Kapitel 12 - Tags darauf hatte sich Petronius im Unctuarium kaum angekleidet, als Vinicius erschien, ...

Tags darauf hatte sich Petronius im Unctuarium kaum angekleidet, als Vinicius erschien, der durch Teiresias herbeigerufen worden war. Zwar wußte der junge Mann, daß noch keine neue Kunde von den Wachen gekommen war, doch beruhigte ihn diese Nachricht nicht, denn Ursus konnte das Mädchen sofort nach der Entführung aus der Stadt gebracht haben. Auch gab es noch andre außerhalb der Stadtmauern führende Pfade, die den Sklaven, welche entweichen wollten, wohl bekannt waren. In Sklavenkleidung hatte Vinicius selbst nach ihr und Ursus gesucht und war dabei auch schon mit den Dienern des Aulus zusammengetroffen, die ebenfalls jemand zu suchen schienen.

Hieraus konnte Vinicius schließen, daß es nicht Aulus gewesen, der Lygia entführt hatte, und daß auch der Feldherr ihren Aufenthaltsort nicht kannte.


Als ihm jedoch Teiresias mitteilte, daß es einen Menschen gebe, der sie auffinden wolle, eilte er zu Petronius und fragte, nur kurz grüßend, über die Angelegenheit mit jenem Manne.

„Wir werden ihn gleich sehen,“ sagte Petronius, „er ist ein Bekannter Eunikes, die sogleich kommen wird, die Falten meiner Toga zu ordnen, und uns Näheres mitteilen wird.“

In diesem Augenblick erschien auch schon Eunike. Sie nahm die Toga von dem mit Elfenbein ausgelegten Sessel, auf dem sie lag, und entfaltete sie, um sie dem Petronius über die Schultern zu werfen; ihr Antlitz war heiter und still, und die Augen strahlten vor Freude.

Petronius sah sie an und sie erschien ihm sehr schön. Als sie ihm die Toga umgelegt hatte, bückte sie sich von Zeit zu Zeit, um die Falten herabzuziehen. „Eunike! Ist der Mann gekommen, den du dem Teiresias gestern bezeichnet hast?“

„Ja, Herr.“

„Wie heißt er?“

„Chilon Chilonides, Herr.“

„Wer ist er?“

„Ein Arzt, Weiser und Wahrsager, der in den Geschicken der Menschen zu lesen versteht und die Zukunft weissagt.“

„Hat er auch dir wahrgesagt?“

Eine dunkle Röte übergoß das Antlitz Eunikes, sogar Ohren und Hals. „Ja, Herr.“

„Was hat er dir geweissagt?“ „Er weissagte mir Schmerz und Glück.“

„Gestern traf dich der Schmerz aus der Hand Teiresias, jetzt müßte also noch das Glück kommen, Eunike!“

„Es ist schon gekommen, Herr!“

„Was für ein Glück?“

Sie flüsterte leise: „Ich durfte hierbleiben!“

Petronius legte die Hand auf ihr goldig schimmerndes Haupt. „Du hast heute die Falten sehr schön gelegt, Eunike, ich bin mit dir zufrieden!“

Petronius und Vinicius begaben sich in das Atrium, wo Chilon Chilonides ihrer wartete und sie mit einer tiefen Verbeugung begrüßte. Bei der Erinnerung an seine gestrige Vermutung, daß dieser Mann vielleicht Eunikes Geliebter sei, umspielte ein Lächeln des Petronius Lippen. Daß der Mann, der nun vor ihm stand, von irgend jemand geliebt ward, war undenkbar. Er war ebenso unsauber, wie seine Gestalt lächerlich. Der eingefallene Bauch und der gekrümmte Rücken ließen ihn auf den ersten Blick verwachsen erscheinen; über dem Buckel erhob sich ein ziemlich großer Kopf mit dem Gesicht eines Fuchses. Petronius mußte bei seinem Anblick unwillkürlich an den homerischen Thersites denken, und er sagte daher, seine Verneigung mit einer grüßenden Handbewegung erwidernd:

„Sei mir gegrüßt, göttlicher Thersites! was machen die Beulen, die dir Ulysses bei Troja geschlagen, und was macht er selbst in den elysäischen Gefilden?“ „Edler Herr,“ versetzte Chilon Chilonides, „der Weiseste unter den Toten, Ulysses, sendet durch mich seine Grüße an den Weisesten unter den Lebenden, Petronius, mit der Bitte, meine Beulen mit einem neuen Mantel zu verhüllen.“

„Fürwahr,“ rief Petronius, „diese Antwort ist einen Mantel wert.“

Die weitere Unterredung unterbrach Vinicius ungeduldig und fragte:

„Weißt du auch genau, was wir von dir wollen?“

„Wenn zwei Familien in zwei stattlichen Häusern von nichts anderem sprechen und halb Rom die Neuigkeit erzählt, ist es nicht schwer zu wissen, um was es sich handelt,“ versetzte Chilon.

„Gestern Nacht wurde ein Mädchen, der Pflegling des Aulus Plautius, mit Namen Lygia, oder Callina, geraubt, das deine Sklaven, o Herr, aus dem Kaiserpalast in dein Haus führen sollten, und ich unternehme es, dieses Mädchen aufzufinden und dir, edler Tribun, anzuzeigen, wohin sie geflohen ist und wo sie sich verborgen hält.“

„Gut,“ sagte Vinicius, dem diese bündige Antwort gefiel, „welche Mittel willst du aber anwenden?“

Chilon lächelte schlau. „Die Mittel besitzest du, Herr, ich habe nur den Verstand.“

Petronius lächelte gleichfalls, denn er war von seinem Gaste vollkommen befriedigt. Dieser Mensch kann das Mädchen finden, dachte er.

Vinicius hingegen runzelte seine Brauen und sagte: „Elender, wenn du mich in gewinnsüchtiger Absicht hintergehst, lasse ich dich mit Stöcken erschlagen!“

„Ich bin ein Philosoph, Herr, und ein Philosoph kann niemals gewinnsüchtig sein, vornehmlich wenn es sich um eine Belohnung handelt, wie die, welche du mir großmütigerweise in Aussicht gestellt.“

„Ach, du bist ein Philosoph?“ bemerkte nun Petronius. „Eunike sagte mir, du wärest Arzt und Wahrsager, woher kennst du Eunike?“

„Sie kam zu mir um Rat, denn der Ruhm meines Namens war bis an ihr Ohr gedrungen.“ „Zu welcher Schule gehörst du, göttlicher Weiser?“

„Ich bin ein Zyniker, Herr, denn ich habe einen zerfetzten Mantel; ich bin ein Stoiker, denn ich trage meine Armut mit Geduld; ich bin ein Periphatiker, denn ich habe keine Sänfte und wandre daher zu Fuß von einer Schenke zur andern und lasse allen denen meine Lehren zu Gute kommen, die mir einen vollen Krug versprechen.“

„Beim Kruge wirst du zum großen Redner?“

„Heraklit sagte: ›alles fließt‹, und du wirst doch nicht leugnen, daß Wein eine Flüssigkeit ist?“

„Er verkündete auch, daß das Feuer eine Gottheit ist, also ist die Röte auf deiner Nase auch eine Gottheit.“

Aber Vinicius hatte keine Geduld für solche Unterhaltungsfeinheiten.

„Wann wirst du deine Nachforschungen beginnen?“ fragte er, das Gespräch unterbrechend.

„Ich habe bereits begonnen,“ antwortete Chilon. „Und da ich nun einmal hier bin, da ich deine wohlwollenden Fragen beantworte, muß ich wohl auch nach dem Mädchen suchen. Habe Vertrauen, edler Tribun und wisse, wenn du den Riemen von deinem Schuh verlieren würdest, wäre ich imstande, den Riemen zu finden oder den, welcher ihn auf der Straße aufgehoben hat.“

„Bist du denn schon zu ähnlichen Diensten verwendet worden?“ fragte Petronius.

Den Blick emporrichtend, sagte der Grieche: „Zu niedrig werden heute Tugend und Weisheit geschätzt, als daß ein Philosoph nicht auf andere Mittel sinnen müßte, um sein Leben zu fristen.“

„Du mußt aber bisher wenig Glück bei solchen Nachforschungen gehabt haben, wenn es dir bisher nicht einmal gelungen ist, einen neuen Mantel dafür zu ersparen.“

„O Herr, mein Verdienst ist nicht gering, aber die Dankbarkeit der Menschen ist gering. Ist ein wertvoller Sklave entflohen, wer findet ihn wieder, wenn nicht der einzige Sohn meines Vaters? Wenn auf den Mauern Inschriften auf die göttliche Poppäa entdeckt worden, wer zeigt die Urheber an? Wer stöbert in den Buchläden die Verse auf den Cäsar auf? Wer kann hinterbringen, was in den Häusern der Senatoren und Ritter gesprochen wird? Wer trägt die Briefe fort, die man den Sklaven nicht anvertrauen will? Wer hört alle Neuigkeiten, die vor den Türen der Barbiere verhandelt werden? Wem ist das Zutrauen der Sklaven zuteil geworden? Wer hat Einblick in die Häuser vom Atrium bis zu den Gärten? Wer kennt alle Straßen und Gassen und Schlupfwinkel?“

„Gut,“ unterbrach ihn Vinicius. „Brauchst du noch besondere Hinweise?“

„Ich brauche Waffen.“

„Welcher Art?“ fragte Vinicius voll Verwunderung.

Der Grieche hielt ihm die eine Hand hin, während er mit der andern Bewegungen machte, als ob er Geld zähle. „So sind die jetzigen Zeiten, Herr,“ sagte er seufzend.

Vinicius warf ihm einen Beutel zu, den der Grieche in der Luft auffing, obwohl ihm zwei Finger an der rechten Hand fehlten. Darauf hob er stolz das Haupt und sagte: „Herr, ich weiß mehr, als du glaubst. Ich bin nicht mit leeren Händen hierher gekommen. Ich weiß, daß nicht Aulus das Mädchen entführen ließ, denn ich sprach mit seinen Dienern. Ich weiß, daß es nicht auf dem Palatinus ist, wo alles um die kranke kleine Augusta beschäftigt ist; und kann vielleicht auch erraten, warum ihr vorzieht, das Mädchen mit meiner Hilfe zu finden und nicht mit jener der kaiserlichen Wachen und Kriegsleute. Ich weiß auch, daß ein Sklave, der aus demselben Lande wie sie stammt, ihr bei der Flucht geholfen hat. Bei den Sklaven, die ja alle zusammenhalten, hätte er, weil es gegen deine Sklaven ging, keine Unterstützung gefunden. Es können ihm also nur seine Glaubensgenossen beigestanden haben.“

„Höre, Vinicius,“ unterbrach hier Petronius den Griechen, „habe ich dir nicht Wort für Wort dasselbe gesagt?“

„Welche Ehre für mich!“ sagte Chilon. „Das Mädchen,“ fügte er hinzu, sich wieder zu Vinicius wendend, „huldigt zweifellos derselben Gottheit wie die Tugendhafteste der Römerinnen, Pomponia. Ich habe auch gehört, daß du, Herr, etliche Tage im Hause des Aulus warst, kannst du mir über ihren Glauben Auskunft geben?“

„Ich kann das nicht,“ versetzte Vinicius. „Erlaube, edler Herr, noch eine Frage. Hast du dort keine besonderen Statuen, Opfer oder Zeichen entdeckt?“

„Zeichen? Warte, ja! Ich sah einmal, wie Lygia einen Fisch in den Sand zeichnete.“

„Einen Fisch! Oh! Tat sie dies einmal oder öfter?“

„Nur einmal.“

„Und weißt du bestimmt, Herr, daß es gerade ein Fisch war?“

„Natürlich,“ versetzte Vinicius, neugierig geworden. „Errätst du, was das bedeutet?“

„Ob ich es errate!“ rief Chilon. Und mit einer verabschiedenden Bewegung fügte er hinzu: „Möge Fortuna euch mit all ihren Gaben überschütten, edle, freigebige Herren!“

„Laß dir einen Mantel geben,“ rief ihm Petronius nach.

„Ulysses dankt dir in Thersites Namen,“ entgegnete der Grieche. Noch eine Verbeugung und er verschwand.

„Was sagst du zu diesem edlen Weisen?“ fragte Petronius.

„Ich sage, daß er Lygia finden wird,“ rief Vinicius erfreut, „aber wenn es ein Reich von Gaunern gäbe, so müßte er König in diesem Reiche sein.“

„Ganz gewiß. Ich muß noch nähere Bekanntschaft mit diesem Stoiker machen, unterdessen aber will ich das Atrium ausräuchern lassen, dessen Atmosphäre er verpestet hat.“

Chilon Chilonides warf sich indessen in den neuen Mantel und spielte unter dessen Falten mit dem von Vinicius erhaltenen Beutel, wobei er sich an dessen Wohlklang und Gewicht ergötzte. Langsam vorwärtsschreitend wandte er sich der Subura zu.

„Endlich habe ich gefunden, was ich schon lange suchte,“ sagte er zu sich selbst. „Er ist jung, feurig und freigebig, obgleich sein Stirnrunzeln nichts Gutes bedeutet. Da heißt es vorsichtig sein! Also einen Fisch hat sie in den Sand gemalt? Nun, das will ich schon erfahren, was dieser Fisch bedeutet, und er soll mich für diesen Fisch noch besonders bezahlen.“

So redend, betrat er eine Weinstube und ließ sich einen Krug Dunklen geben. Doch als er den mißtrauischen Blick des Wirtes bemerkte, zog er ein Goldstück aus dem Beutel und sagte, es auf den Tisch legend: „Sporus, heute habe ich von Tagesanbruch bis Mittag mit Seneka gearbeitet, und dieses hier hat mir mein Freund dafür auf den Weg gegeben.“

Die runden Augen des Wirts wurden bei diesem Anblick noch runder, und der Wein stand schon im nächsten Augenblick vor Chilon. Dieser aber tauchte den Finger hinein, zeichnete einen Fisch auf die bestaubte Tischplatte und fragte: „Weißt du, was das bedeutet?“

„Einen Fisch? Nun Fisch ist Fisch.“

„Du bist sehr dumm, obwohl du so viel Wasser deinem Weine beimischest, daß sehr leicht auch ein Fisch darin leben könnte. Das ist ein Symbol, welches in der Philosophensprache bedeutet: Lächeln Fortunas! Hättest du es zu deuten vermocht, dann wäre dir vielleicht auch Glück zuteil geworden. Ich sage dir, achte die Philosophie, sonst wechsele ich noch die Weinstube, wozu mich mein ganz besonderer Freund Petronius schon seit langer Zeit zu überreden sucht.“

Chilon ließ sich in den nächstfolgenden Tagen nicht blicken. Seit Akte dem Vinicius verraten hatte, daß er geliebt werde, war er noch hundertmal mehr als zuvor darauf bedacht, das junge Mädchen ausfindig zu machen, und suchte auf eigene Faust nach Lygia. Den Kaiser wollte und konnte er nicht um Beistand angehen, da dieser noch immer in Angst und Sorge um die Gesundheit der kranken kleinen Augusta lebte.

Aber die Opfer in den Tempeln, die Gebete und Gelübde halfen ebensowenig als die ärztliche Kunst und alle Zaubermittel, zu welchen man schließlich seine Zuflucht genommen hatte. Nach einer Woche starb das Kind. Der Hof und ganz Rom hüllten sich in Trauer. Der Kaiser, der sich bei der Geburt vor Freude wie wahnsinnig gebärdete, war jetzt fast wahnsinnig vor Verzweiflung; er schloß sich ein, nahm zwei Tage lang weder Speise noch Trank zu sich und wollte keinen Menschen sehen. Der Senat trat zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen, in welcher das tote Kind zur Göttin erhoben wurde. Überall wurden der kleinen Augusta Opfer dargebracht, ja, man goß aus kostbarem Metall Augustastatuen und stellte sie zur Anbetung aus. Das Begräbnis gestaltete sich zu einer großartigen Feier, bei der das Volk die maßlosen Schmerzensausbrüche des Kaisers anstaunen, mit ihm weinen und Hände nach Gaben ausstrecken, besonders aber an dem Schauspiel sich ergötzen konnte.

Petronius beunruhigte dieser Todesfall. Es war in ganz Rom bekannt, daß Poppäa ihn Zauberkünsten zuschrieb, und mit ihr behaupteten dies nicht nur die Ärzte, welche auf diese Weise die Unwirksamkeit ihrer Hilfsmittel am besten zu rechtfertigen vermochten, sondern auch die Priester, deren Opfer sich als erfolglos erwiesen hatten, die um das eigene Leben zitternden Wahrsager und das gesamte Volk. Lygias Flucht gewährte nun Petronius große Erleichterung, denn er wünschte weder dem Aulus noch Pomponia Schlimmes, und sich selbst und Vinicius wünschte er nur Gutes. Als daher die Zypresse, die man zum Zeichen der Trauer vor dem Palatinus aufgestellt hatte, entfernt worden war, begab er sich zu dem für die Senatoren und Augustianer veranstalteten Empfang.

Er kannte den Kaiser und wußte, daß er, wennschon er nicht an Zauber glaubte, doch tun werde, als ob er daran glaubte; teils deshalb, um einen noch größeren Schmerz heucheln zu können, teils, weil er an irgend jemand Rache zu nehmen gedachte, und um der Annahme vorzubeugen, daß ihn die Götter wegen seiner Sünden strafen wollten. Nach der Meinung des Petronius hatte der Kaiser sein Kind nicht wahr und tief, sondern oberflächlich, in einer verrückten Weise geliebt; trotzdem aber zweifelte er nicht daran, Zeuge maßloser Schmerzensausbrüche sein zu müssen.

Darin irrte er sich nicht. Mit starrem Gesichtsausdruck, das Auge unverwandt auf einen Punkt gerichtet, lauschte Nero den Trostesworten der Senatoren und Ritter, und es war deutlich zu sehen, daß, wenn er tatsächlich litt, er doch stets darauf bedacht war, mit seinem Schmerz Eindruck auf die Anwesenden zu machen. Als er Petronius erblickte, sprang er auf und rief in tragischen Tönen, so daß ihn alle hören konnten: „Eheu! – Ach, du bist schuld an ihrem Tode! Auf deinen Rat kam ein böser Geist in diese Mauern, welcher mit einem Blick das Leben in ihrer Brust ertötete ... Wehe mir! Besser wäre mir wenn meine Augen das Licht der Sonne nicht mehr schauten. Wehe mir! Eheu! Eheu!“

Die Stimme noch mehr erhebend, brach er in verzweiflungsvolle Schreie aus. Da beschloß Petronius, alles auf einen Wurf zu setzen, und die Hand ausstreckend, griff er nach dem seidenen Tuche, das Nero stets um den Hals zu tragen pflegte, riß es ab und drückte es auf die Lippen des Kaisers.

„Herr!“ sagte er ernst und feierlich, „magst du Rom, magst du die ganze Welt in deinem Schmerze zu Grunde richten, nur erhalte uns deine Stimme!“

Die Anwesenden staunten; einen Augenblick staunte Nero, nur Petronius allein bewahrte seine Ruhe. Er wußte, daß Terpnos und Diodor strengen Befehl hatten, den Mund des Kaisers zu berühren, wenn er, die Stimme allzusehr erhebend, diese einer Gefahr aussetzte.

„O Cäsar!“ sprach er weiter mit derselben traurigen Würde, „wir haben einen unermeßlichen Verlust erlitten, möge uns daher dieser Trost erhalten bleiben!“

Neros Antlitz zuckte und Tränen stürzten aus seinen Augen; er schlang die Arme um den Hals des Petronius, und das Haupt auf dessen Brust legend, rief er unter stetem Schluchzen: „Du allein von allen hast daran gedacht, du allein! Petronius, du allein!“

Tigellinus wurde gelb vor Neid, Petronius aber sagte: „Fahre nach Antium! Dort kam sie zur Welt, dort strömte die Wonne auf dich hernieder, dort ströme auch Beruhigung herab. Möge die Meeresluft deine Götterkehle erfrischen, deine Brust ihre salzige Feuchte einatmen! Wir Getreuen folgen dir überall hin, und wenn wir deinen Schmerz durch unsre Freundschaft zu besänftigen suchen, so besänftige du den unsern durch deinen Gesang.“ „Ja!“ entgegnete Nero klagend, „eine Hymne will ich dichten und in Musik setzen, die ihr Andenken verherrlichen soll.“

„Und dann suchst du die wärmere Sonne in Bajae auf.“

„Und dann – Vergessenheit in Griechenland.“

„In der Heimat des Gesangs und der Musik!“

Nach und nach wich die trübe Stimmung, und ein Gespräch entspann sich, in dem zwar noch die Trauer durchklang, in dem man aber doch schon Zukunftspläne schmiedete, sich über Reisen, über Kunstdarstellungen und über die Vorkehrungen unterhielt, die zu dem in Aussicht gestellten Besuch des armenischen Königs Tyridates getroffen werden sollten.

Petronius begab sich, als er den Palast verlassen hatte, zu Vinicius und sagte, nachdem er ihm den Vorfall mit Nero erzählt hatte: „Ich habe nicht nur die Gefahr von Aulus Plautius und Pomponia und uns beiden, sondern auch von Lygia abgewendet. Man wird sie nicht suchen, schon darum nicht, weil ich den feuerbärtigen Affen beredet habe, nach Antium zu fahren und von dort nach Neapel oder Bajae zu gehen, was er schon aus dem Grunde tun wird, weil er bisher nicht wagte, in Rom öffentlich im Theater aufzutreten, und sich schon lange vorgenommen hatte, in Neapel die Bretter zu betreten. Aber was ist dir? War unser edler Philosoph seither nicht hier?“

„Dein edler Philosoph ist ein Betrüger. Nein, er zeigte sich nicht und wird sich auch nicht zeigen.“

„Da habe ich eine bessere Meinung, nicht von seiner Ehrlichkeit, aber von seinem Verstand. Er hat schon einmal deinen Beutel bluten lassen und wird es noch einmal versuchen.“

„Er möge sich hüten, daß ich ihn nicht bluten lasse!“

„Laß das lieber, aber gib ihm kein Geld mehr, sondern versprich ihm reiche Belohnung, wenn er dir sichere Nachrichten bringt. Schreibe mir übrigens, wenn du etwas erfährst, denn ich muß nach Antium reisen.“

„Ich werde es tun!“

Raschen Schrittes ging Vinicius auf und ab. Man sah ihm an, wie sehr er seinen Schmerz zu bezwingen suchte. Schließlich traten ihm aber doch Tränen in die Augen, so daß ihn Petronius erstaunt ansah.

Gerade wollten sich die beiden verabschieden, als ihnen ein Sklave den Chilon Chilonides meldete.

Vinicius befahl, ihn sofort einzulassen, während Petronius sagte: „Habe ich es nicht gesagt? Nur Ruhe! Sonst gewinnt er die Oberhand über dich!“

„Gruß und Ehre dem edlen, ritterlichen Tribun und dir, Herr!“ sprach Chilon beim Eintreten. „Möge euer Glück eurem Ruhme gleichen, der Ruhm eures Namens aber durcheile die ganze Welt, von den Säulen des Herkules bis an die Grenzen des Arsakidenreiches.“

Vinicius fragte mit erkünstelter Ruhe: „Was bringst du?“

„Neulich, o Herr, brachte ich dir die Hoffnung, heute bringe ich dir Gewißheit, daß das Mädchen sich finden wird.“

„Du willst also sagen, daß es bisher noch nicht gefunden ist?“

„So ist es, Herr; aber ich habe erfahren, was das Zeichen bedeutet, das sie dir machte; ich weiß, wer die Leute sind, die sie herausgehauen haben, und ich weiß, welche Gottheit diese Bekenner verehren.“

Vinicius, ungeduldig wie immer, wollte von seinem Sitze aufspringen, doch Petronius hielt ihn zurück, wandte sich an Chilon und sagte: „Sprich weiter.“

„Bist du deiner Sache völlig sicher, Herr, daß das Mädchen einen Fisch in den Sand zeichnete?“

„Gewiß!“ rief Vinicius erregt.

„Dann ist sie also Christin – und Christen haben sie herausgehauen.“

Es entstand eine kurze Stille.

„Höre, Chilon,“ sagte Petronius endlich, „wir wissen, daß man die Pomponia Graecina des christlichen Aberglaubens geziehen, und daß ein Hausgericht sie freigesprochen hat. Willst du von neuem die Anklage erheben? Willst du uns einreden, daß Pomponia und Lygia zu den Feinden des Menschengeschlechts, zu den Brunnen- und Quellenvergiftern und den Kindesmördern gehören, die sich den schändlichsten Ausschweifungen ergeben?“

Chilon breitete die Arme aus zum Zeichen, daß ihn keine Schuld treffe, und sagte: „Herr, sprich folgenden Satz griechisch aus: Jesus. Christus, Gottes Sohn, Erlöser.“

„ Gut, ich spreche es ... Was soll aber das?“

„Jetzt nimm den ersten Buchstaben jedes Wortes und setze sie zu einem Worte zusammen.“

„Fisch!“ rief Petronius verwundert.

„Deshalb also wurde Fisch zum Losungswort der Christen!“ erwiderte Chilon stolz.

Alle schwiegen eine Weile. Die Beweisführung des Griechen war so schlagend, daß die beiden Freunde des Staunens sich nicht erwehren konnten.

„Vinicius,“ sagte Petronius, „wir kennen beide das Haus des Aulus. Wenn also der Fisch wirklich das Losungswort der Christen ist, und wenn Pomponia und Lygia Christinnen sind, dann, bei der Göttin der Unterwelt, sind die Christen eben nicht das, wofür wir sie halten!“

„Du sprichst wie Sokrates, o Herr!“ bemerkte Chilon. Wer hat je einen Christen ergründet? Wer hat ihre Lehre je kennengelernt? Als ich vor zwei Jahren von Neapel nach Rom wanderte – o warum bin ich nicht dort geblieben –, gesellte sich ein Mann namens Glaukus zu mir, von dem man sagte, daß er ein Christ sei, und ungeachtet dessen habe ich mich von seiner Güte und Tugendhaftigkeit überzeugt.“

„Ist das derselbe Gerechte, von dem du jetzt erfahren, was der Fisch bedeutet?“

„O nein, Herr! Ein großes Unglück traf uns. Auf dem Wege nach einer Herberge versetzte einer dem braven Alten einen Messerstich; sein Weib und Kind schleppten Sklavenhändler hinweg, und ich verlor diese beiden Finger bei deren Verteidigung. Da aber unter den Christen, wie man mir sagte, fortwährend Wunder geschehen, gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß mir diese Finger nachwachsen werden.“

„Was soll das heißen? Bist du vielleicht auch ein Christ?“

„Seit gestern, Herr, seit gestern! Dieser Fisch hat mich zum Christen gemacht, welch große Kraft liegt doch in dem Symbol! In einigen Tagen schon werde ich der Eifrigste unter den Eifrigen sein, damit sie mich in ihre Geheimnisse einweihen, und haben sie mich erst in ihre Geheimnisse eingeweiht, dann weiß ich auch, wo sich das Mädchen verborgen hält. Ich habe auch Merkur gelobt, wenn er mir hilft, das Mädchen aufzufinden, ihm zwei einjährige Kalbinnen von gleicher Größe zu opfern.“

„Dein jetziges Christentum und deine frühere Philosophie hindern dich dennoch nicht, an Merkur zu glauben?“

„Ich glaube immer an denjenigen, den ich gerade brauche; das ist meine Philosophie, welche gerade nach dem Geschmack Merkurs sein sollte. Unglücklicherweise aber – ihr wißt, meine edlen Herren, was das für ein mißtrauischer Gott ist! Er traut nicht einmal den Versprechungen der unbescholtenen Philosophen und möchte sicherlich die beiden Kalbinnen schon im voraus haben – ist das aber eine Riesenausgabe für mich. Aber wenn der edle Vinicius mir von dem, was er mir versprach, einen Teil des Lohns auf Abrechnung geben wollte ...“

„Nicht einen Obolus, Chilon!“ sprach Petronius, „nicht einen Obolus! Die Freigebigkeit des Vinicius soll deine Erwartungen übertreffen, aber erst dann, wenn Lygia gefunden ist, das heißt, wenn du uns ihr Versteck angegeben hast.“

„Hört mich an, edle Herren! Die Entdeckung, welche ich gemacht habe, ist bedeutend, denn obwohl ich noch nicht das Mädchen gefunden habe, so ist mir doch der Weg bekannt, auf dem sie zu suchen ist. Meine Füße sind schon wund von dem vielen Umherirren. Alle Winkel und Gassen, alle Zufluchtsorte entlaufener Sklaven habe ich durchstreift, überall zeichnete ich den Fisch und gab acht auf die Augen der Leute. Lange konnte ich nichts entdecken. Eines Tages traf ich an einem Springbrunnen einen alten Sklaven, der mit den Eimern das Wasser schöpfte und weinte. Ich näherte mich ihm und befragte ihn nach der Ursache seiner Tränen, und er erzählte mir, er habe sein ganzes Leben lang jede Sesterzie gespart, um seinen Sohn loszukaufen. Doch sein Herr, ein gewisser Pausa, hat wohl das Geld gleich angenommen, aber den Sohn nicht freigegeben. Und deshalb weine ich, fuhr der Alte fort, denn obgleich ich mir sagen muß, Gottes Wille geschehe, vermag ich armer Sünder meine Tränen doch nicht zurückzuhalten. Wie von einem Vorgefühl getrieben, tauchte ich den Finger in das Wasser und zog die Linien eines Fisches, und er rief aus: Auch meine Hoffnung ist in Christus! Ich fragte: Hast du an diesem Zeichen mich erkannt? Er sagte: Ja, und der Friede sei mit dir! Ich begann, ihm nun auf die Zunge zu fühlen, und der Brave verriet alles, sein Herr, ein gewisser Pausa, ist der Freigelassene des großen Pausa und schafft auf dem Tiber Steine nach Rom, die von Sklaven und gemieteten Leuten bei Nacht von den Flößen nach den Baustellen geschafft werden, damit tagsüber der Straßenverkehr nicht gehemmt werde. Viele Christen sind dabei beschäftigt, darunter auch der Sohn des Alten; doch weil die Anstrengung über die Kräfte des Jünglings geht, wollte der Vater ihn mit seinen Ersparnissen loskaufen. Pausa aber zog es vor, sowohl Geld als auch den Sklaven zu behalten. So sprechend begann er wieder zu weinen, und ich mischte meine Tränen mit den seinen. Ich fing an zu jammern, daß ich erst vor einigen Tagen aus Neapel eingetroffen, keinen der Brüder kenne, daher auch nicht wisse, wo sie sich zum gemeinsamen Gebet versammelten. Er wunderte sich, daß mir die Christen aus Neapel keine Briefe an die Brüder in Rom mitgegeben hatten, allein ich beteuerte ihm, daß man mir jene unterwegs gestohlen habe. Daraufhin forderte er mich auf, nachts an den Fluß zu kommen, wo er mich mit andern Brüdern bekannt machen wolle, die mich in die Bethäuser und zu den Ältesten der christlichen Gemeinde geleiten würden. Darüber war ich so erfreut, daß ich ihm die zum Loskaufen seines Sohnes nötige Summe in der Erwartung gab, der edle Vinicius werde sie mir doppelt zurückerstatten.“

„Chilon,“ unterbrach ihn Petronius, „in deiner Erzählung sieht man die Lüge auf der Oberfläche schwimmen, wie Öl auf dem Wasser; du hast wichtige Nachrichten gebracht, das leugne ich nicht, aber du darfst deine Neuigkeiten nicht mit Lügen unterspicken. Wie heißt der Greis, von dem du erfahren, daß die Christen einander durch das Zeichen des Fisches erkennen?“

„Euricius, Herr. Armer, unglücklicher Greis! Er erinnerte mich an Glaukus, den ich gegen die Mörder verteidigte, und dadurch hat er mich gerührt.“

„Ich glaube gern, daß du ihn kennengelernt hast, aber Geld hast du ihm nicht gegeben. Keine Kupfermünze hast du ihm gegeben!“

„Herr, was könnte deinem Scharfsinn entgehen? Es ist wahr, ich habe ihm das Geld eigentlich noch nicht gegeben. Aber bedenke, wie ich mir durch eine solche Tat die Herzen aller Christen erobern würde.“

Vinicius sprach: „Ich gebe dir einen Knaben mit, der die nötige Summe überbringt. Du aber sagst Euricius, der Knabe sei dein Sklave, und vor dessen Augen zahlst du dem Alten das Geld aus. Doch weil du wichtige Nachrichten gebracht hast, erhältst du eine gleiche Summe für dich. Komm noch heute abend um den Knaben und das Geld.“

„Ein wahrhaftiger Cäsar!“ rief Chilon aus. „Gestatte mir, o Herr, heute abend nur um mein Geld zu kommen. Euricius sagte mir, daß schon alle Flöße ausgeladen sind und erst in einigen Tagen andre aus Ostia eintreffen. Der Friede sei mit euch! So verabschieden sich die Christen. Fische fängt man mit der Angel und Christen mit dem Fische. Pax vobiscum! pax! pax! ... pax!“

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