht worden ist*. Der Idealstaat Platos ist bekanntlich auf einer dreifachen Klasseneinteilung begründet, nämlich der Arbeiterklasse, der die Ernährung der Gemeinschaft obliegt (der Bauch des politischen Körpers); dann der Kriegerkaste, die zum Schutze oder der Verteidigung der Gemeinschaft dient (die Brust des politischen Körpers) und endlich der Klasse der geistig Arbeitenden oder der Philosophen, von der die Gemeinschaft regiert wird (der Kopf). Ranke sagt nun, dass gerade diese grundlegende politische Teilung im mittelalterlichen Europa in voller Kraft zutage trat durch die untergeordnete Klasse der Arbeiterbevölkerung; dieser war eine besondere Klasse übergeordnet, der ausschließlich das Recht Waffen zu tragen zustand, und endlich kam als Haupt des Gemeinschaftsorganismus die Geistlichkeit in Betracht, die über das ganze Wissen der damaligen Zeit verfügte, jedoch mit der überwiegenden Idee des Göttlichen (wie bei Plato) und die das Volk auch in dieser Richtung erzog.

* Anmerkung des Übersetzers: In diesem Aufsatz bespricht Solovjeff das Buch „Russland und Europa“ von N. Danilewsky und nimmt auch noch Bezug auf die Bücher von N. Strachoff „Der Darwinismus“ und „Der Kampf mit dem Westen in der russischen Literatur“; siehe „Weltgeschichte von Leopold Ranke, I. Teil, 2. Abteilung (2. Aufl.) St. 80. Übrigens ist diese merkwürdige Annäherung auch bei einigen Geschichtsphilosophen zu finden.


In diesem idealen Staate Platos haben wir den glänzendsten Beweis einer „geflügelten Theorie“ menschlichen Gemeinschaftslebens, einer solchen Theorie, die weit abweicht von der augenblicklich gegebenen, an Zeit und Ort gebundenen Form des Gemeinschaftslebens, der aber im höchsten Maße eine starke Realität innewohnt, durch die sie sich weit über die Gegenwart erheben und in eine andere Zeitepoche, in andere Daseinsbedingungen hinüberschwingen kann, um sich dann auf dem festen Boden geschichtlichen Geschehens niederzulassen. Die Tragkraft aller Schwingen hat natürlich ihre Grenzen, und unsere Anforderungen an die sozialen Rechte einer Gemeinschaft werden durch das Ideal Platos nicht mehr befriedigt. Dennoch bleibt es außer allem Zweifel, dass diese scheinbar antihistorische Utopie sich in ihren Grundzügen als das Eingangstor zu wirklichem historischen Geschehen er- wiesen hat, und dass das von Plato aufgestellte Schema im Verlaufe vieler Jahrhunderte nicht etwa das politische Leben und die Kulturordnung irgendeiner kleinen griechischen Republik, sondern einer gewaltigen sozialen Körperschaft bestimmt hat, die im Vergleiche viel größer war als das gesamte Hellas.

Nun gibt es aber noch eine andere Art sozialer Theorien, die im Gegensatze zu den ,,geflügelten“ als solche bezeichnet werden müssen, die ,,am Boden kriechen“. — Sie halten an den einmal gegebenen Grundlagen der Gesellschaft fest und erheben sich niemals in bemerkenswerter Weise über das Leben der Gegenwart hinaus. Sie sterben dort, wo sie entstanden sind, und in der Zukunft leben sie nur als historische Erinnerungen fort. Wenn solche ,,kriechende“ Theorien nur auf eine wissenschaftliche Aufgabe beschränkt bleiben und zur Erklärung des genetischen Zusammenhanges einer gegebenen sozialen Ordnung dienen würden, dann wäre natürlich, im Falle sie dieser Aufgabe wirklich entsprechen würden, nichts dagegen zu sagen. Aber gewöhnlich hängen sich solche Theorien an den ihrer Zeit entsprechenden Typus menschlichen Gemeinschaftslebens und stellen diesen als etwas Endgültiges und Unwandelbares dar. Dabei kommen sie einerseits in einen für sie verderblichen Gegensatz zu dem wahren Gange der Geschichte, die schwanger geht mit den Dingen der Zukunft und daher in den engen Rahmen alltäglichen Geschehens nicht gepresst werden kann, andererseits verlieren sie noch mehr ihren wissenschaftlichen Charakter, wenn sie der gegebenen Lebensform eine bestimmte Färbung geben sollen und wenn sie, die Grundzüge dieser Ordnung unberührt lassend, eine Korrektur nebensächlicher Einzelheiten fordern, somit nicht eine innere vernunftgemäße Umwandlung, sondern eine willkürliche Verstärkung, eine äußere Ausgestaltung und immerwährende Fortdauer der Wirklichkeit des Augenblickes anstreben. Ein geringes Maß von oberflächlichem Idealismus, mit dem solche und ähnliche ,,gesunde“ Anschauungen gewürzt zu sein pflegen, bieten einem faulen und schwächlichen Gedankenleben eine leicht erreichbare Befriedigung. Nichtsdestoweniger sind solche Theorien für die weitere Entwicklung des sozialen Bewusstseins unzweifelhaft nützlich. Sie erleichtern den Kampf fortschrittlicher Ideen mit den dunkeln Kräften des Gegenwartlebens in bedeutendem Maße. Dank diesen ,,kriechenden“ aber immerhin idealisierenden Theorien ersteht die gegebene Wirklichkeit in einer verklärten Gestalt vor uns.

Die Unzulänglichkeit bestimmter, konkret sich geltend machender Erscheinungen kann dabei immer in das Gebiet der „Missbräuche“ verwiesen, und einer Kritik derselben braucht keine allgemeine Bedeutung beigemessen zu werden. Wenn aber die Verteidiger einer gegebenen Wirklichkeit die fundamentalen Sünden dieser Wirklichkeit durch ihre Gedanken sinnvoll beleben und verallgemeinern und sie zu einem Ideale erheben, dann kann das endgültige Urteil des moralischen Bewusstseins über ein solches Ideal nur eine Verurteilung sein.

Zu solchen im obengenannten Sinne nützlichen Theorien, die in ihrer zeitgemäßen Realität andauernd verharren wollen, indem sie dieser Realität einen bestimmten und systematischen Charakter verleihen, gehört auch jene Anschauung, die mit einer großen Gründlichkeit von dem verstorbenen N. Danilewsky in seinem Buche ,,Russland und Europa“ niedergelegt worden ist. Die Verehrer dieses Buches sind der Ansicht, dass es der Katechismus oder Kodex des Slawophilentumes sei*. Der Verfasser steht ganz auf dem Standpunkt der durch Abstammung und Nationalität begründeten Gegensätze, die von der Evangelienlehre wohl verurteilt, aber noch nicht ausgemerzt worden sind. Der Gedanke des russischen Schriftstellers hat keine Schwingen, um sich, wenn auch nur in der Theorie, über die finstere Realität zu erheben. Der Verfasser betrachtet es als seine Aufgabe, die in der Menschheit vorhandene Zwietracht in ein abgerundetes und abgeschlossenes System zubringen, und aus diesem System einige praktische „Postulate“ für jenen Bruchteil der Menschheit zu folgern, zu dem er selbst gehört.

* Siehe in den „Nachrichten der St. Petersburger Slawischen Gesellschaft“ Nr. 12 vom Jahre 1886 den Aufsatz von N. Strachoff!

Die Einteilung der Menschen in Stämme und Nationen, die dann durch den Einfluss der großen Weltreligionen in gewisser Weise weniger scharf hervorgetreten ist und durch umfassendere und beweglichere Gruppenbildungen ersetzt wurde, hat mit erneuter Kraft in Europa ihre Auferstehung erlebt und begonnen, sich vom Anfange dieses Jahrhunderts an als bewusste und systematische Idee geltend zu machen.

Vor allem anderen hat sich hierbei der berühmte Philosoph Fichte ausgezeichnet, der in seiner ,,Wissenschaftslehre“ zuerst einen abstrakt-philosophischen Egoismus des sich erkennenden Ichs begründete, um dann in seinen „Reden an die deutsche Nation“ auf das Gebiet eines wohl erweiterten, aber doch willkürlichen und abstoßenden nationalen Egoismus überzugehen. Nach den Kriegen Napoleon I. wurde das Nationalitätsprinzip zur herrschenden Idee in Europa. Diese Idee verdient gewiss Achtung und Sympathie, wenn in ihrem Namen schwache und unterdrückte Völkerschaften beschützt und befreit werden sollen, denn in diesem Falle stimmt das nationale Prinzip mit den Ideen wahrer Gerechtigkeit überein. Jedes Volk hat nämlich das Recht zu leben und seine Kräfte frei zu entwickeln, wenn es dabei die gleichen Rechte der andern Völker nicht verletzt. Diese Forderungen eines gleichen Rechtes für alle Völker bringt in das politische Leben eine gewisse höhere, moralische Idee, der sich die Gefühle nationaler Eigenliebe unterzuordnen haben. Vom Gesichtspunkte dieser höheren Idee aus sind alle Völker solidarisch untereinander, und nach Maßgabe dieser Solidarität ist das Wort ,,Menschheit“ nicht mehr nur ein leerer Begriff. Andererseits jedoch war diese Erregung nationalen Selbstgefühls bei jedem Volke und besonders bei den größten und stärksten Völkern der Entwicklung von nationalem Egoismus oder Nationalismus sehr günstig; dieser aber hat mit dem Begriffe der Gerechtigkeit gar nichts mehr zu tun und bringt sich in einer ganz anderen Formel zum Ausdrucke: ,,Mein Volk ist das beste unter allen Völkern, und darum ist es seine Bestimmung, sich die anderen Völker auf die eine oder die andere Weise zu unterwerfen, oder aber auf alle Fälle den ersten und höchsten Platz unter ihnen einzunehmen.“

Durch einen solchen Satz wird jede Vergewaltigung, Unterdrückung, werden endlose Kriege und alles Böse und Finstere in der Weltgeschichte heiliggesprochen.

Im Leben und in der Theorie wird auf irgendeine Weise leicht und unmerklich die gerechte und menschliche Formel von der nationalen Idee gegen die Formel des Hasses und der Vergewaltigung eingetauscht. Weitaus nicht alle Verkündiger dieser Idee predigen direkt Unterwerfung und Vernichtung der anderen Nationen; sie haben einen geeigneten Gedankengang, um die Sache zu umgehen, der sich anscheinend viel sanfter anhört, seinem Geiste nach aber nicht minder verbrecherisch ist; sie sagen: ,,Unser Volk muss dem Entwicklungsgang der Geschichte und der natürlichen Aufeinanderfolge der verschiedenen Völkerkulturen gemäß alle abgestorbenen Völker und solche, die im Begriff sind abzusterben, ablösen. Diese Ablösung geht natürlich auch nicht ohne grausame und blutige Kämpfe und verschiedene nationale Mordtaten vor sich, aber das endgültige Resultat wird doch wie von selbst erreicht.“

Eine solche mildere Form des nationalen Egoismus haben die Slawophilen von den Deutschen übernommen, in dem sie für Russland das in Anwendung brachten, was ihre Lehrer den germanischen Bestrebungen zugeeignet hatten, und diese Anschauung wurde dann von dem Verfasser der Schrift ,,Russland und Europa“ systematisch ausgearbeitet. Zwischen ihm und den früheren Slawophilen besteht jedoch ein Unterschied, auf den er wohl hinweist, den er aber selbst nicht immer beachtet. Jene behaupten nämlich, dass das russische Volk durch seine welthistorische Aufgabe dazu berufen sei, Träger der höchsten Aufklärung in der Gesamtmenschheit zu sein; Danilewsky jedoch verneint jede allgemein menschliche Aufgabe und hält Russland und das Slawentum nur für einen besonderen historischen Typus, der sich jedoch vollständiger und vollkommener (nach seiner Terminologie) auf
einer vierfachen Grundlage aufbaue, weil er in sich alle Vorzüge der vorhergehenden Typen enthalte. Die Unstimmigkeit tritt daher nur in der abstrakten Terminologie zutage, die am Wesen der Sache gar
nichts ändert. Es ist jedoch notwendig zu bemerken, dass die eigentlichen, echten Slawophilen, Chomjäkoff, Kirejeff, die Aksakoffs und Samarin das historische Geschehen nicht ablehnten, und dadurch, dass sie, wenn auch nur von ganz abstrakten Gesichtspunkten ausgehend, die Solidarität der ganzen Menschheit gelten ließen, der christlichen Idee viel näherstanden als Danilewsky und an dieser Idee auch festhalten konnten ohne in einen offenbaren Widerspruch zu geraten.

Dagegen gebührt Danilewskys Ausführungen über die nationale Idee zweifelsohne der Vorzug. Für die früheren Slawophilen war diese Idee in erster Linie ein Objekt für lyrische, prophetische und rednerische Begeisterung. Sie besangen und predigten diese Idee. Andererseits aber ist diese Idee in den letzten Jahren ein Gegenstand des öffentlichen Handels geworden, von dessen halbtierischem Marktgeschrei alle schmutzigen Plätze, alle Straßen und Gassen des russischen Lebens widerhallen. Gegen die Poesie und Schönrederei lässt sich nichts sagen. Ebenso nutzlos wäre es aber auch, sich in einen Wortwechsel mit der heulenden und grunzenden Personifizierung der nationalen Idee einzulassen.

Wir besitzen jetzt, abgesehen von diesen beiden Extremen, dank dem Buche Danilewskys, eine ruhige und gesunde, systematische und gründliche Darlegung dieser Idee in ihren allgemeinen Grundlagen und in ihrer Anwendung auf Russland.

Danilewsky stand als Empiriker und Realist in seiner ganzen Denkweise und als Naturforscher und Mann der praktischen Tat sowohl dem Idealismus als auch der poetischen Phantasie fremd gegenüber und unterschied sich dadurch scharf von den Haupt Vertretern der slawophilen Partei, die meistens in Hegelscher Dialektik groß gewordene Dichternaturen waren. Andererseits aber gehört der Verfasser von „Russland und Europa“ den besten Vertretern der slawophilen Partei an, da er ebenso wie sie über stark entwickelte Verstandeskräfte verfügt und einen moralisch unanfechtbaren Charakter besitzt; durch einen ganzen Abgrund aber ist er von dem heute triumphierenden Straßenpatriotismus und Nationalismus getrennt. Wenn gegen diesen letzteren das einzig wirksame Mittel die Beobachtung der Gesetze der Reinlichkeit bleibt, so verdient und fordert hingegen das durchdachte und in wissenschaftlicher Form durchgeführte System des Nationalismus in dem Buche Danilewskys eine ernsthafte kritische Besprechung.

Die große Anzahl eigenartiger kulturhistorischer Volkstypen an Stelle der Menschheit in ihrer Gesamtheit, die unabhängige und abgesonderte Entwicklung dieser Typen an Stelle einer allgemeinen geschichtlichen Entwicklung, endlich Russland (und das Slawentum) als ein besonderer kulturhistorischer Typus, der sich vollkommen vom übrigen Europa unterscheidet und zugleich auch den höchsten, besten und vollkommensten Typus darstellt, das sind die Hauptsätze, die in dem Buche ,,Russland und Europa“ behandelt werden. Wir haben jetzt nicht die Absicht, diese Sätze vom christlichen und humanen Gesichtspunkte aus zu widerlegen (welche beiden Gesichtspunkte hier zusammenfallen). Wir werden nicht danach fragen, inwiefern die Theorie des Nationalismus moralisch, sondern inwiefern sie begründet ist.

Zuerst wollen wir uns davon überzeugen, ob es irgendwelche tatsächlichen Gründe dafür gibt, Russland* die Bedeutung eines eigenen kulturhistorischen Typus zuzusprechen, und zwar eines besonderen und durch dieses Besondere auch höheren Typus im Vergleiche mit den anderen Völkern Europas! Und zweitens wollen wir die Frage untersuchen, inwiefern die Einteilung der Menschheit in Kulturtypen im Sinne Danilewskys der historischen Wirklichkeit selbst entspricht! Das Hauptmaterial für unsere historische Untersuchung wird uns das Buch ,,Russland und Europa“ selbst liefern. Für die Bestätigung und Illustration unserer Schlüsse werden wir ein Buch desselben Verfassers ,,Der Darwinismus“ betitelt und eine Sammlung von Aufsätzen benutzen, die sein begeisterter Anhänger, N. Strachoff, unter dem Gesamttitel „Der Kampf mit dem Westen in der russischen Literatur“ geschrieben hat.

* Dem Beispiele Danilewskys selbst folgend, werden wir zuweilen der Kürze halber einfach ,,Russland“ anstatt „die russisch-slawische Welt“ oder ,,Russland und das Slawentum“ sagen.

Es soll noch vorausgeschickt werden, dass unsere Besprechung in gewisser Beziehung unvollständig sein wird. Wir werden einige Seiten der Frage, die einem abstrakten Urteile als wesentlich erscheinen dürften, gar nicht berühren. Wir nehmen an, dass der aufmerksame und gewissenhafte Leser uns die notwendige Unvollständigkeit nicht zum Vorwurfe machen wird, die, wie angenommen werden darf, unsere hauptsächlichen Schlüsse nicht abschwächen, sondern stärker hervorheben soll.

In der landwirtschaftlichen Gemeindeordnung und in dem Rechte auf Landanteile der Bauern sieht Danilewsky ,,eine sozial-ökonomische Einrichtung, die in richtiger Weise die Volksmassen versorgt“, und das ist seiner Meinung nach die Hauptgrundlage des russisch-slawischen kulturhistorischen Typus, das wichtigste Unterpfand für die Zukunft Russlands. Obgleich das Bibelwort, dass der Mensch vom Brote nicht allein lebe, auch für die Völker seine Anwendung finden muss, so ist dennoch eine soziale Einrichtung, die den Wohlstand der Volksmassen sichert, eine Sache von ungeheurer Wichtigkeit. Besitzt nun Russland den Vorzug einer solchen Einrichtung?

Die genossenschaftliche Form des Grundbesitzes berührt der Verfasser nur vorübergehend. Er kennt natürlich den Hinweis der vergleichenden Verfassungsgeschichte auf die unwiderlegliche Tatsache, dass genossenschaftliche Landwirtschaft keineswegs eine ausschließliche Spezialität des russischen oder slawischen Kultursystems ist, sondern dass sie einer der allerersten sozial-ökonomischen Entwicklungsphasen entspricht, durch die die verschiedenen Völker hindurchgegangen sind. Sie ist also nicht das Unterpfand für eine besondere Entwicklung Russlands in der Zukunft, sondern nur das Überbleibsel einer fernen Vergangenheit der allgemeinen Menschheitsentwicklung. Einerseits können die Spuren agrarischen Genossenschaftswesens selbst bei den zivilisiertesten Völkern des Westens (die sogenannten Almenden in Deutschland und in der Schweiz) gefunden werden. Andererseits ist im tiefsten Asien bei den Indem, die in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung auf einer niederen Stufe stehengeblieben sind, diese ursprüngliche Form des Landbesitzes noch heute erhalten. Im russischen Volke selbst macht sich das Bestreben bemerkbar, von der Form des genossenschaftlichen Besitzes frei zu werden, und die veraltete Einrichtung wäre schon endgültig abgeschafft worden (wie es mit dem verwandten System der „Zadruga“ bei den Südslawen heute der Fall ist), wenn sie vom Staate nicht gesetzlich geschützt würde. Es ist anzunehmen, dass die russische Regierung sehr weise gehandelt hat, als sie für den Anfang diese primitive soziale Form unter ihren Schutz genommen hat. Indem das Gesetz nämlich die private Enteignung des Bauernlandes erschwerte, hat es alle schwachen und alle um ihr Fortkommen allzu unbekümmerten Bauern (d. h. die weitaus überwiegende Mehrzahl) vor der Verschuldung und dem unmittelbaren Ruin bewahrt. Wenn es nun für den Staat wohl sehr vorteilhaft war, die Entstehung einer ganzen Klasse obdachloser Bettler zu verhindern, so ist doch von diesem Vorteil noch ein ziemlich weiter Weg bis zum tatsächlichen Schutze eines Volkes vor Massenarmut. Der genossenschaftliche Grundbesitz ist an und für sich, wie die Statistik zeigt, dem Erfolg im landwirtschaftlichen Betriebe ungünstig. Die Gemeinde kann wohl jedem Bauer ein Stück Land, keineswegs aber eine gute Ernte zusichern, wie sie auch die Kräfte eines ausgesogenen. Bodens nicht ersetzen kann.

Trotz alledem stellt der Verfasser unseres Buches überzeugungsvoll und hartnäckig die Bauern in Russland mit ihrem Rechte auf Landanteil der Bevölkerung Europas gegenüber, die keinen Grund und Boden besitzt. Als direkter und tatsächlicher Gegensatz in dieser Beziehung könnte nicht Europa, sondern einzig und allein England gelten. Dieses Land aber, das viel weniger einen Teil von Europa als eine Macht darstellt, die sich über alle Weltteile erstreckt, befindet sich in ganz besonderen Verhältnissen. Die Fabrikindustrie und der Welthandel verschlingen in diesem Lande so ausgiebig die nationalen Kräfte, dass der Bauernstand, der hier an Kopfzahl viel kleiner ist als die städtische Bevölkerung, in dem öffentlichen Leben dieses neuen Karthago erst an zweiter Stelle kommt. Leben und Entwicklung des britischen Reiches als einer nationalen Kultureinheit hängen viel mehr von der Sicherstellung der indischen Kolonien, als von der Sicherstellung der Bauern in Yorkshire oder Ulster ab. Für das übrige Europa kann der Mangel an Land durchaus nicht als absolute Regel aufgestellt werden, und der Gegensatz zu Russland ist hier keineswegs vollständig. Auf dem ganzen europäischen Festlande hat die Landbevölkerung einen gewissen Anteil am Grund und Boden, ganz abgesehen von den Ländern, in denen das Land ausschließlich Eigentum der Bauern ist, wie z. B. in Norwegen.

Wie aber auch immer die sozial-ökonomische Lage Europas sein möge, für Russland ist es unmöglich, nur auf den Fehlern und dem Missgeschick anderer die eigene Zukunft aufzubauen. Eine eigentlich allgemein wirtschaftliche Einrichtung, die in einer richtigen Weise den Wohlstand der Volksmassen sichert, existiert bei uns nur in unbestimmten Phantasiegebilden, die auch in Europa reichlich genug zu finden sind. Für eine tatsächliche Sicherstellung des Volkswohlstandes ist vor allen Dingen eine Verbesserung und richtige Entwicklung der Landwirtschaft nötig, dazu bedarf das Volk aber der vernünftigen und tätigen Mithilfe der intelligenten Bevölkerungsklassen. Wenn sich z. B. bei uns in Russland eine soziale Arbeitsgruppe bilden würde, die im Besitze aller wissenschaftlichen Hilfsmittel wäre und sich mit diesen Mitteln vollständig der Bearbeitung des Landes weihen wollte, und zwar nicht um des eigenen Vorteils, sondern um des allgemeinen Nutzens willen, so wäre das nicht nur ein originelles, sondern auch ein fruchtbares Beginnen, und es könnte wirklich als das reale Unterpfand für einen neuen kulturhistorischen Typus gelten. Aber wir können auf nichts Ähnliches in Russland hinweisen. Weder die Idealisierung des Volkes durch die Slawophilen, noch der Zug einiger literarischer Kreise ,,hinaus aufs Land“, noch das allbekannte ,,unter das Volk gehen“ hat sich zu irgendeiner dauernden sozialen Tätigkeit ausgestalten können, und bisher ist nichts im Sinne einer realen Solidarität zwischen den gebildeten Klassen und dem gewöhnlichen Volke geschaffen worden. Es war immer nur eine zeitweilige, an schönen Gefühlen und Absichten zwar reiche aber durchaus unfruchtbare Begeisterung. Solche aus dem augenblicklichen Enthusiasmus geborenen und auch noch viel originelleren Bestrebungen als die eben genannten sind genugsam in der Geschichte des englisch-amerikanischen und insbesondere des französischen Sozialismus zu finden*.

*) Maxime Ducamps erzählt in seinen literarischen Erinnerungen unter anderem auch die merkwürdige Geschichte einer ganzen Gruppe von St. Simonisten, die zu der Ansicht gekommen waren, dass die Menschheit zu ihrer Glückseligkeit außer dem „Vater“ Enfantin auch noch einer besonderen ,,Mutter“ für die neue Gemeinschaft bedürfe. Sie machten sich also, ungeachtet ihrer beschränkten Geldmittel, auf den Weg, um diese ,,Mutter“ in allen Ländern des Ostens zu suchen, und kamen dabei tatsächlich bis nach Konstantinopel und Ägypten. Nicht viel praktischer als diese Unternehmung sind alle unsere Versuche, das Volk bald durch irgendeinen „schlauen Mechanismus“, bald durch ein altmodisches Abc-Buch zu retten und glücklich zu machen.

Der berühmte Redakteur der ,,Moskauer Wjedomosti“ ergriff öfters die Gelegenheit, um den sonderbaren Gedanken auszusprechen, dass der Körper Russlands, d. h. die niederen Bevölkerungsschichten, vollkommen gesund seien, und dass nur der Kopf dieses gewaltigen Organismus, d. h, die höheren und gebildeten Klassen, an einer schweren Krankheit leiden. Wahrhaftig eine sonderbare, für die Zukunft viel versprechende Gesundheit! Der Moskauer Publizist merkte nicht, dass er sein Vaterland mit jenen unheilbaren Geisteskranken vergleicht, die ungeachtet der Fülle ihrer physischen Kräfte in hoffnungslosen Schwachsinn verfallen sind. Wir sind aber davon überzeugt, dass der rechtgläubige Patriot in einem Irrtume befangen war, und dass Russland sich durchaus nicht in einer so hoffnungslosen Lage befindet. Es ist allerdings richtig, dass der Kopf unseres Volksorganismus unter nicht ganz normalen Bedingungen arbeitet. Eine krankhafte, durch unregelmäßigen Blutumlauf erzeugte Erregbarkeit wechselt schnell mit einschläfernden anämischen Anfällen. Doch bis zur progressiven Paralyse und Gehirnerweichung, die dem etwas vorschnellen Verteidiger unserer Daseinsbedingungen vorschwebten, ist noch ein sehr weiter Weg.

Die gewünschte sozial-ökonomische Einrichtung, die den materiellen Wohlstand und die geistige Entwicklung eines Volkes sichern kann, ist ohne organischen Zusammenhang und eine richtige Wechselbeziehung zwischen der intelligenten Klasse und der großen Masse eines Volkes ganz undenkbar. Dieser Zusammenhang, der in Russland auch früher nur äußerst schwach vorhanden war, kann vollkommen zerrissen werden, wenn die Volksschule in die Hände oder unter die Aufsicht irgendeiner Menschenklasse gerät, die sich fremd oder geradezu feindlich zur Volksbildung und zu ihren Zielen verhält, oder wenn an die Stelle von selbständigen Organen des Gemeinschaftslebens irgendwelche polizeilichen Einrichtungen treten. Die politische Erziehung Russlands jedoch, die Danilewsky für absolut richtig hält, konnte zu gar nichts anderem führen. In der Geistesrichtung des russischen Volkes mögen wohl Anlagen und Möglichkeiten zu den allerbesten sozialen Einrichtungen zu finden sein, aber weder im Leben unserer Gegenwart noch in den Theorien des Verfassers kann ein Übergang von dieser Möglichkeit zur Realität nachgewiesen werden. Nehmen wir jedoch an, dass diese Theorie nur insofern fehlerhaft ist, als sie die Bedeutung des sozial-ökonomischen Elementes in dem russisch-slawischen Volksleben der Zukunft übertreibt! Vielleicht ist Russland dazu berufen, eine umfassende, eigenartige und schöpferische Tätigkeit auf dem Gebiet höherer Geisteskultur, in den Wissenschaften, in Literatur, Philosophie und Kunst auszuüben. Wir wollen untersuchen, ob irgendeine tatsächliche Begründung für solch eine Voraussetzung aufgewiesen werden kann.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches RUSSLAND UND EUROPA
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