Kapitel 50 - Das Drama des „Aureolus“ hatte Tigellinus für die nächste Vorstellung in Aussicht genommen, ...

Das Drama des „Aureolus“ hatte Tigellinus für die nächste Vorstellung in Aussicht genommen, in welcher ein ans Kreuz geschlagener Sklave von einem Bären aufgefressen werden sollte. Eigentlich wollte Nero bei dieser Vorstellung nicht erscheinen, doch auf des Tigellinus Vorstellungen, daß er nach dem Vorfall in den Gärten sich erst recht dem Volke zeigen müsse, gab er nach. Zugleich versicherte ihm Tigellinus, daß der gekreuzigte Sklave ihn nicht lästern werde, wie Crispus, weil dem Griechen schon die Zunge fehle.

Als es dunkelte, füllte sich das Amphitheater wie gewöhnlich. Die Augustianer fanden sich vollzählig ein, sowohl um dem Kaiser einen Beweis ihrer unwandelbaren Treue zu geben, als auch um Chilon zu sehen, von dem ganz Rom sprach.


Man raunte sich zu, daß der Kaiser nach der Rückkehr aus den Gärten in Raserei verfallen sei und keinen Schlaf finden könne. Es befalle ihn Angst, und grausige Erscheinungen verfolgten ihn, infolgedessen habe er die baldige Abreise nach Achaja angeordnet.

Andere unterhielten sich über Chilon.

„Was ist nur dem Chilon eingefallen?“ rief Epirus Marcellus. „Hat er doch selbst die Christen dem Tigellinus ausgeliefert, und ist dafür ein reicher Mann geworden! Wie hätte er seine Tage friedlich beschließen, das prächtigste Begräbnis, den schönsten Grabstein haben können! Er muß verrückt geworden sein; anders ist es nicht möglich!“

„Er ist Christ geworden,“ erwiderte Tigellinus.

„Und ich will euch etwas anders sagen,“ sprach Petronius. „Tigellinus hat mich ausgelacht, als ich behauptete, die Christen verteidigten sich. Ich aber sage jetzt, sie tun noch mehr: sie erobern!“

„Wieso? Wieso?“ fragten mehrere stimmen.

„Beim Pollux! wenn ein Chilon ihnen nicht widerstehen konnte, wer wird ihnen widerstehen? Nach jeder Vorstellung treten immer neue Scharen zum Christentum über!“

„Er spricht die reine Wahrheit!“ rief Vestinus.

Die weitere Unterredung wurde durch die Ankunft des Kaisers unterbrochen, der in Begleitung des Pythagoras seinen Platz einnahm. Sogleich begann die Vorstellung.

Man achtete wenig darauf. Das Volk war an die Quälereien und das Blutvergießen schon gewöhnt und verlangte ungeduldig nach der Szene, in welcher der Bär auftreten sollte. Wäre nicht die Hoffnung auf Geschenke und Getränke und der Anblick des verurteilten Greises gewesen, man hätte das Volk auf den Plätzen nicht halten können.

Endlich kam der erwartete Augenblick. Zwei Circusknechte brachten das Holzkreuz, das ziemlich niedrig war, damit der Bär die Brust des Märtyrers erreichen könne. Man schleppte jetzt Chilon herbei. Gehen konnte er nicht, denn infolge der vorangegangenen Martern waren die Knöchel zermalmt. Man schlug ihn so schnell ans Kreuz, daß die neugierigen Augustianer ihn erst sehen konnten, als das Kreuz schon aufgerichtet war.

Doch nur die wenigsten erkannten in dem nackten Greise den früheren Chilon. Jeder Tropfen Blut war aus seinem Antlitz entwichen; über den weißen Bart rann ein Faden Blutes, die Spur, die das Herausreißen der Zunge zurückgelassen hatte.

Die einst so boshaften, immer unruhig um sich blickenden Augen strahlten ein mildes Licht aus, und sein schmerzerfülltes Antlitz hatte den ängstlich horchenden Ausdruck verloren.

In dieses zerknirschte Herz war offenbar der Friede eingezogen. Niemand lachte, denn dieser Gekreuzigte war so still; er sah so alt aus, so wehrlos, so schwach, in seiner Reue so um Erbarmen rufend, daß sich jeder sagen mußte: es war nicht nötig, den Sterbenden noch ans Kreuz zu schlagen.

Die Menge schwieg. Unter den Augustianern wendete Vestinus den Kopf nach rechts und nach links und flüsterte ängstlich: „Sehet ihr, wie sie sterben?“ Andere warteten auf den Bären und hegten den stillen Wunsch, das Schauspiel möge bald enden. Der Bär wälzte sich endlich in die Arena. Er wackelte mit dem Kopfe und sah sich im Kreise um, als suche er etwas. Schließlich sah er das Kreuz und auf diesem den Leib und ging langsam darauf los. Am Fuße des Kreuzes ließ er sich auf die Vordertatzen nieder und brummte. Es war, als ob sich in seinem tierischen Herzen Mitleid für diesen armseligen Überrest eines Menschen rege.

Die Circusknechte suchten ihn durch Zuruf auf Chilon zu hetzen, das Volk aber schwieg. In diesem Augenblick ließ der Gekreuzigte seinen Blick durch das Amphitheater schweifen. Auf einer der höchsten Reihen blieb er haften, und ein tieferer Atemzug hob seine Brust. Erstaunt und bewundernd sahen die Zuschauer ein heiteres Lächeln über sein Antlitz gleiten, von seiner Stirn schien eine Art Strahlenkranz auszugehen, und aus den emporgerichteten Augen flossen langsam zwei Tränen.

Er starb.

In diesem Augenblick rief eine männliche Stimme unter dem Velarium: „Friede den Märtyrern!“

Im Amphitheater herrschte dumpfes Schweigen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Quo Vadis?