Kapitel 33 - Der Weber Macrinus, in dessen Wohnung Vinicius gebracht worden war, trug Sorge für ihn ...

Der Weber Macrinus, in dessen Wohnung Vinicius gebracht worden war, trug Sorge für ihn und reichte ihm Kleider und Nahrung. Er war ein Christ und bestätigte die Behauptung des Chilon, daß sich Linus mit Clemens, dem ältesten Priester, in das Ostranium begeben habe, wo Petrus eine ganze Schar der Bekenner des neuen Glaubens taufen sollte. In diesem Stadtteil war es auch unter den Christen bekannt, daß Linus vor zwei Tagen einem gewissen Gaius die Obhut über sein Haus anvertraut hatte. Für Vinicius war dies ein Beweis, daß weder Lygia noch Ursus im Hause zurückgeblieben waren, und daß sie sich gleichfalls in das Ostranium begeben haben mußten.

Dieser Gedanke gewährte ihm große Erleichterung. Er sah darin eine Fügung Christi, dessen Schutz er über sich fühlte. Nun drängte es ihn aber auch, nach dem Ostranium zu eilen. Er würde dort Lygia finden und Petrus und dann beide auf eines seiner Güter bringen. Mochte Rom brennen; in einigen Tagen mußte alles ein Haufen Asche sein, warum sollte er in der Nähe des rasenden Pöbels verbleiben, statt auf seinen Landgütern, von Scharen treuer Diener beschützt, ländliche Ruhe zu genießen und in Frieden, von Petrus gesegnet, unter den Fittichen Christi zu leben? Oh, wenn er sie fände!


Es war das freilich nicht leicht, denn das Gewirr in den Straßen hatte sich inzwischen noch vergrößert. Macrinus, der zur Bewachung seines Hauses zurückbleiben mußte, verschaffte ihm zwei Esel, die auch Lygia zur Weiterreise dienlich sein konnten. Überdies wollte er einen Sklaven mitgeben. Doch Vinicius schlug es aus, in der Annahme, die erste ihm begegnende Abteilung von Prätorianern würde sich unter seinen Befehl stellen.

Er und Chilon setzten sich in Bewegung. Es gab wohl auf ihrem Wege da und dort Stockungen; allein sie wandten sich zwischen den Karren mit geringer Schwierigkeit hindurch, weil der größere Teil der Anwohner dem Meere zu geflohen war. Vinicius trieb sein Tier zur höchsten Leistung an, während Chilon sich hinter dem Tribun hielt und beständig mit sich selbst sprach. Vinicius brach zuerst das Schweigen.

„Wo warst du beim Ausbruche des Feuers?“

„Eben war ich im Begriffe, o Gebieter, zu meinem Freunde Euricius zu gehen, der einen Kramladen beim Circus Maximus besaß. Ich sann gerade über die Lehre Christi nach, als der Ruf ertönte: Feuer! Die Leute drängten sich um den Circus aus Neugierde und Angst; doch als die Flammen den Circus und andere Häuser ergriffen, dachte jeder nur an seine Rettung.“

„Sahst du jemanden Brandfackeln in die Häuser werfen?“

„Was habe ich nicht alles sehen müssen! Ich sah Leute, die sich mit dem Schwert den Weg bahnten; ich sah Schlachten; menschliche Eingeweide wurden auf dem Pflaster zertreten. Überall hörte man schreien, das Ende der Welt sei da. Viele verloren den Kopf und blieben wie angewurzelt stehen, bis die Flammen sie umloderten. Einige wurden wahnsinnig, andere heulten vor Verzweiflung. O Gebieter, es gibt auf Erden so viele schlechte Menschen, welche die Wohltat eurer milden Herrschaft nicht würdigen und jene gerechten Gesetze nicht lieben, kraft deren ihr ihnen alles nehmt und es für euch behaltet. Diese Leute werden sich mit dem Willen Gottes nicht aussöhnen.“

Vinicius war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um den Hohn in Chilons Worten herauszufühlen. Wohl zum zehntenmal wiederholte er die Frage: „Aber sahst du sie in der Tat mit eigenen Augen im Ostranium?“

„Ich sah sie, Herr. Ich sah das Mädchen, den gutmütigen Lygier, den heiligen Linus und Petrus, den Apostel.“

„Vor dem Brande?“

„Vor dem Brande, o Midras!“

Zweifel an Chilons Wahrheitsliebe stiegen in Vinicius auf; er zügelte sein Tier, blickte den Griechen drohend an und fragte: „Was hattest du dort zu schaffen?“

Chilon war verwirrt. Freilich hatte er, wie so viele andere, die Überzeugung, mit Rom müsse auch die Römerherrschaft untergehen. Aber er stand wehrlos Vinicius gegenüber und erinnerte sich, unter welcher Drohung der Tribun ihm verboten hatte, die Christen, vor allem Linus und Lygia, zu überwachen.

„Gebieter,“ sagte er, „warum willst du mir nicht glauben, daß ich die Christen liebe? Ich bin zur Hälfte ein Christ; darum ging ich nach dem Ostranium. Ich hänge mich mehr und mehr an tugendhafte Leute. Zudem bin ich arm und litt, als du in Antium warst, über meinen Büchern häufig Hunger. Darum saß ich vor den Mauern des Ostraniums; denn die Christen, obschon arm, teilen mehr Almosen aus, denn alle anderen Bewohner Roms zusammen.“

Dieser Grund leuchtete Vinicius ein, so daß er weniger streng fragte: „Weißt du, wo Linus gegenwärtig wohnt?“

„Du straftest mich einst hart für meine Neugierde,“ erwiderte der Grieche.

Vinicius sagte nichts weiter, sondern ritt vorwärts.

„Gebieter,“ ließ sich Chilon nach einer Weile vernehmen, „ohne mich würdest du das Mädchen nicht gefunden haben. Du wirst doch den bedürftigen Weisen nicht vergessen?“

„Du sollst in Ameriola ein Haus mit einem Weinberg haben.“ „Hab Dank, o Herkules! Mit einem Weinberg? Hab Dank! O ja, mit einem Weinberg!“ plötzlich zügelte Chilon an der Naumachia sein Tier und sagte: „Ein guter Einfall kam mir soeben. Zwischen dem Janiculus und dem vatikanischen Hügel, jenseits der Gärten der Agrippina, gibt es Höhlen, weil man Steine und Sand zum Bauen des Circus Neros dorther nahm. Nun höre: kürzlich haben die Juden, deren es, wie du weißt, im Transtiber eine Menge gibt, die Christen grausam zu verfolgen begonnen. Du wirst dich erinnern, daß sie zur Zeit des Claudius so große Störungen verursachten, daß Cäsar gezwungen war, sie aus Rom zu verbannen. Allein sie kamen zurück, und unter Poppäas Schutz sich sicher fühlend, belästigen sie jetzt die Christen ärger denn je. Ich war selbst Zeuge davon. Zwar ist noch kein Edikt gegen die Christen erlassen worden, doch behaupten die Juden vor dem Präfekten, die Christen ermordeten Kinder, beteten einen Esel an und lehrten eine Religion, die vom Senat nicht anerkannt sei. Sie schlagen die Christen, überfallen deren Gebethäuser so grimmig, daß jene gezwungen sind, sich zu verbergen. Die Christen von Transtiber nun haben für sich die Höhle gewählt, die infolge des Circusbaues entstanden ist. Jetzt, wo die Stadt untergeht, sind die Christen im Gebet versunken. Ohne Zweifel werden wir eine Anzahl derselben in der Höhle finden; es wäre gut, wenn wir dorthin gingen. Im schlimmsten Falle erhalten wir dort Nachricht, wo Linus und Lygia stecken.“

„Du hast recht, geh voran!“

Chilon lenkte sogleich nach links, dem Vatikanischen Hügel zu. Für einen Augenblick verbarg der Abhang das Feuer, so daß die beiden im Schatten ritten, während die benachbarten Höhen hell erleuchtet waren. Als sie den Circus hinter sich hatten, bog Chilon wieder links ab, und die beiden befanden sich in einer Art Gasse, die vollständig finster war. Eine Menge Lichter flackerten in dieser Finsternis.

„Dort sind sie,“ sagte Chilon. „Es sind ihrer mehr als jemals, weil andere Bethäuser verbrannt oder voll Rauch sind.“

„Ich höre Gesang,“ gab Vinicius zur Antwort.

Wirklich drangen Stimmen singender Menschen aus dem dunklen Eingang. Ein Licht nach dem anderen verschwand. Aus Seitengängen kamen beständig neue Gestalten, so daß Vinicius und Chilon sich bald mitten in einer großen Schar befanden. Chilon sprang vom Esel herab, winkte einem Knaben zu, der in der Nähe saß, und sagte: „Ich bin ein christlicher Priester. Halte die Tiere, du wirst dafür meinen Segen und Vergebung deiner Sünden erhalten.“ Ohne auf Antwort zu warten, warf er ihm die Zügel zu und folgte mit Vinicius der vorwärtsschreitenden Schar.

Bald gelangten sie in eine grubenförmige Höhlung; die Wände zeigten deutlich, daß hier Steine gebrochen wurden, denn die Brüche waren noch frisch. Es war hier weniger finster als im Eingang, weil außer Kerzen und Laternen noch Fackeln brannten. In ihrem Schein sah Vinicius eine Menge kniender Beter mit erhobenen Armen. Lygia, Linus und Petrus waren jedoch nicht zu sehen unter diesen feierlich ernsten Gesichtern. Die einen sangen Hymnen, die anderen riefen in fieberhafter Erregung den Namen Jesus an, viele schlugen an die Brust. Augenscheinlich erwarteten sie irgendein Zeichen des Himmels. Inzwischen war die Hymne zu Ende, über der Versammlung, in der Nische, die durch Entfernung eines riesigen Steinblocks entstanden sein mußte, erschien Crispus, blaß, erbarmungslos, fanatisch. Aller Augen waren auf ihn gerichtet, in Erwartung tröstender Worte. Er segnete die Gemeinde und begann mit lauter, beinahe schreiender Stimme: „Beweint eure Sünden, denn die Stunde ist da! Sehet der Herr sandte das Feuer der Zerstörung auf Babylon herab, auf die Stätte der Verworfenheit und des Verbrechens. Die Stunde des Gerichts hat geschlagen und die Stunde des Zornes und der Rache. Der Herr hat versprochen zu kommen; bald werdet ihr ihn schauen. Nicht als Lamm, das sein Blut für eure Sünden hingab, wird er erscheinen, sondern als furchtbarer Richter, der in seiner Gerechtigkeit Sünder und Ungläubige in den Pfuhl schleudert. Wehe der Welt, wehe den Sündern! Keine Gnade erwartet sie! Ich schaue dich, Christus! Sterne fallen in einem Regen zur Erde, die Sonne hat sich verfinstert, die Erde öffnet gähnende Schlünde und die Toten entsteigen ihren Gräbern. Du aber erscheinst mit Posaunengeschmetter und Legionen von Engeln, unter Donner und Blitz. Ich schaue, ich höre dich, Christus!“

Er schwieg darauf und erhob die Augen, die auf eine ferne, furchtbare Erscheinung zu starren schienen. Ein dumpfes Getöse erklang in diesem Augenblick durch die Höhle: einmal, noch einmal, zum zehntenmal. In der brennenden Stadt brachen ganze Straßen zusammen. Doch die meisten Christen hielten dieses Getöse für ein deutliches Vorzeichen einer furchtbaren Stunde. Der Glaube an Christi Wiederkunft und das Ende der Welt war allgemein unter ihnen verbreitet, besonders seitdem der schreckliche Brand ausgebrochen. Entsetzen faßte die Gemeinde. Viele schrien: „Der Tag des Gerichts! Sehet, er ist da!“ Die einen vergruben ihr Antlitz in die Hände und glaubten die Erde in ihren Grundfesten erschüttert und Tiere der Hölle aus den Schlünden auf die Sünder losstürzen zu sehen, die andern riefen: „Christus, erbarme dich unser! Erlöser, sei uns gnädig!“ Viele bekannten laut ihre Sünden; einer warf sich dem andern in die Arme, um in der Stunde der Trübsal nicht allein zu sein.

Daneben sah Vinicius Gesichter, die in den Himmel entrückt schienen, mit einem Lächeln, das nichts Irdisches hatte; sie zeigten keine Furcht. Aus einer Ecke drangen Angstrufe in unbekannten Sprachen. Einer schrie: „Wacht auf, die ihr schlafet!“ Alle übertönte Crispus: „Wachet, wachet!“

Plötzlich erscholl ein noch lauterer Krach als jeder frühere. Alle fielen zur Erde und hielten die Arme in Kreuzesform vor sich, um sich durch dieses Zeichen vor bösen Geistern zu schützen. Bange Stille herrschte, zuweilen unterbrochen durch die ängstlich geflüsterten Rufe „Jesus! Jesus! Jesus!“ und das Wimmern der Kinder.

In diesem Augenblick ertönten über der hingestreckten Gemeinde die Worte: „Friede sei mit euch!“ Sie kamen von Petrus, dem Apostel, der kurz zuvor die Höhle betreten hatte. Beim Klange seiner Stimme wich jede Angst aus den Herzen der Beter, wie die Furcht aus einer Herde weicht, wenn der Hirte erscheint. Die Gestalten erhoben sich von der Erde; die näheren sammelten sich um seine Knie, als suchten sie bei ihm Schutz. Er streckte die Hände über sie aus und sagte: „Warum zaget ihr in eurem Herzen? Wer von euch weiß, was geschehen wird, ehe die Stunde kommt? Der Herr hat Babylon mit Feuer gezüchtigt, doch seine Gnade ruht auf jenen, die er in der Taufe gereinigt hat. Ihr, deren Sünden im Blute des Lammes getilgt sind, werdet mit seinem Namen auf den Lippen sterben. Friede sei mit euch!“

Nach des Crispus erbarmungslosen Worten wirkte diese Rede des Apostels auf alle wie Balsam. Statt der Furcht vor Gott ergriff Liebe zu ihm ihre Seelen. Sie fanden den Christus wieder, den sie durch die Erzählungen des Apostels lieben gelernt hatten; also nicht einen unbarmherzigen Richter, sondern ein mildes, geduldiges Lamm, dessen Erbarmen menschliche Bosheit tausendfach übersteigt. Trost drang in aller Herzen, erleichtert blickten sie dankbar zu Petrus auf. Von allen Seiten hörte man rufen: „Wir sind deine Schafe, weide uns!“ Näher bei ihm Kniende baten: „Verlaß uns nicht in der Stunde der Trübsal!“

Vinicius faßte den Mantel des Apostels, kniete nieder und sagte: „Rette mich, Herr! Ich habe im Rauche des Feuers und im Gedränge des Volkes nach ihr gesucht; nirgends fand ich sie. Allein ich glaube, daß du sie mir wiedergeben kannst.“

Petrus legte die Hand auf das Haupt des jungen Kriegers und sagte: „Vertraue und komm mit mir!“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Quo Vadis?