Kapitel 40 - Indes folgte ein Tag nach dem anderen. Das Amphitheater war vollendet. Die Einlaßkarten zu den ...

Indes folgte ein Tag nach dem anderen. Das Amphitheater war vollendet. Die Einlaßkarten zu den Morgenspielen wurden verteilt, wegen der unerhörten Zahl der Opfer sollten diesmal diese Morgenspiele tage-, wochen-, monatelang währen. Man konnte die Christen nicht mehr unterbringen, die Gefängnisse, hieß es, seien vollgepfropft, und das Fieber wüte darin. So entstand die Furcht, es möchten sich Krankheiten über die Stadt verbreiten, darum die Eile!

All diese Gerüchte erreichten auch Vinicius’ Ohr und erstickten den letzten Hoffnungsstrahl in seinem Innern. Wäre noch Zeit geblieben, so hätte er sich mit dem Gedanken täuschen können, daß er noch etwas zu tun vermöge, aber die Zeit war dahin. Die Schauspiele mußten nun beginnen. Lygia konnte sich jeden Tag in einem Vorraum des Circus befinden, dessen einziger Ausgang in die Arena führte. Vinicius hatte fast jede Hoffnung auf Lygias Rettung aufgegeben. Der Schmerz machte ihn krank, und er glich mehr einem Toten als einem Lebenden. Ganze Nächte verbrachte er mit Ursus vor Lygias Gefängnistür. Befahl sie ihm hinwegzugehen und zu ruhen, so kehrte er zu Petronius zurück und ging bis zum nächsten Morgen im Atrium auf und ab. Häufig fanden ihn die Sklaven mit ausgebreiteten Armen auf den Knien oder mit dem Antlitz auf der Erde liegend. Er betete zu Christus, denn Christus war seine einzige Hoffnung. Alles war ihm fehlgeschlagen. Nur ein Wunder konnte Lygia retten.


In einer Nacht ging er, den Apostel Petrus aufzusuchen. Die Christen, von denen nur mehr wenige frei geblieben waren, hielten diesen sorgfältig versteckt, sogar vor Brüdern, damit nicht einer der schwächeren im Geiste ihn bewußt oder unbewußt verrate.

Vinicius begab sich zu jenem Steinbrecher, in dessen Hütte er getauft worden war, und erfuhr dort, daß eine Zusammenkunft vor der Porta Salaria in einem Weingarten des Cornelius Pudens stattfinden werde. Der Mann bot ihm seine Führung an und sagte zugleich, daß er dort Petrus treffen könne.

In der Dämmerung verließen sie das Haus, hatten bald die Mauern hinter sich und kamen durch schilfbewachsene, tiefer liegende Stellen zu dem in einer unbewohnten, einsamen Gegend gelegenen Weingarten. In einem Schuppen waren die Christen versammelt. Vinicius, näher kommend, hörte leise Gebete. Beim Eintritt sah er in düsterem Lampenlicht gegen hundert Personen im Gebet versunken auf den Knien liegend. Sie beteten eine Art Litanei; ein Chor männlicher und weiblicher Stimmen wiederholte in kurzen Zwischenpausen: „Christus, erbarme dich unser!“ Tiefe, rührende Trauer klang ihm aus diesem Flehen entgegen.

Petrus war da. Er kniete an ihrer Spitze vor einem hölzernen Kreuz, das an die Wand des Schuppens genagelt war, und betete, Vinicius erkannte aus der Ferne sofort sein weißes Haar und seine erhobenen Hände. Der erste Gedanke des jungen Mannes war, die Versammlung zu durchschreiten, sich dem Apostel zu Füßen zu werfen und zu rufen: Rette sie! Aber der feierliche Eindruck des Gebetes und seine übergroße Schwäche beugten seine Knie. Er ließ sich nieder und wiederholte seufzend mit den anderen: „Christus, erbarme dich unser!“

Wäre sein Geist freier gewesen, so hätte er bald herausgefunden, daß nicht sein Gebet einzig von Schmerzenslauten unterbrochen war, daß nicht er allein seinen Jammer, seine Unruhe, seine Kümmernisse hierher gebracht hatte. In dieser Versammlung fand sich keine Seele, die nicht den Verlust teurer Personen zu beklagen gehabt hätte. Sie begriffen nicht, warum Christus sie verlassen hatte, warum er das Böse so mächtig werden ließ. Dennoch flehten sie verzweifelnd ihn um Erbarmen an, da in jedem Herzen noch ein Fünkchen Hoffnung glimmte, daß Christus kommen, Nero in den Abgrund schleudern und die Welt regieren werde. Je öfter Vinicius die Worte wiederholen hörte: Christus, erbarme dich unser! desto mehr fühlte er jene Worte, die ihn einst in des Steinbrechers Hütte erfaßt hatten. Jetzt rufen die Versammelten aus dem Abgrund ihrer Sorge zu Christus, jetzt ruft Petrus zu ihm. So mögen denn die Himmel zerreißen, möge die Erde bis in ihren Grund erzittern und er erscheinen in unendlicher Herrlichkeit. Sterne an den Füßen, barmherzig, aber furchtbar. Er wird seine Getreuen aufrichten und den Abgründen befehlen, die Verfolger zu verschlingen.

Auf einmal hörte man die sorgenvolle Klage einer schmerzgebeugten Frau: „Ich bin Witwe, ich hatte nur einen Sohn, der mich unterstützte. Gib ihn mir zurück, o Herr!“

Wieder folgte Schweigen. Petrus stand vor den knienden Zuhörern, sorgenschwer, die Verkörperung von Alter, von Schwäche. Eine zweite Stimme fing jetzt zu klagen an: „Ich allein bin meinen Kindern geblieben; wer wird ihnen Brot und Wasser geben, wenn ich ihnen genommen werde?“

Dann eine dritte: „Linus wurde erst geschont, jetzt haben sie ihn geholt und gemartert, Herr!“

Nun eine vierte: „Sobald wir nach unseren Häusern zurückkehren, werden uns Prätorianer ergreifen; wir wissen nicht, wo wir uns bergen sollen.“

„Weh uns! Wer wird uns beschützen?“

Und so hörte man in der Stille der Nacht Klage um Klage. Der greise Fischer schloß die Augen und schüttelte das weiße Haupt ob all dem Kummer und dem menschlichen Schmerz. Neues Schweigen trat ein. Die Wächter gaben nur leise Zeichen nach dem Schuppen hin.

Da begann Petrus zu reden, anfänglich mit kaum vernehmbarer Stimme: „Meine Kinder! Auf Golgatha sah ich sie Gott ans Kreuz nageln. Ich hörte die Hammerschläge und sah das Kreuz erhöhen, damit das Volk das Schauspiel seines Todes sehen könne. Ich sah ihn sterben, und ich sah sie seine Seite öffnen. Als ich von der Kreuzigung heimkehrte, rief ich im Schmerz, wie ihr rufet: Wehe, wehe! O Herr, du bist Gott? Warum hast du solches zugelassen? Warum bist du gestorben, und warum hast du die Herzen derer betrübt, die da glaubten, daß dein Reich komme? Aber er, unser Herr und Gott, ist am dritten Tage von den Toten auferstanden; er war bei uns, bis er mit großer Herrlichkeit in sein Reich einging. Und wir, die wir unsere Kleingläubigkeit einsahen, wurden stark im Geiste und säen seit jener Zeit seinen Samen.“

Dann wandte er sich jener Seite zu, von wo die erste Klage gekommen war, und sprach mit stärkerer Stimme: „Warum beklagt ihr euch? Gott gab sich selbst der Marter und dem Tode hin, und ihr wollt nun, daß er euch bewahre? Ihr Kleingläubigen, habt ihr so seine Lehre aufgenommen? Hat er euch denn nichts als das Leben versprochen? Er kommt zu euch und spricht: Folget mir nach! Er hebt euch zu sich, und ihr klammert euch mit den Händen an diese Erde und rufet: Herr, rette uns! Vor Gott bin ich Staub, aber vor euch sein Apostel und Statthalter. Ich spreche zu euch im Namen Christi. Nicht Tod wartet auf euch, sondern das Leben, nicht Qual, sondern endlose Wonne, nicht Seufzen und. Klagen, sondern froher Gesang, nicht Dienstbarkeit, sondern Herrschaft. Ich, der Apostel des Herrn, sage euch: O Witwe, dein Sohn wird nicht sterben; er wird zur Herrlichkeit, zum ewigen Leben geboren, du wirst wieder mit ihm vereinigt werden! Euch, ihr Mütter, die sie von den Waisen reißen, euch, die ihr die Väter verliert, euch, die ihr euch beklaget, euch, die ihr den Tod geliebter Personen sehen müßt, euch, den Sorgenden, Unglücklichen, Furchtsamen, euch, die ihr sterben müßt, erkläre ich im Namen Christi, daß ihr aus dem Schlafe zu einem glücklichen Leben erwachen werdet, aus der Nacht zum Lichte Gottes. Laßt im Namen Christi die Binde von euren Augen fallen und eure Herzen sich erleuchten!“

Nach diesen Worten erhob er wie gebietend seine Hand, und sie fühlten neues Blut in ihren Adern und Zittern durch all ihre Gebeine, denn vor ihnen stand nicht ein schwacher, sorgenbeladener Greis, sondern ein gewaltiger Fürst, der ihre Seele hinriß und aus Erdenstaub und Schrecken hob.

„Amen!“ rief eine große Stimmenzahl.

Aus des Apostels Auge strahlte ein immer helleres Licht, Macht ging von ihm aus, Majestät und Heiligkeit. Die Häupter beugten sich vor ihm. Die Verzagten ermannten sich, in die Zweifelnden ergossen sich Ströme des Glaubens. Einige riefen: Hosianna!, andere: Pro Christo!

Petrus, in seiner Vision verharrend, betete noch lange. In die Wirklichkeit zurückgekehrt, sah er mit leuchtendem Gesichte, erleuchtet vom Geiste Gottes, auf die Versammlung und sprach:

„Wie der Herr euren Zweifel gelöst hat, so werdet ihr in seinem Namen zum Siege gehen.“ Obwohl er wußte, daß sie siegen würden und was aus diesen Tränen sprießen werde, zitterte seine Stimme doch vor Bewegung, als er sie mit dem Kreuze segnete und sprach: „Ich segne euch jetzt, meine Kinder, die ihr zur Marter, zum Tode, zur Ewigkeit geht!“

Sie umringten ihn und weinten. „Wir sind bereit!“ waren ihre Worte, „aber du, o heiliges Haupt, schütze du dich; denn du bist der Statthalter Christi und vollziehst dessen Amt.“ Bei diesen Worten ergriffen sie seinen Mantel; er aber legte ihnen die Hände aufs Haupt und segnete noch jeden einzeln, wie ein Vater seine Kinder, die er auf eine weite Reise schickt.

Dann verließen sie rasch den Schuppen, denn sie hatten Eile, um zuerst heim und von da in die Gefängnisse und nach der Arena zu kommen. Ihre Gedanken gehörten nicht mehr der Erde an, ihre Seelen hatten den Flug ins Jenseits genommen. So wandelten sie hin wie in einem Traume, in der größten Bereitwilligkeit, die in ihnen wohnende Kraft der Wildheit und Grausamkeit der Bestien entgegenzusetzen.

Markus, der Diener des Pudens, nahm den Apostel mit sich und führte ihn auf einem geheimen Pfade des Weingartens zu seinem Hause. Begünstigt durch die Helle der Nacht, folgte ihnen Vinicius, und als sie die Hütte erreicht hatten, warf er sich plötzlich zu des Apostels Füßen.

„Was wünschest du, mein Sohn?“ fragte Petrus, der ihn erkannte.

„Herr,“ schluchzte Vinicius und umschlang die Füße des Apostels, „Herr, du hast Christus gekannt. Bitte ihn, daß er Lygia hilft. Und wenn Blut gefordert wird, so flehe zu Christus, meines anzunehmen, ich bin ja Soldat. Du selber liebtest Lygia, du segnetest uns. Sie ist noch ein unschuldig Kind!“

Petrus schloß die Lider und betete mit tiefem Ernste. Draußen erhellte ein Wetterleuchten den Himmel. Vinicius sah in seinem Lichte auf des Apostels Lippen, das Urteil über Leben und Tod davon erwartend. Durch die Stille klang Wachtelruf im Weingarten und das einförmige, entfernte Geräusch der Tretmühlen in der Nähe der Via Salaria.

„Vinicius,“ fragte endlich der Apostel, „glaubst du?“

„Würde ich hierhergekommen sein, wenn ich nicht glaubte?“ erwiderte Vinicius.

„Dann glaube bis ans Ende, denn der Glaube kann Berge versetzen. Solltest du jenes Mädchen selbst unter dem Schwert der Henker oder zwischen den Zähnen der Löwen sehen, so glaube dennoch, daß Christus es retten kann. Glaube und bete zu ihm und ich will mit dir beten.“ Nun erhob er die Augen zum Himmel und betete mit lauter Stimme: „O barmherziger Christus, sieh auf das gequälte Herz und tröste es. O barmherziger Christus, mäßige den Sturm der Verfolgung um des Schwachen willen! O barmherziger Christus, der du den Vater batest, den bitteren Kelch an dir vorübergehen zu lassen, laß ihn an diesem deinem Diener vorübergehen! Amen!“ Der Himmel begann sich im Osten aufzuhellen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Quo Vadis?