Kapitel 47 - Seit mehreren Tagen schon hatte Vinicius die Nächte außer dem Hause zugebracht. ...

Seit mehreren Tagen schon hatte Vinicius die Nächte außer dem Hause zugebracht. Petronius nahm deshalb an, er habe einen neuen Plan entworfen und bereite Lygias Rettung aus dem esquilinischen Gefängnis vor. Er selbst hatte wenig Hoffnung, denn dieses Gefängnis war zu gut bewacht. Offenbar, sagte er sich, haben Cäsar und Tigellinus sie für ein besonderes, alles Frühere in Schatten stellendes Schauspiel ausersehen. Vinicius geht eher selber zugrunde, als daß er sie davor rettet!

Auch Vinicius hatte schließlich die Hoffnung auf ihre Befreiung aufgegeben. Er sagte sich, Christus allein könne sie aus dem Gefängnisse führen. Das einzige Sinnen und Trachten des jungen Kriegers ging jetzt darauf aus, sie noch im Kerker zu sehen.


Der Gedanke, daß Nazarius als Leichenträger in das mamertinische Gefängnis eingedrungen war, ließ ihm seit einiger Zeit keine Ruhe, und er beschloß, den gleichen Weg einzuschlagen. Nachdem er den Aufseher der Leichengruben um eine große Summe erkauft hatte, nahm ihn dieser schließlich unter die Zahl seiner Knechte auf, die er allnächtlich in die Gefängnisse schickte, um die Leichname zu holen. Daß Vinicius erkannt werden würde, war kaum anzunehmen. Durch die Dunkelheit, die schlechte Beleuchtung des Kerkers und infolge seiner Verkleidung war er sicherlich davor bewahrt.

Sobald der ersehnte Abend da war, verkleidete sich Vinicius, hüllte das Haupt in ein mit Terpentin getränktes Tuch und begab sich klopfenden Herzens mit den übrigen Knechten nach dem Esquilin. Die prätorianischen Wachen machten keine Schwierigkeiten, denn alle hatten Einlaßmarken, und bald tat sich die schwere eiserne Pforte vor den Leichenträgern auf.

Vinicius blickte in einen weiten, gewölbten Keller, aus dem sie zu einer Reihe anderer Gelasse kamen. Alle waren mit Gefangenen überfüllt, die an den Wänden ausgestreckt dalagen, oder sich auch an die in der Mitte stehenden Trinkgefäße drängten. Überall vernahm man Stöhnen und Weinen, geflüsterte Gebete, halblaut gesungene Hymnen, und dazwischen die Flüche der Aufseher. Die Luft in den Gewölben war verpestet durch die Ausdünstungen der Lebenden und der Toten.

Vinicius mußte alle seine Kraft zusammennehmen, um nicht das Bewußtsein zu verlieren. Hier in diesem Grauen, in diesem, von Leichengeruch erfüllten Kerker, war Lygia!

In diesem Augenblick fragte an seiner Seite der Aufseher der Leichengruben: „Wie viele Leichname habt ihr?“

„Etwa ein Dutzend,“ erwiderte der Kerkermeister; „morgen früh werden ihrer mehr sein, denn viele liegen im Sterben.“

Und er begann über die Frauen zu klagen, die ihre toten Kinder verbargen, um nicht von ihnen getrennt zu werden, um nicht ihr Teuerstes den Kloaken übergeben zu müssen.

Vinicius hatte seine Geistesgegenwart wiedererlangt und begann das Verließ zu durchsuchen. Doch nirgends fand er Lygia und gab allmählich die Hoffnung auf, sie lebendig noch einmal zu sehen. Einige Keller waren durch neu gegrabene Gänge miteinander verbunden, die Leichenträger betraten aber nur solche Räume, worin Tote lagen. Vinicius fürchtete schon, seine List würde erfolglos sein, als sein Arbeitgeber ihm zu Hilfe kam.

„Die Leichen sind ansteckend,“ sagte er. „Ihr müßt sie entweder sofort hinaustragen, oder samt den Gefangenen sterben!“

„Wir sind unser bloß zehn und müssen schlafen,“ fiel der Kerkermeister ein.

„Ich will vier meiner Leute hier lassen, die während der Nacht umhergehen und noch Leichen suchen sollen!“

Vier Männer wurden ausgewählt, darunter Vinicius; die anderen hatten die Leichen auf die Bahren zu schaffen.

Vinicius war beruhigt, denn nun mußte er Lygia finden. Zuerst durchsuchte er sorgfältig den ersten Keller. In jedem Winkel, den seine Fackel ihm zeigte, forschte er nach ihr. Er prüfte die Gesichter, die unter rauhen Mänteln schliefen, doch Lygia fand er nirgends, auch im zweiten und dritten Keller nicht.

Inzwischen war es späte Nacht geworden, Vinicius trat mit der Fackel in den vierten, bedeutend kleineren Keller. Mit der Fackel vor sich hinleuchtend, spähte er umher und begann plötzlich zu zittern, denn er glaubte, an einer vergitterten Maueröffnung die Hünengestalt des Ursus zu sehen. Nachdem er rasch die Fackel ausgelöscht hatte, näherte er sich ihm und fragte: „Ursus, bist du hier?“

„Wer bist du?“ antwortete der Riese, sich zu ihm wendend.

Jedoch in diesem Augenblicke erblickte Vinicius Lygia, welche auf einen Mantel gebettet dicht an der Wand lag. Er sprach kein Wort weiter und kniete an ihrer Seite nieder. Ursus erkannte ihn jetzt und rief: „Gepriesen sei Christus! Doch wecke sie nicht auf, Herr!“

Vinicius blickte auf sie durch seine Tränen hindurch. Trotz der Dunkelheit vermochte er ihr Antlitz, das so weiß wie Alabaster war, und ihre abgemagerten Arme zu unterscheiden. Bei diesem Anblick fühlte er eine Liebe, die seine Seele bis in die tiefsten Tiefen erschütterte und zugleich so voll Mitleid und Ehrfurcht war, daß er auf sein Antlitz fiel und seine Lippen auf den Saum des Mantels drückte, auf dem sein Teuerstes auf Erden lag.

Ursus schaute ihm lange schweigend zu; endlich zog er ihn an der Tunika.

„Herr,“ fragte er, „wie kamst du hierher?“

„Ich habe eine Marke vom Aufseher der Leichengruben.“ Plötzlich hielt er inne, als ob ihm ein Gedanke gekommen sei. „Beim Leidenswege des Erlösers!“ begann er; „ich bleibe hier! sie soll meine Marke nehmen, ihr Haupt in ein Tuch hüllen, einen Mantel über die Schultern ziehen und sich hindurchschleichen. Unter den Leichenträgern befinden sich mehrere halbwüchsige Knaben, so daß ihre Gestalt den Prätorianern nicht auffallen wird, und ist sie erst in des Petronius Haus, so ist sie gerettet!“

Doch der Lygier ließ den Kopf auf die Brust herabsinken und sagte: „Sie würde nicht einwilligen, weil sie dich liebt! Auch ist sie krank und kann allein kaum stehen. Wenn du und Petronius sie nicht aus dem Kerker zu befreien vermögen, wer kann es dann?“
„Christus allein!“

Beide schwiegen. Christus könnte alle Christen retten, dachte der Lygier in seinem einfältigen Herzen; da er sie aber nicht rettet, so ist es sicher, daß die Stunde der Marter und des Todes gekommen ist. Vinicius kniete nun wieder an Lygias Seite. Mondstrahlen drangen jetzt durch das Gitter und gaben ein stärkeres Licht als die Kerze über dem Eingang. Lygia schlug die Augen auf und sagte, indem sie die fieberhafte Hand auf Vinicius’ Arm legte: „Ich sehe dich; ich wußte, daß du kommen würdest!“

Er ergriff ihre Hand und drückte sie an seine Stirn und sein Herz; dann hob er die Kranke ein wenig in die Höhe und zog sie an seine Brust.

„Ich bin gekommen, Geliebte! Christus beschütze und rette dich, teure Lygia!“ Seine Stimme versagte; sein Herz wollte vor Liebe und Schmerz brechen. Allein er suchte in ihrer Gegenwart gefaßt zu sein.

„Ich bin krank, Markus,“ sagte Lygia, „und muß entweder hier oder in der Arena sterben. Ich habe gebetet, dich vor dem Tode noch einmal sehen zu dürfen, und du kamst; Christus erhörte mich.“

Vinicius bezwang sich und suchte seine Stimme ruhig erscheinen zu lassen, während er antwortete:

„Nein, Teure, du wirst nicht sterben! Der Apostel hieß mich glauben und versprach, für dich zu beten. Er kannte den Heiland; der Heiland liebt ihn und kann ihm Erhörung nicht versagen. Müßtest du sterben, so hätte mir Petrus nicht befohlen, zu vertrauen. Nein, Lygia, Christus wird sich erbarmen! Petrus betet für dich!“

„O Markus,“ sagte Lygia, „Christus selber rief zum Vater: Nimm diesen bittern Kelch von mir! dennoch trank er ihn. Der Heiland starb am Kreuze, und Tausende gehen um seinetwillen in den Tod. Sieh, wie schrecklich dieser Kerker ist! Doch ich gehe in den Himmel. Hier ist der Cäsar, dort aber der Heiland, gnädig und barmherzig. Dort gibt es keinen Tod. Du liebst mich; darum bedenke, daß wir uns dort wiederfinden!“ Sie hielt inne, um der kranken Brust Atem zu verschaffen; dann zog sie seine Hand an ihre Lippen. – „Markus!“

„Was, meine Teure?“

„Weine nicht um mich und denke daran, daß du dort mit mir vereint sein wirst! Mein Leben ist kurz gewesen, doch hat mir Gott deine Seele geschenkt. Versprich mir, daß du Christus lieben und meinen Tod ergeben ertragen willst. Dann wird er uns auf immer vereinigen.“ Der Atem versagte ihr; kaum hörbar fügte sie hinzu: „Versprich mir dies, Markus!“

Bebend umschlang sie Vinicius. „Bei deinem geheiligten Haupte!“ sagte er. „Ich verspreche es dir!“

Der Mond warf einen matten Schatten auf ihr Antlitz, das jetzt strahlte. Noch einmal drückte sie seine Hand an ihre Lippen, und dabei flüsterte sie: „Ich bin dein Weib!“

Draußen im Freien, jenseits der Kerkermauern, lärmten würfelspielende Prätorianer. Vinicius und Lygia aber vergaßen des Gefängnisses, der Wachen, der Welt, sie fühlten Engelsseelen in ihrem Innern und begannen zu beten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Quo Vadis?