Psychologische subjektive Ursachen der deutschen Auswanderung

Aus: Die deutsche überseeische Auswanderung seit 1871 . . .
Autor: Josephy, Fritz Dr. (?-?), Erscheinungsjahr: 1912
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Auswanderung, Auswanderer, Deutschland, Amerika, USA, Vereinigte Staaten, Auswanderungsschiffe, Auswanderungshäfen, Auswanderungsländer, Auswanderungsgründe, Auswanderungsagenten
Sie sind zweifellos viel bedeutender, als sich dies nach ihrer äußeren Manifestation vermuten ließe, da sie leben in der Regel vom Willen diszipliniert bzw. gehemmt werden. Denn nur eine völlig willenlose, undisziplinierte bzw. impulsiv veranlagte Natur überlässt sich hemmungslos diesen triebmäßigen Regungen, so dass sie zuweilen zu einer unmittelbaren Ursache der Auswanderung werden können. Häufiger freilich sind sie nicht rein psychischer Natur, sondern beeinflusst durch äußere Umstände oder konkrete Tatsachen; es spielt das Milieu, die äußere Umgebung, eine mitbestimmende Rolle.

Dies innere Triebleben, das zum Wollen sich verdichtet, ist auf die Befriedigung der mannigfachsten Bedürfnisse gerichtet. Bei den einen ist es der Trieb nach Abenteuern, nach Abwechslung in den Eindrücken der Natur und Umgebung, bei den anderen das Streben nach Wissen (Forschungsdrang), nach Macht, Reichtum, Ehre, Anerkennung 13), gesellschaftlicher Auszeichnungen usw. Schließlich führen auch Misserfolge und Unglücksfälle aller Art zuweilen zur Auswanderung.

12) Vgl. die Sage vom ewigen Juden.
13) Vgl. Brentano, Versuch einer Theorie der Bedürfnisse (München 1908).


Schon aus diesen Beispielen ergibt sich, dass rein subjektive Momente, d. h. in der Person allein liegende Ursachen, meist erst durch Hinzutreten von objektiven, d. h. durch solche in den äußeren Verhältnissen liegende Faktoren, wirksam werden.

Wie oben (S. 60) bereits angedeutet wurde, stehen die subjektiven Beweggründe zur Auswanderung oft mit der Sexualität im innigsten Kausalzusammenhange. Der normale Sexualtrieb ist auf relativ vollkommenste Geschlechtswahl gerichtet. Diese wird beeinflusst durch die jeweils bestehende Geschlechterverteilung auf einem bestimmten Gebiete und durch die tatsächlich vorhandenen wirtschaftlichen Verhältnisse. Daher ist besonders die Auswanderung in den untersten Volksklassen bei beiden Geschlechtern sehr groß, da eine günstige Familiengründung, namentlich auf dem Lande, immer schwieriger wird. Die Tendenz der Auswanderung tritt vorzugsweise beim aktiven männlichen Geschlecht hervor. Aber auch das weibliche Geschlecht greift zuweilen dann, wenn es sich in seiner ureigentlichen Bestimmung bedroht fühlt, d. h. wenn ihm jede Aussicht auf Verheiratung genommen wird, selbst zur Initiative.

Diese Tatsache kommt u. a. in der Abwanderung der weiblichen Bevölkerung vom Lande in die Stadt und in der Auswanderung klar zum Ausdruck, wenngleich zuzugeben ist, dass das sexuale Motiv nicht das ausschließliche ist, und auch dort, wo es zweifellos vorhanden, subjektiv nicht immer zum klaren Bewusstsein kommt.

Auch das suggestive Moment spielt in dieser Beziehung eine Rolle. Hier kommen einmal die Lockungen von Angehörigen, Bekannten und Freunden, sowie auch — besonders im Osten Deutschlands — ein ausgedehnter Mädchenhandel in Betracht.

Wegen der ungleichmäßigen Verteilung der Geschlechter in Amerika, d. h. des Überwiegens des männlichen Geschlechtes, kehren ferner oftmals heiratsfähige Auswanderer, nachdem sie sich drüben ansässig gemacht haben, wieder nach Deutschland zurück, um sich gewöhnlich aus ihren Jugendkreisen eine Frau zu holen. Solche Freierreisen in die ehemalige Heimat, ferner Heiratsvermittlungen zwischen hüben und drüben durch Freundes- und Bekanntenkreise, sind in einzelnen Gegenden Deutschlands eine sehr häufige Erscheinung.

In diesem Zusammenhange ist auch der Mädchenhandel als auswanderungsfördernde Ursache zu erwähnen, ein dunkler Punkt der heutigen Kultur, der trotz aller Bekämpfung nicht leicht auszurotten ist 15). Nicht selten tauchen in den Tagesblättern Annoncen auf, in welchen Dienstmädchen, Gouvernanten u. A. unter sehr günstigen Bedingungen für das Ausland gesucht werden. Solchen gegenüber ist große Vorsicht geboten. Denn häufig verbirgt sich dahinter irgendein Mädchenhändler, der durch gleißnerische Versprechungen unerfahrene Mädchen an sich zu locken sucht, um sie ins Ausland oder in ausländische Bordelle zu verschleppen. Höchstwahrscheinlich sind die hohen Ziffern der Auswanderung jugendlicher weiblicher Personen in Westpreußen und Posen leider zum Teil auch auf den überseeischen Mädchenhandel zurückzuführen, wenn andererseits wohl auch der Grund der hohen weiblichen Auswanderung in dem früher erfolgten starken Wegzug männlicher Personen und dem dadurch entstandenen Weiberüberschuss (insbesondere Überschuss heiratsfähiger Weiber) liegen mag. Wenn auch Österreich-Ungarn und Russland die „Hauptausfuhrmärkte" dieser überseeischen „Ware" bilden, so kommt doch ein nicht unbeträchtlicher Teil aus den an Russland angrenzenden deutschen Provinzen, wie u. a. auch die Untersuchungen des amerikanischen Einwanderungskommissärs ergeben haben. Als Mädchenhändler figurieren hier vor allem Galizier und osteuropäische Juden, die je nach „Vertrag" ihre Ware anbieten. Während die Union und Kanada eine derartige Einwanderung bekämpfen, wird der Mädchenhandel von südamerikanischen Staaten eher begünstigt.

15) Über den Mädchenhandel vgl. z. B. einen interessanten Aufsatz von Maximilian Dusch, Der Mädchenhandel. Sozialpolitische und volkswirtschaftliche Beilage zur Augsburger Post-Zeitung Nr. 223 ff. 1911. — § 48 des deutschen Auswanderungsgesetzes konnte für Deutschland keine genügende Abschreckung erzwingen, weshalb dem gegenwärtigen Reichstag ein neuer Gesetzentwurf Zur Regelung dieser Materie vorliegt.

Dem Momente der Suggestion kommt jedoch nicht allein unter sexualem Gesichtspunkte, sondern vielmehr auch bei allen anderen Motiven zur Auswanderung eine größere oder geringere Bedeutung zu. Ihr unterliegen natürlich am meisten unerfahrene jugendliche Personen, und überhaupt die weniger gebildeten unteren Volksschichten. Wir besitzen sogar Beispiele einer Massensuggestion in der neueren Zeit, unter deren Einfluss zeitweilig eine so starke Auswanderung aus Deutschland hervortrat, dass ihr nur durch behördliche Maßnahmen erfolgreich begegnet werden konnte. Im Jahre 1889 war im Deutschen Reiche die Nachricht verbreitet, dass ein preußischer Prinz in Brasilien Güter besitze und wünsche, dass pommerische Bevölkerung dahin kommen solle. Dieses Gerücht veranlasste eine so starke Auswanderungsbewegung, dass ihr ein königlicher Erlass vom 19. Februar 1889 entgegenwirken musste. Ähnliche Vorgänge spielten sich am Rhein und in Südwestdeutschland ab, und zwar veranlasst durch Gerüchte von dem fabelhaften Gold- und Edelsteinreichtum Brasiliens 16).

Die Suggestion, welche sich zuweilen bis zur Massensuggestion (-Psychose) steigert, kann von den verschiedensten Seiten herrühren und sich sowohl als positive, d. i. als auswanderungsfördernde wie auch als negative, d. i. auswanderungshemmende, erweisen. Wenn wir heute eine relativ geringere Auswanderungslust in Deutschland beobachten, so ist diese z. T. auf den Fortfall der suggestiv fördernden Momente sowie auf das Hinzutreten der hemmenden Momente zurückzuführen. Denn einerseits wurde dem Unfug des Agentenwesens, das noch zu behandeln ist, durch die Gesetzgebung gesteuert, und andererseits wurde durch die modernen Kommunikationsmittel 17) aufklärend mit Hinsicht auf die amerikanischen wirtschaftlichen Verhältnisse und daher abschreckend eingewirkt.

16) Vgl. Cannstadt S. 26.
17) So vor allem durch die Presse.

Weltkarte, Dampfschiffrouten

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White Steamer Majestic

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Musterung

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Dampfschiff, Raucherzimmer

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Dampfschiffe, Gangway

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Dampfschiff, Nebel im Kanal

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Rinderfrachter auf See

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Passagier gehen von Bord in Nata, Süd Afrika

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Positionsschiff vor New York

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Auf dem Promenadendeck

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Auf der Brücke

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Auswanderer, Schiffsuntergang

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Dampfschiff, im großen Salon

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Beladen eines Bananenfrachters

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