Kapitel Drei

Einer der ersten frühesten Scholastiker, Rabanus oder Hrabanus Maurus, sagt in seinem Werk ,,De nihilo et tenebris“ unter anderem, dass ,,das Nichtsein etwas so Erbärmliches, Ödes und Hässliches sei, dass nicht genug Tränen über einen so traurigen Zustand vergossen werden können“. Diese Worte eines gefühlvollen Mönches kommen einem unwillkürlich bei dem Gedanken an die russische Philosophie in den Sinn. Damit soll nicht gesagt sein, dass sie tatsächlich zu der von Rabanus Maurus beweinten Kategorie des Nichtseins gehöre, denn in den letzten Jahrzehnten ist in Russland eine genügend große Anzahl mehr oder weniger ernsthafter und interessanter Bücher über verschiedene philosophische Gegenstände geschrieben worden. Aber alles Philosophische in diesen Arbeiten ist durchaus nicht russisch, und was wirklich russisches Gepräge trägt, das hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit irgendeiner Philosophie, und zuweilen ist es überhaupt ganz sinnlos. Wir können keineswegs auf irgendwelche Anlagen einer eigenartigen russischen Philosophie hinweisen, alles, was in diesem Sinne vor die Öffentlichkeit getreten ist, war in Wirklichkeit nichts anderes als eine eitle Prätension auf Eigenart. Dennoch sind die Russen unbedingt zum spekulativen Denken befähigt, und es gab eine Zeit, wo der Glaube berechtigt schien, dass der Philosophie in Russland eine glänzende Zukunft blühen werde. Aber die Begabung der Russen erwies sich auch auf diesem Gebiet nur als eine gewisse Empfänglichkeit für die Ideen anderer und nicht als positive Befähigung. Die Russen haben fremde philosophische Ideen sehr gut begriffen und sich zu eigen gemacht, aber sie haben auf diesem Gebiete kein einziges bedeutendes Werk geschaffen, sondern blieben entweder bei kurz hingeworfenen Skizzen stehen oder gaben in karikierter und roher Form diesen oder jenen auf die Spitze getriebenen und einseitigen Gedanken des europäischen Geisteslebens wieder.

Der germanische philosophische Idealismus hat in seiner endgültigen Form, im Hegelianismus, nirgends in Europa eine so lebhafte Teilnahme und vielleicht auch ein so tiefes Verständnis gefunden wie in unseren gelehrten Literatenkreisen unter den Anhängern westlicher Kultur und zum Teile auch bei den Slawophilen in Moskau in den dreißiger und vierziger Jahren. Das waren alles außerordentlich begabte Menschen, und viele unter ihnen verfügten zudem noch über eine gründliche und vielseitige Bildung. Sonderbar muss es daher erscheinen, dass diese philosophische Bewegung auserwählter Geister, die so glanzvoll und von so viel Begeisterung getragen, begonnen hatte, in Bezug auf die Philosophie wenigstens, im Sande verlief. Das Oberhaupt des kleinen philosophischen Kreises, Stankiewitsch, starb früh, ohne irgendeine Arbeit zu hinterlassen. Ein anderer hervorragender Denker, J. W. Kirejewsky, der anfangs ein Anhänger der westlichen Kultur und Hegelianer war und dann Slawophile wurde, kam in seinen philosophischen Beschäftigungen zu dem Schluss, dass wahre Weisheit und wirkliches Wissen nur bei den asketischen Schriftstellern des rechtgläubigen Orients zu finden sei. Seine Freunde hofften nun, dass er aus dieser tiefen Quelle eine neue orientalische Philosophie schöpfen und diese sieghaft dem verdorrenden Gedankenleben des faulen Westens entgegenstellen werde. Die ganze Sache beschränkte sich aber nur auf diese allgemein gefasste Behauptung, die asketische Philosophie blieb wie bisher in den Zellen der Mönche vom Berge Athos und des Optinskischen Klosters und verwandelte sich keineswegs in die Grundlagen einer neuen slawisch-russischen Erkenntnis, von der die eine Hälfte des zersplitterten Moskauer Philosophenkreises geträumt hatte. Die im Grunde genommen richtige, jedoch allzu ,,summarische“ Verneinung der deutschen Metaphysik in drei oder vier Aufsätzen verschiedener Zeitschriften und die durch nichts gerechtfertigte Forderung einer neuen Philosophie des Ostens, das ist alles, was uns von dieser Seite her als Besitz geblieben ist. Ein anderer Teil dieses Kreises, der sich zu den Kulturideen des Westens bekannte, schlug einen anderen, jedoch für die Philosophie ebenfalls unfruchtbaren Weg ein. Belinsky, der seine glühende Begeisterung für den Hegelianismus in einigen durch damalige literarische Erscheinungen veranlassten kritischen Aufsätzen zum Ausdruck gebracht hatte, ging dann von der deutschen Philosophie zum französischen theoretischen Sozialismus über. Der viel begabtere und gebildetere Alexander Herzen tat in dieser Richtung noch ein übriges und stürzte sich aus den Ätherhöhen des philosophischen Idealismus in die unterirdischen Wohnstätten sozialer Revolutionsideen, und noch ein anderer eifriger Hegelianer, Bakunin, weihte sein ganzes Leben unwiderruflich geheimen Umtrieben und Straßenkrawallen.


Die mit dem Tode Belinskys fast gleichzeitig erfolgte Internierung Kirejewskys in ein Kloster und die Emigration Herzens und Bakunins können als Abschluss für die erste Periode in der Entwicklung der ,,russischen Philosophie“ gelten. Das russische Gedankenleben dieser Epoche war zweifellos durch ein rein philosophisches Gepräge ausgezeichnet, aber es kam in keinem philosophischen Werk zum Ausdrucke. Vollkommen ausgeprägte Erinnerungsdenkmäler hat uns diese Zeit nicht geschenkt, außer einigen zusammenhangslosen Inschriften, will sagen Aufsätzen, die teilweise von der Weltanschauung westlicher Philosophen inspiriert, zum Teil gegen sie gerichtet waren, die aber durchaus keine positiven Grundlagen einer selbständigen, eigenartigen philosophischen Weltanschauung enthielten.

In den folgenden 25 Jahren spiegelt sich im russischen literarischen Leben auf eine übertriebene und karikierte Weise die Reaktion gegen den philosophischen Idealismus, der vom europäischen Geistesleben Besitz ergriffen hatte. Es ist wohl noch allen erinnerlich, wie die spekulative Philosophie oder Metaphysik bei uns nicht nur als traurige Verirrung des menschlichen Denkens, sondern geradezu als Wahnsinn oder sogar als schweres Verbrechen angesehen wurde. Und alle werden sich der glühenden Begeisterung für den jüngst entstandenen deutschen Materialismus in Verbindung mit dem französischen Positivismus erinnern. Ich erinnere keineswegs an alles das, um eine Verurteilung auszusprechen, und ich glaube durchaus nicht, dass wir in Russland einfach aus Nachahmungssucht die verschiedenen geistigen Strömungen Europas aufgenommen haben, wie solches sonderbarerweise N. Danilewsky in seinem Aufsatz über den Nihilismus behauptet*. Ebenso aufrichtig, wie die Begeisterung für den philosophischen Idealismus war, ebenso aufrichtig war auch die Reaktion gegen ihn; die Übertreibung und die Karikatur entstanden nicht aus Nachahmungssucht, sondern aus Begeisterung und aus der Stärke eines unberührten Gefühlslebens. Es obliegt mir nur, die Tatsache festzustellen, dass auch in dieser zweiten und jüngsten Periode in Russland keinerlei Anzeichen einer selbständigen, das Gepräge russischer Eigenart tragenden Ideenwelt auf dem Gebiet der Philosophie zutage getreten sind, und dass kein bedeutsames, für die Zukunft Dauer verheißendes Denkmal im philosophischen Gedankenleben Russlands gesetzt worden ist. Das russische Geistesleben der sechziger Jahre verneinte den Idealismus in der Philosophie nur unter fremden Feldzeichen, nämlich bald unter dem des französischen Positivismus, bald unter dem des englischen Empirismus. Eine solche vollständige Abhängigkeit des russischen Gedankenlebens von fremden Ideen und den fremden Geistesschulen schreibt der Verfasser des Buches ,,Russland und Europa“ ausschließlich dem Nachahmungstriebe gegenüber dem Westen zu und vergisst dabei ganz, dass in dieser Beziehung auch die Gelehrten in der slawophilen Partei keinen besonderen Vorzug aufweisen, denn alle ihre leitenden philosophischen und theologischen Ideen können zum Teile bei französischen Schriftstellern, wie z. B. bei Borda-Demolins, Lamennais und anderen, zum Teile bei den Deutschen, wie Sartorius und Möller, auch gefunden werden **. Aber selbst in den Fällen, wo sie den ,,Verirrungen des Westens“ die ,,Wahrheit aus dem Osten“ gegenüberstellten, trat diese Wahrheit nicht in Form eines lebendigen und wirksamen philosophischen Gedankens auf, sondern nur als einfacher Hinweis auf die Weisheit alter Schriften über Mystik und Askese, die sie vom Staube der Jahrhunderte befreien wollten, eine Absicht, die sie jedoch bis heute nicht ausgeführt haben.

*) Siehe die Zeitschrift ,,Russj“ von Aksakoff (1884). **) Auf Wunsch kann ich das Gesagte durch Zitate beweisen.

Dem russischen Volke kann trotz aller Unzulänglichkeiten, die hauptsächlich in den Bedingungen seiner historischen Erziehung ihren Ursprung haben, eine Eigenschaft nicht abgesprochen werden, nämlich geistige Beweglichkeit. Wenn wir auch geneigt sind, uns von allerhand Ideen und Götzen despotisch beherrschen zu lassen, so ändern wir doch wenigstens schnell die Gegenstände unserer Anbetung. Seit der Mitte der siebziger Jahre ist bei uns eine sehr starke Reaktion gegen die vorher alleinherrschenden materialistischen und positivistischen Lehren zu bemerken. Diese neue Richtung kann, wenn wir die Entwicklung philosophischer Ideen in Russland betrachten wollen, als die dritte Periode dieser Entwicklung bezeichnet werden. Die allgemeine Tendenz dieser Bewegung ist aber keineswegs philosophischer Natur. Die einigermaßen bedeutenderen und eigenartigeren Werke aus dieser Periode gehen in irgendeiner Form in das dem reinen philosophischen Gedanken unzugängliche Gebiet des Mystizismus über. Die absolut unabhängige und in sich selbst bewusste Tätigkeit des menschlichen Verstandeslebens, das ist das eigentliche Element der Philosophie. Es ist unmöglich, irgendetwas wahrhaft Großes auf irgendeinem Gebiet menschlichen Wirkens zu leisten, wenn nicht die volle Überzeugung vorhanden ist, dass gerade dieses Gebiet das wichtigste und wertvollste sei, und dass das Wirken auf eben diesem Gebiet eine in sich selbst ruhende, unendliche Bedeutung habe. Damit also auf dem Gebiet der Philosophie Großes und Dauerndes geleistet werden könne, ist es vor allen Dingen notwendig, an die eigengesetzliche und unbeschränkte Kraft der menschlichen Verstandeskräfte, an die absolute Überlegenheit des reinen Denkens vor allen anderen Arten menschlicher Tätigkeit zu glauben. Die Beobachtung der besonderen Merkmale des russischen Nationalcharakters ergibt jedoch sofort, dass der begabte Russe sich gerade durch das äußerste Misstrauen gegen alle Kräfte und Möglichkeiten des Verstandeslebens im Allgemeinen und gegen die eigenen im Besonderen auszeichnet, und dass ihm ebenso eine große Verachtung abstrakter, spekulativer Theorien wie auch alles dessen eignet, was im moralischen oder äußeren materiellen Leben offenbar keine Anwendung finden kann. Diese Eigenart ist die Veranlassung, dass das russische Verstandesleben vorzugsweise an zwei Gesichtspunkten festhält, nämlich an einem aufs höchste gesteigerten Skeptizismus und am Mystizismus. Es ist einleuchtend, dass beide Standpunkte eine wirkliche Philosophie ausschließen.

Wenn es auch richtig ist, dass jedes einigermaßen vertiefte philosophische System unbedingt sowohl ein skeptisches als auch ein mystisches Element in sich einschließt, so ist das aber immer nur insoweit der Fall, als beide Elemente der Selbstsicherheit oder dem in sich selbst sein Genüge findenden Bewusstsein des menschlichen Verstandeslebens nicht widersprechen. Der philosophische Skeptizismus richtet sich gegen jede willkürliche Autorität und gegen jede scheinbare Realität. Der philosophische Mystizismus ist das Gefühl von dem inneren, unzerstörbaren Zusammenhange des denkenden Geistes mit dem allem Dasein zugrundeliegenden, absoluten Prinzip, das Bewusstsein der wesenhaften Identität des erkennenden Verstandes mit dem wirklichen Erkenntnisobjekt. Dem entspricht aber in keiner Weise jene innere Stimmung, die den wesentlichen Charakterzug der russischen nationalen Denkungsart ausmacht. Der russische Skeptizismus hat wenig gemeinsam mit dem gesunden Zweifel eines Descartes oder Kant, der sich mit dem äußeren Objekt und den Grenzen des Erkennens auseinandersetzen wollte. Die russische Skepsis ist hingegen wie die Sophistik des Altertums bestrebt, die Idee der Glaubwürdigkeit und Wahrheit an sich zu vernichten und das Interesse am Erkennen selbst zu untergraben: „alles ist gleicherweise möglich oder auch nicht möglich, und alles ist in gleichem Maße zweifelhaft“, lautet ihre auf die einfachste Formel zurückgeführte Denkweise. Bei einem solchen Standpunkte muss sich unsere Verstandestätigkeit, anstatt in eine selbsttätige Kraft, in ein unterschiedsloses und passives Element verwandeln, das von allen möglichen Strömungen durchzogen wird, ohne das eine abweisen oder das andere in sich aufnehmen zu wollen. In derselben Weise strebt auch unser nationaler Mystizismus nicht danach, die eigenen Geisteskräfte durch das Bewusstsein einer absoluten Überlegenheit zu heben, sondern er führt im Gegenteile zu einer vollkommenen Vernichtung und einem Aufgeben der geistigen Individualität im absoluten Objekte, das diese Individualität als ein über sich Stehendes erkannt hat. Dieses unwiederbringliche Sicherverlieren in dem, was über einem steht, kommt je nach den verschiedenen Charaktereigenschaften bald in einer unerschütterlichen Gleichgültigkeit und im Quietismus, bald in selbstmörderischem Fanatismus zum Ausdruck, der auch die Veranlassung zur Entstehung gewisser Sekten wie der der Skopzen, der Selbstverbrenner und anderer mehr geworden ist. Wenn das philosophische Denken in Russland daher heute eine mystische Richtung nimmt — denn mehr ist darüber vorläufig nicht zu sagen — , so wird es auf der Grundlage des nationalen Mystizismus sicherlich keine Früchte tragen. Dieser letztere, der übrigens nicht nur den Russen, sondern auch anderen, halbwilden Völkern des Ostens eigen ist, zeugt natürlich gerade in seinen Übertreibungen von gewissen geistigen Kräften in der geistigen Natur des russischen Volkes, die unter anderen Bedingungen, bei einer richtigeren und tieferen Entwicklung von Wissen und Bildung im Volke gute Früchte bringen könnten, wenigstens auf religiös-moralischem Gebiete. In jedem Falle steht eins zweifellos fest: eine derartige mystische Stimmung, wie die oben beschriebene, in Verbindung mit einem unbegrenzten Misstrauen zum rationalen Elemente im Leben der Menschheit und der Welt ergibt eine geistige Grundlage, die der Entwicklung jeder eigenartigen und annähernd wissenschaftlichen Philosophie durchaus unzuträglich ist.

Somit kann in Wirklichkeit unter den gegebenen Bedingungen gar keine positive Grundlage und auch keine auch nur annähernde Wahrscheinlichkeit dafür aufgewiesen werden, dass Russland in der Zukunft auf dem Gebiet des Denkens und Wissens groß und unabhängig dastehen werde.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches RUSSLAND UND EUROPA