Kapitel 41 - Vinicius begab sich mit erneuter Hoffnung nach dem Kerker. Zwar die Verzweiflung war ...

Vinicius begab sich mit erneuter Hoffnung nach dem Kerker. Zwar die Verzweiflung war in der Tiefe seiner Seele noch nicht ganz erloschen, doch er bemühte sich, auf diese Stimme nicht zu hören. Es schien ihm unmöglich, daß die Fürbitte des Statthalters Christi keine Erhörung finden sollte. Ich will an Christi Barmherzigkeit glauben, wenn ich auch Lygia im Rachen eines Löwen sehen müßte, sprach er bei sich. Und er glaubte, obschon seine Seele bebte und kalter Schweiß seine Schläfen bedeckte. Jeder Herzschlag wurde ihm zum Gebet. Er begann einzusehen, daß der Glaube Berge versetzen könne, fühlte er nun doch selber eine Kraft, die vorher nie in ihm gewesen war. So oft Verzweiflung ihn zu fassen drohte, gedachte er jener Nacht und des greisen, zum Gebete himmelwärts gerichteten Antlitzes. „Nein, Christus wird seinen ersten Jünger, den Hirten seiner Herde, nicht unerhört lassen. Ich will glauben.“ Und er eilte als Herold guter Kunde dem Kerker zu.

Etwas Unerwartetes begegnete ihm dort. Alle Prätorianer, denen die Wache vor dem Mamertinischen Kerker oblag, kannten ihn und machten in der Regel keine Schwierigkeiten. Diesmal aber öffnete sich ihre Reihe nicht, sondern ein Centurio trat vor und sagte: „Verzeih, edler Herr! Wir haben heute Befehl, niemand einzulassen.“


„Befehl?“ wiederholte Vinicius erblassend.

Der Soldat blickte ihn mitleidig an und erwiderte: „Ja, Herr, Befehl des Kaisers. Es sind viele Kranke im Kerker, so daß man wohl fürchtet, Besucher möchten Krankheit in die Stadt tragen.“

„Du sagtest aber, der Befehl ist für heute?“

„Die Wache wird um Mittag abgelöst.“

Vinicius entblößte schweigend sein Haupt, denn der Helm schien ihn wie Blei zu drücken.

Der Centurio trat näher und sagte mit gedämpfter Stimme: „Beruhige dich, Herr, der Wächter und Ursus schützen sie.“ So sprechend verbeugte er sich und hatte im Nu mit seinem Schwerte auf den Steinfliesen die Form eines Fisches gezeichnet.

Vinicius blickte ihn forschend an. „Und du bist Prätorianer?“ „Bis auch ich dort wohne,“ antwortete er, nach dem Kerker deutend.

„Auch ich bete Christus an.“

„Sein Name sei gepriesen! Ich darf dich leider nicht einlassen, doch schreibe einen Brief, so will ich ihn dem Wächter übergeben.“

„Hab Dank, Bruder.“

Dem Centurio die Hand drückend, entfernte er sich. Die Morgensonne beschien die Kerkermauern. Mit ihren Strahlen drang Zuversicht neuerdings in sein Herz ein. Jener christliche Prätorianer war ihm ein neuer Beweis der Allmacht Christi.

Zu Hause fand er Petronius, der wie gewöhnlich die Nacht in Tag umgewandelt hatte und vor kurzem heimgekehrt war.

„Ich habe Neuigkeiten für dich,“ rief er seinem Neffen zu. „Heute besuchte ich Tullius Senecio, bei dem auch der Cäsar war. Ich weiß nicht, warum Poppäa den kleinen Rufius mitnahm, wohl um Cäsars Herz durch seine Schönheit zu besänftigen. Unglücklicherweise war das Kind müde und schlummerte ein, während Nero vorlas, gerade wie es einst dem Vespasian erging. Feuerbart bemerkte es und schleuderte einen Becher nach seinem Stiefsohn. Das Kind ist schwer verwundet, Poppäa wurde ohnmächtig; der Cäsar aber sagte laut, so daß es alle hörten: Ich habe diese Brut satt! Dies bedeutet Tod, wie du weißt.“

„Das Strafgericht Gottes hing über der Augusta,“ antwortete Vinicius. „Doch weshalb erzählst du mir das?“

„Weil Poppäas Zorn dich und Lygia verfolgte. Mit ihrem eigenen Unglück beschäftigt, verzichtet sie vielleicht jetzt auf Rache und läßt sich leichter beeinflussen. Ich will sie diesen Abend besuchen.“

„Hab Dank, du gibst mir Hoffnung.“

„Bade jetzt und geh dann zur Ruhe. Deine Lippen sind blau.“

„Ist der Tag des ersten Morgenspieles noch nicht bestimmt?“ fragte Vinicius.

„In zehn Tagen soll es stattfinden. Doch kommen vor dem Mamertinischen erst andere Kerker an die Reihe. Je mehr wir Zeit gewinnen, um so besser. Noch ist nicht alles verloren.“

Allein Petronius glaubte das selber nicht. Er wußte, daß Lygia nicht zu retten sei, wollte aber seinem Verwandten nicht jede Hoffnung nehmen.

„Heute abend will ich ungefähr so zu Augusta sprechen,“ sagte er. „Rette dem Vinicius seine Lygia, so will ich dir den Rufius retten! – Und ich werde Wort zu halten suchen. Ein Wort, zum Feuerbart im rechten Augenblick gesprochen, kann retten und verderben. Im schlimmsten Falle gewinnen wir Zeit.“

„Ich danke dir,“ erwiderte Vinicius.

Sie trennten sich. Vinicius aber begab sich in das Bücherzimmer und schrieb einen Brief an Lygia, den er darauf selber dem Centurio überbrachte. Dieser trug ihn sogleich ins Gefängnis und kehrte bald mit einem Gruße Lygias zurück, wobei er versprach, ihre Antwort ihm noch heute zu überreichen.

Vinicius ging nicht nach Hause, sondern setzte sich auf einen Steinblock, um auf Lygias Brief zu warten. Die Sonne stand schon hoch; die Leute strömten haufenweise durch den Clivus Argentarius dem Forum zu. Hitze und Müdigkeit übermannten Vinicius. Er schloß die Augen. Das eintönige Schreien spielender Knaben und der gemessene Tritt der Wachen schläferten ihn ein. Einige Zeit kämpfte er dagegen, indem er den Blick an das Gefängnis zu heften sich bestrebte; endlich aber lehnte er sich an einen Stein, seufzte wie ein nach langem Weinen schläfriges Kind und entschlief.

Ein lauter Lärm auf dem Platze weckte Vinicius schließlich aus dem Schlafe. Er rieb sich die Augen, die Straße wimmelte von Menschen. Zwei Läufer in gelben Tuniken stießen die Menge mittels langer Stäbe beiseite, um einer kostbaren Sänfte den Weg zu bahnen. Sie wurde von vier kräftigen Ägyptern getragen. In der Sänfte saß ein Mann, in weiße Gewänder gehüllt. Sein Gesicht war nicht erkennbar, denn er hatte eine Papyrusrolle vor Augen und las offenbar mit Aufmerksamkeit.

„Platz für den edlen Augustianer!“ schrien die Läufer.

Doch die Straße war so belebt, daß die Sänfte eine Weile zu halten hatte. Der Augustianer legte die Rolle weg, beugte sich hinaus und schrie: „Stoßt die Schufte weg! Vorwärts!“ Doch Vinicius erblickend, zog er eilig den Kopf zurück und verbarg sich hinter dem Papyrus.

Vinicius fuhr mit der Hand über die Stirn, um sich zu überzeugen, daß er nicht träume.

In der Sänfte saß Chilon.

Inzwischen hatten die Läufer den Weg freigemacht, und die ägyptischen Sklaven standen im Begriff, weiterzugehen, als der junge Tribun, der auf einmal vieles bis jetzt Unverständliches begriff, an die Sänfte trat. „Sei gegrüßt, Chilon!“ sagte er.

„Junger Mann,“ erwiderte der Grieche stolz und vornehm, indem er sich bemühte, eine Ruhe zu zeigen, die er nicht besaß, – „sei gegrüßt, doch halte mich nicht auf; denn ich muß zu meinem Freunde, dem edlen Tigellinus.“

Vinicius hielt den Rand der Sänfte fest, blickte ihm forschend ins Auge und fragte mit leiser Stimme: „Hast du Lygia verraten?“

„Koloß von Memnon!“ rief Chilon erschrocken.

Allein es lag nichts Drohendes in Vinicius’ Augen, so daß die Angst des Alten nicht anhielt. Er wußte sich unter dem Schutze des Cäsar und des Präfekten, also unter dem Schutze einer Macht, vor der alle zitterten; er wußte sich von starken Sklaven umgeben und sah Vinicius unbewaffnet und abgehärmt vor sich stehen. Seine Keckheit kehrte zurück. Mit einem Blick auf des Vinicius gerötete Augen flüsterte er: „Als ich vor Hunger sterben wollte, ließest du mich peitschen!“

Schweigen folgte; endlich entgegnete Vinicius demütig: „Ich tat dir Unrecht, Chilon.“

Der Grieche schnalzte mit den Fingern, was in Rom Verachtung bedeutete. Laut, so daß alle Umstehenden es hören konnten, sagte er dann: „Mein Freund, wenn du eine Bittschrift einzureichen hast, so komme morgen früh in meine Wohnung auf dem Esquilin. Nach dem Bade pflege ich Gäste und Klienten zu empfangen.“

Er gab ein Zeichen, worauf die Sklaven die Sänfte aufnahmen. Die Läufer in gelben Tuniken schwangen ihre Stäbe und riefen: „Platz für den edlen Chilon Chilonides. Platz! Platz“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Quo Vadis?