Irrwege eines nationalen Instinkts

Als die „Aufklärung“ die Festen der jüdischen Religion erschütterte, tauchte zum erstenmal die folgenschwere Judentumsfrage, die für unser Schicksal entscheidender als die Judenfrage ist, auf: Gibt es ein Judentum außerhalb der jüdischen Gesetzestreue? Waren Judentum und jüdische Religion jahrtausendelang identisch, musste nicht die Loslösung vom jüdischen Religionsgesetze die Loslösung vom Judentum schlechthin bedeuten? Der unbewusst-nationale Selbsterhaltungstrieb wehrte sich gegen dieses Todesurteil. Er suchte einen neuen Existenzgrund für das Jude-Sein, das seiner alten Grundlage verlustig gegangen war.

In dieser Verlegenheit fand er einen Ausweg in der Einsetzung eines Surrogats für die Religion. Einige abstrakte Ideen, die nach Abwerfen der sogenannten religiösen Schale zurückbleiben, sollen einen Ersatz für den entwerteten Inhalt bilden. Sie werden bald als der ewigliche Kern verkündet, der den Bestand des Judentums in aller Ewigkeit gewährleistet. So sind beide Forderungen, die der Aufklärung und die des unbewusst-nationalen Selbsterhaltungstriebes befriedigt: die Schranken der Religion aufgehoben, das Judentum jedoch nicht aufgegeben. Eine Ideologie wird konstruiert, die dem Zeitgeist vollauf entspricht und zugleich das Judentum aus der Ruine der Religion errettet. Sie wird von dem aus seelischem Zwiespalt hervorgegangenen Bedürfnis geleitet, ein Judentum ohne jüdische Lebensformen zu ermöglichen. Sie kann es nur, indem sie die jüdischen Formen aus dem Wesen des Judentums ausschaltet; indem sie das Judentum als Idee erklärt, und zwar als Idee, die gegen jede Sonderform gerichtet ist. An Stelle der früheren Identität von Judentum und jüdischer Religion tritt nunmehr die Identität von Judentum und Menschlichkeit. An Stelle der religiösen und nationalen Enge tritt die kosmopolitische Weite. Judentum wird als Idee der Menschheit deklariert; sie allein ist sein Wesen; alles andere ist nur Beiwerk. Somit ist das gesuchte bequeme Judentum gefunden. Es gibt ein Judentum außerhalb jüdischer Lebensformen, es gibt ein jüdisches Bewusstsein ohne jüdisches Sein. Man ist Jude, ohne jüdisch leben zu müssen; man ist es erst recht, indem man nicht-jüdisch lebt. Es ist ein der Idee des Judentums innewohnendes Gebot, die nationalen Formen unserer Eigenart abzustreifen.


Der erfinderische nationale Instinkt hat angesichts der ins Schwanken geratenen Religion und der daraus entstandenen Krise diese Definition erfunden, die alle Zeichen des inneren Konfliktes und des unbewussten Widerspruchs trägt, weil sie die zweideutige Aufgabe hat, ein Jude-Sein ohne Jüdisch-Sein zu ermöglichen. Diese Formel hat auch das Verdienst, das jüdische Bewusstsein ohne ein jüdisches Sein jahrzehntelang erhalten und diese Krise hinausgeschoben zu haben.

Die Folge konnte indes nicht ausbleiben. Das zur Geistigkeit verflüchtigte und auf einen Lehrinhalt reduzierte Judentum führte zur Assimilation. Sein Ideenkomplex — die Ideen des Monotheismus, des Messianismus, des Optimismus, der absoluten Gerechtigkeit usw., die in die Idee der Einen Menschheit münden sollen — hat keine nationale Bindung und Begrenzung; er fordert sie nicht, er fordert das Gegenteil. Eine Sittenlehre, eine Weltanschauung vermag nie ein nationales Differenzierungsmoment zu ersetzen, geschweige denn vermag es die jüdische Sittenlehre, die jüdische Weltanschauung. So entstand das fiktive Judentum in Westeuropa.

Das ist die Genesis der Losung: Geist des Judentums. Der nationale Selbsterhaltungstrieb sträubte sich, das Todesurteil anzuerkennen und ersann eine raison d'être, die nur für kurze Dauer ein Scheindasein unterstützen konnte; die aber ihrer ganzen Anlage nach dazu angetan war, unsere nationale Existenz zu untergraben. Das ist der Bankrott der Losung: Geist des Judentums.

Die ersten Impulse der Assimilationsbewegung kamen nicht aus einem materialistisch gerichteten Streben, das, wie man gemeiniglich sagt, die jüdische Seele um das Linsengericht der Gleichberechtigung verhandeln wollte; sie kamen aus einer idealistisch bestimmten Gesinnung, die das Judentum nach Erschütterung seines religiösen Grundes als eine Ideologie erhalten zu können glaubte.

Die Assimilationstendenz ist also — in ihrem Ursprünge — keineswegs Nachahmungssucht und „Knechtschaft in Freiheit“, wie man sie zu verleumden pflegt. Sie ist vielmehr eine Verirrung des nationalen Instinkts, der das Judentum als Lehrgehalt zu retten versuchte.

Die eingetretene Folge ist eine aufrichtige Folgerung aus dem Kriterium des Judentums als Ideenkomplex: da diese Ideen sittlicher, allgemeinmenschlicher Natur sind und in einen entnationalisierenden Universalismus und Kosmopolitismus auslaufen mussten.

So begreifen wir die tiefe Ironie, die als Ausdruck jenes Innern Konfliktes sich darin kundgibt, dass die Wortführer des Emanzipationszeitalters das Aufgeben der jüdischen Sonderart in einem Atemzuge mit der stolzen Verkündung unserer Auserlesenheit und der Missionsidee, die fast einen nationalen Chauvinismus enthält, als ein Postulat der Weltanschauung des Judentums aufstellten. So begreifen wir die tiefe Ironie, dass die Assimilierung der Juden im Namen des Geistes des Judentums, im Namen unserer Propheten, gefordert werden durfte.

An einem ähnlichen Zwiespalt und an einer ähnlichen Ironie krankt auch die westjüdische Orthodoxie: sie wird nicht aus eigenen Lebenssäften gespeist. Der nationale Selbsterhaltungstrieb war es, an dem unsere Religion im Westen, aus der die Seele geschwunden war, sich aufrichten konnte. Er klammerte sich an die Tradition und führte ihr dadurch neue Lebenskraft zu; es ist seine Kraft, die in ihr wirkt. Dieser ihrer nationalen Funktion verdankt die entseelte westjüdische Orthodoxie ihren Bestand.

Als nun die nationale Bewegung einsetzte, hätte man annehmen müssen, sie werde mit dem Kriterium des „geistigen Judentums“ endgültig aufräumen. Dies trat jedoch nicht ein. Das verhängnisvolle Kriterium blieb erhalten und wurde in die Gedankenwelt der nationalen Renaissance übernommen. Noch heute hören wir, dass Verfechter der nationalen Idee den „Geist des Judentums“ anrufen. Die oft wahrnehmbare historische Erscheinung, dass Surrogate, die zur Erfüllung einer Aufgabe bestimmt sind, kraft des Trägheitsgesetzes ihre Geltung nicht einbüssen auch lange nachdem sie ihre Funktion erledigt hatten, bestätigt sich auch hier. Das Schema eines geistigen Judentums, das der nationale Instinkt in seiner Abwehr als Ersatz für die Religion gebrauchte, hat sich seinerseits der nationalen Erkenntnis bemächtigt, die doch als Erkenntnis diese Abwehr nicht mehr benötigt, und für die jener Schutz eine Gefahr bedeutet.

Soll aber unsere nationale Idee in Reinheit und Prägnanz erkannt werden, so müssen wir auch diesem Erbteil des „Judentums des Geistes“ entsagen. Wir müssen die Tragweite der nationalen Denkart ermessen und dürfen die Scheidelinie zwischen zwei großen Epochen nicht verwischen lassen.

Bis zum Auftreten des nationalen Gedankens gab es zwei Kriterien des Judentums: das Kriterium der Religion, wonach das Judentum eine Lehre von Geboten und Verboten ist; und das Kriterium des Geistes, das im Judentum eine Lehre von Ideen, wie die Idee des Monotheismus, des Messianismus, der absoluten Gerechtigkeit usw. ergründet. Die beiden Kriterien stimmen darin überein, dass sie das Judentum auf ein subjektives Moment beziehen, auf ein Bekenntnis. Sie beide definieren das jüdische Volk als eine geistige Gemeinschaft: als Gemeinschaft auf Grundlage der Religion — das erste Kriterium; als Gemeinschaft auf Grundlage einer Weltanschauung — das zweite Kriterium. Wer die jüdische Religion ablehnt, stellt sich außerhalb der jüdischen Gemeinschaft — entscheidet die erste Definition; wer die Ideen der jüdischen Sittenlehre ablehnt, stellt sich außerhalb der jüdischen Gemeinschaft — muss die logische Schlussfolgerung der zweiten Definition lauten. Das Kriterium des Geistes teilt sich nun in zwei Unterarten: die der Assimilation und die eines unreifen Nationalismus.

Gegenüber diesen Kriterien tritt nun die dritte Definition auf: das Kriterium des konsequenten Nationalismus. Sie bezieht das Judentum auf ein objektives Moment. Sie lehrt: Jude-Sein bedeutet nicht ein religiöses oder ethisches Bekenntnis. Wir sind keine Glaubensgemeinschaft und keine Weltanschauungsgemeinschaft, sondern Glieder einer Familie, Träger einer gemeinsamen Geschichte. So stellt die Leugnung der jüdischen Weltanschauung nicht außerhalb des Judentums, wie das Bekenntnis zum Judaismus noch nicht zum Juden macht. Kurz, das nationale Bekenntnis bedingt nicht ein Bekenntnis zur jüdischen Religion oder zur jüdischen Weltanschauung.

Macht nun aber das historische Band den ganzen Inhalt unserer nationalen Zusammengehörigkeit aus? Kommt es nur auf das Gemeinschaftserlebnis oder auf die aus Schicksalsgemeinschaft erwachsende Charaktergemeinschaft an, auf die Vergangenheit und Gegenwart einer historischen Familiengemeinschaft? Kann man aus dem Judentum nicht scheiden, wie man etwa sich nicht von seiner Familie lossagen kann? Dann hätten die ersten zwei Kriterien den Vorzug des Freiheitsprinzips; da sie das Jude-Sein als ein religiöses oder sittliches Bekenntnis auffassen, während das nationale Kriterium dieses Sein als ein geschichtlich Gegebenes, das nicht durch ein Bekenntnis aufgehoben werden kann, zu bestimmen scheint. Dem ist aber nicht so. Das nationale Kriterium fordert neben der historischen Familiengemeinschaft den Willen zur Gemeinschaft in Zukunft. Also zwei Momente, Sein und Bewusstsein, Zustand und Bekenntnis, bestimmen unsere Nationalität: das Moment historischer Gebundenheit und das Moment historischen Wollens, des Willens zur Gebundenheit und Gemeinschaftsbildung für alle Zukunft.

Der geistige Nationalismus, vornehmlich vertreten von Achad Haam, beruft sich auf den Entwicklungsgedanken. Der Geist des Judentums habe sich aus der Religion zu einer sittlichen Weltanschauung entwickelt und in einem bestimmten Ideengehalt seinen wesenhaften Ausdruck gefunden. Wollen wir unsere nationale Individualität wahren, so müssen wir diese historische Gestaltung unsres Geistes schützen und fördern. Daher glaubt dieser Nationalismus die nationale Entwicklung des Judentums als die Entwicklung einer bestimmten Weltanschauung begreifen zu sollen. Er begeht aber einen methodischen Fehler: er unterscheidet nicht zwischen nationaler Wertung und nationalem Kriterium. Der nationale Wert einer Idee erhebt sie noch nicht zu einem nationalem Kriterium. Wie diese achad-haamistische Theorie das Judesein an ein Bekenntnis zur jüdischen Religion, die wahrlich große nationale Werte in sich birgt, keineswegs bindet, eben sowenig darf sie ein Bekenntnis zur jüdischen Ideenlehre fordern.

Die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf ein nationales Kriterium des Judentums kann schon deshalb nur eine Wertung und keine Definition des jüdischen Geistes ergeben, weil wir doch nicht entscheiden können, welcher Fortschritt eine evolutionistische Fortsetzung und welcher eine revolutionäre Diskontinuität des geistigen Wesens zu bedeuten hätte. Kein Wunder, dass diese Theorie widerspruchsvoll ist. Sie pendelt zwischen den zwei an sich folgerichtigen Kriterien, zwischen dem religiösen und dem nationalen. Dem einen entnimmt sie das subjektiv religiöse Moment, die Forderung eines Bekenntnisses; dem andern entlehnt sie das objektiv nationale Moment, das der historischen Entwicklung.

Der Widerspruch erfährt eine Steigerung und wird durchsichtig, sobald die pseudonationale Theorie die Erhaltung und Pflege der von ihr als Geist des Judentums fixierten Ideen zu einer nationalen Pflicht erhebt. Einerseits stellt sie diese Forderung im Namen eines nationalen Werturteils, andererseits muss sie anerkennen, dass eine Sittenlehre ihre Wertung nicht außerhalb ihrer selbst haben kann — und sucht die Ideen des Judaismus von allgemein kulturellen Gesichtspunkten aus zu begründen. Es werden also zwei heterogene Maßstäbe angelegt, die nur die Zweideutigkeit jener Theorie bloßstellen. Ist das Judentum eine Sittenlehre, so entscheidet über sie ein ethisches und nicht ein nationales Kriterium, sie muss zuvörderst in ihrer Disziplin Rechenschaft ablegen; sind ihre Ideen in der Ethik legitimiert, müssen sie allgemein menschliche Geltung behaupten; sind sie es nicht, können sie auch keine nationale Geltung beanspruchen. Die jüdische Sittenlehre kann nicht eine eigens für Juden reservierte Speziallehre sein, d. h. sie kann nicht aus nationalen Gründen für uns bindend sein; sie setzt ein Erkennen und ein Bekennen voraus, die sich nicht von einem auswärtigen Grund bestimmen lassen. Die Erhaltung und Pflege der als Geist des Judentums jeweilig auftretenden sittlichen Idee kann also nur eine Forderung der sittlichen Kultur sein; als solche untersteht sie der Kompetenz und dem Ermessen der Ethik, die allein zuständig ist, diese Idee auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, sie anzuerkennen oder abzulehnen.

Eine ähnliche Verquickung heterogener Werturteile finden wir in den oft wiederholten Versuchen orthodoxer Exegeten, gewisse jüdische Religionsgesetze, z. B. die Speisegesetze, als sanitäre Forderungen zu begründen und zu bekräftigen. Sie merken nicht, dass sie damit der Religion nur einen schlechten Dienst erweisen, indem sie diese Gesetze vor ein außerreligiöses Forum stellen und ihre Unbedingtheit preisgeben: sie machen ihre Geltung von einem wissenschaftlichen Gutachten abhängig.

So kommt es, dass dieses pseudonationale Kriterium des Judentums methodologisch schwächer fundiert ist als das religiöse. Die Definition des Judentums als Religion ist klar und einheitlich: sie ist in Normen festgelegt. Aber der „Geist des Judentums“ lässt sich nicht in eine Formel fassen, er bleibt immer hypothetisch und kann daher kein Kriterium bilden. Gar viele verschiedene Definitionen hat dieser Geist des Judentums erdulden müssen. Die einen finden ihn im Monotheismus, die andern im Messianismus. Und noch ist die Frage nicht entschieden, ob unser Gott ein ,,Gott der Rache“ oder ein ,,Gott der Barmherzigkeit“ sei. Eine Definition ergründet den Geist des Judentums im Optimismus, eine andere in der Idee der Abstraktion: ,,Du sollst dir kein Bild und keine Gestalt machen“; eine dritte in der Idee der absoluten Gerechtigkeit; eine vierte im Rationalismus. Und Sombart versteht sogar diesen Rationalismus als die kaufmännische Ratio, die den Geist des Judentums kennzeichne. Müsste man nicht, wenn diese Definitionen zu einem Kriterium erhoben werden, im Namen des Geistes des Judentums die Wahrung und Förderung des Monotheismus, des messianischen Gedankens, des Optimismus, der Idee der Abstraktion, des Rationalismus oder gar des Handelsgeistes als Wahrung und Förderung unseres nationalen Wesens verlangen? Und in der Tat, es geschieht gar zu oft. Aber hier zeigt sich wiederum die Haltlosigkeit jener Theorie vom Geiste des Judentums.

So konnte selbst in unserem nationalen Lager die Frage ernstlich aufgeworfen werden, ob nicht der Geist des Judentums durch das Christentum vertreten und verbreitet werde und ob das Judentum noch einen Existenzgrund und unser Martyrium noch einen Sinn hätte. Dieser Fragestellung entsprach auch jene günstige Auskunft, die das Judentum als Prinzip der Gerechtigkeit und das Christentum als das Prinzip der Liebe unterscheidet und in diese subtile Unterscheidung unsern Seinsgrund verlegt. Über den Bestand des Judentums entscheidet nunmehr eine wissenschaftliche Instanz, die Forschung über das Wesen des Judentums und das Wesen des Christentums. Sollte das Forschungsergebnis ungünstig ausfallen und diese ideologische Unterscheidung nicht als wesenhaft anerkennen, so hätte unser Dasein keinen Halt, keinen Inhalt. Es ist das Kriterium des Geistes, das unser Lebensrecht von der Berechtigung des Judaismus als Lehre, von deren Eigenart und Güte abhängig macht; das somit die gespensterhaften Fragen nach dem Sinn unserer Existenz heraufbeschworen hat. Eine folgerichtige Theorie des Nationalismus muss dagegen sagen: All jene Ergründungen des Wesens des Judentums mögen wohl nationale Wertungen sein, nationale Qualifizierungen; nationale Kriterien sind sie nicht. Wie etwa das Urteil: „Tout ce que n'est pas clair, n'est pas français“ vielleicht eine nationale Wertschätzung besagt, aber kein nationales Kriterium. So auch der Ausspruch unserer Weisen: ,“Juden sind barmherzig, schamhaft und wohltätig“; er mag, wenn er richtig ist, eine Wertung unseres Wesens sein, — ein nationales Kriterium enthält er nicht.

Doch angenommen, wir wollten den Geist des Judentums als ein Kriterium für das Jude-Sein gelten lassen; so müssten wir uns gegen den Nationalismus entscheiden. Die tiefste Eigenart dieses Geistes bedingt es, dass er nicht den Inhalt unseres nationalen Kriteriums bilden kann.

Die meisten antiken Religionen sind in den Elementen des Gefühls und der Phantasie verankert. Sie beide sind an der Schöpfung des Mythos beteiligt; und aller Mythos ist ein Schauen der Gottheit in der Natur. Die jüdische Religion unterscheidet zwei Seinsarten und trennt Gottessein vom Natursein, sie bekämpft den Mythos. Ihre Stärke ist nicht Glaube, sondern Erkenntnis (Daat). Sie beginnt damit, die mythischen Götter, die Göttergebilde des Gefühls und der Phantasie zu entthronen, und es ist in ihrem rationalen Wesen die Tendenz begründet, aus einer Volksreligion eine Weltreligion zu werden.

Die Kraft der Erkenntnis ist die Urquelle des Judentums. Die Erkenntnis des einen Gottes hat zur Erkenntnis der sittlichen Einheit, des Sittengesetzes geführt. Und der tiefste Grund der jüdischen Religion ist das Gesetz.

Die Opposition gegen den Mythos hatte das Gefühls- und Phantasieelement unterbunden, aber auch das metaphysische Motiv des Mythos. Der Mythos hat ein theoretisches Interesse am Kosmos, sucht die Natur der Welt und die Natur Gottes zu erschauen; die jüdische Religion wehrt sich gegen dieses theoretische Interesse des Mythos an Welt und Gott, ihre Erkenntnis ist am Menschen orientiert; ist auf ein praktisches Interesse gerichtet, auf die Handlung, auf Tun und Lassen. Die Attribute des jüdischen Gottes sind nicht Attribute des Seins, der Gottesnatur, sondern der Handlung, der Gottesgebote — lehrt Maimonides. Die jüdische Religion kennt keine Metaphysik; sie hat, im Grunde genommen, keine Philosophie. Ihre sogenannte Religionsphilosophie ist sehr spät und unter fremden Einflüssen entstanden.

So verstehen wir die fast vereinzelte Erscheinung, dass die jüdische Religion keine Glaubensartikel, keine theoretische Voraussetzung einer Lehre aufzuweisen hat. Jede Religion wird in einem Philosophen, in einer theoretischen Lehre begründet; ihre praktischen Vorschriften ergeben sich aus der Ideologen Begründung. Unsere Bibel aber ist teils Chronik, teils Kodex. Wo ist die metaphysische Begründung? „Ich bin Jehova dein Gott“ usw. ist die einzige kurze Einleitung, auf die gleich die trocknen Vorschriften folgen: „Du sollst“, „Du sollst nicht“. Wo die theoretische Grundlegung? Das Gesetz ist der Primat. Unsere Religion hat es abgelehnt, nach dem Grund der Verordnungen zu fragen. Sie hat Gebote und Verbote, Normen, aber keine Lehrgrundsätze, keine Dogmen; diese kamen recht spät und eigentlich nur als systematische Leitmotive.

Daher hat die Kabbalah keine Spaltung im Judentum hervorrufen können, da sie nur eine theoretische Neuerung und keine praktische Reform sein wollte; sie hat neue Ideen eingeführt, hat aber am Gesetz nicht gerüttelt. In jeder anderen Religion führt eine neue Lehre, wie die Kabbalah sie darstellt, zur Sektenbildung; die jüdische Religion jedoch duldete von jeher die größten Differenzen theoretischen Charakters, die größten Meinungsverschiedenheiten der streitenden Schulen, solange die Gesetze der Handlung nicht angetastet wurden. Unsere Religion ist tolerant gegenüber ketzerischen Ideen, streng aber in ihrer Forderung der Gesetzesbefolgung, tolerant gegenüber der Gesinnung, streng aber in bezug auf die Handlung, auf das Werk. ,,Nicht die Lehre ist das Wesentliche, sondern die Handlung“, sagen unsere Weisen. Thora meint nicht Lehre schlechthin, sondern Gesetzeslehre.

Nur Differenzen, die eine Reform des Gesetzes erstrebten, haben der Einheitlichkeit des Judentums Abbruch getan. So entstanden die Sekten der Essäer und Saduzäer. Das Christentum hätte sich vielleicht vom Judentum nicht losgelöst, wäre nicht die paulinische Richtung, die gegen den ,,Fluch des Gesetzes“ ankämpfte, zur Vorherrschaft gelangt.

Das Gesetz ist Ureigenheit der jüdischen Religion. Auch viele mythische Religionen sind von sittlichen Motiven durchwirkt, aber keine von ihnen hat die Funktion einer Gesetzesverfassung; keine von ihnen ist ein Kodex von Riten-, Sitten- und Staatsgesetzen. Keine Religion kann sich mit der jüdischen an Kraft der Bindung und Geltung messen. Keine wie sie ist so reich an „Zäunen“, an „Zäunen um Zäune“. Keine wie sie ist von Werken erfüllt. Keine wie sie ist von der Sorge beherrscht, die Lebensformen des Einzelnen und der Gemeinschaft durch Vorschriften und Verordnungen bis ins kleinste Detail mit peinlicher Genauigkeit festzusetzen. Es ist nicht Zufall, dass sie eine besondere Vorliebe für das Deuten und Tüfteln am Gesetze und Gesetzesbuchstaben immer bekundet hat. Das Deuten und Tüfteln gehören zur Pflege des Gesetzes; sie sind gute Zeichen für die Lebenskraft, weil für die Rigorosität des Gesetzes.

Es ist Entstellung, wenn der jüdische Liberalismus in vermeintlicher Apologetik und zur Rechtfertigung einer Religion ohne Religionsgesetze, eines Inhaltes ohne Formen, einer abstrakten Idee als Judentum — vermöge der Interpretationsmethode, die das hineinliest, was sie herauslesen will — zu beweisen sucht, dass die Ritualgesetze in unserer Religion untergeordneter Natur sind. Nein, sie sind nicht umsonst so zahlreich; sie haben mit den Sitten- und Staatsgesetzen die gleiche Rangordnung, den Rang einer göttlichen Anordnung. Die jüdische Religion wertet nicht ihre Gesetze, unterscheidet ursprünglich Ritual- und Sittengesetz nicht einmal durch einen äußeren Terminus, geschweige denn nach innerer Bedeutung und Stellung. Sie ist eben keine Ideenlehre, sondern Gesetzeslehre. Unsere Lehre wird als Befehl, Satzung und Gesetz bezeichnet. Auch der späthebräische, einer fremden Sprache entlehnte Ausdruck für unsere Religion heißt: Gesetz (Dat); „das Gesetz Moses und Israels“. Albu gebraucht den Ausdruck Dat auch im Sinne sozialer Ordnung.

Daher die einzigartige Bedeutung des Thorastudiums in der jüdischen Religion. Als Gesetzesverfassung von (zweihundertachtundvierzig Geboten und dreihundertfünfundsechzig Verboten, die alles Tun und Lassen regeln, erfordert sie ein fleißiges Studium.

Freilich ist die sittliche Urkraft das schöpferische Motiv in unserem Gesetzeskodex; sie ist aber keusch und implizite in ihm wirksam — wie es sich auch mit dem Unsterblichkeitsgedanken verhält, der in der Opposition gegen Mythos und Totemismus metaphysisch verdunkelt wurde — und nicht in einer Ideologie bloßgestellt

Solange nun der Geist des Judentums in den Gesetzesformen lebte, hatten wir auch in der Diaspora eine nationale und sogar halbwegs politische Verfassung: einen eigenen Gesetzeskodex, der unser Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit umfasste und umgrenzte, will sagen, gestaltete. Sobald aber der Geist als Idee herausgeschält wurde, konnte und musste der Gedanke der Assimilation im Judentum selbst Sanktion finden. Der aller Formen entblößte Geist hat als Sittenlehre, als Weltanschauung gegen den nationalen Bestand des Judentums entschieden. So groß erwies sich die Diskrepanz zwischen dem Geist im Gesetz und dem Geist als abstrakte Idee; zwischen der religiösen Schale und dem ethischen Kern. Die Schale hat nationale Kraft, der Kern — entnationalisierende Kraft. Die Schale hat nationale Sonderform, der von ihr losgelöste Kern wächst in die allgemein menschliche Uniformität der sittlichen Ideen hinaus.

Eine Analyse des „Geistes des Judentums“ zeigt also: a) das lebendige Judentum ist nicht eine Ideologie und kann daher nicht in einem bestimmten Ideengehalt ein Kriterium haben; b) als Idee hat das Judentum seinen Grund nicht in den Individual-Elementen des Gefühls und der Phantasie, die die schöpferische Kraft des Mythos bilden, sondern in den Universalelementen einer rationalen Sittlichkeit, die allgemein-menschliche Geltung beanspruchen; diese Idee kann daher kein nationales Kriterium bedeuten, weil sie rational-universal gerichtet und kein nationales Differenzierungsmoment ist.

Wir pflegen uns oft zu trösten: das Judentum ist ein ewig sittliches Ideal, das nie aufhören kann — und merken nicht, dass wir damit den tiefsten Judenschmerz ausdrücken: Das Judentum kann nie aufhören, weil es seinem Wesen nach übernational, universal ist, d. h. ein allgemein menschliches Kulturideal. Wir verkünden es mit Stolz: die Ideen des Judentums dringen immer mehr in der sittlichen Kultur durch und erobern die Menschheit — und merken nicht, dass wir damit sagen: Die Ideen des Judentums treten immer mehr aus der Sphäre des Nationalen heraus und werden Gemeingut der sittlichen Menschheit. Jede dieser Eroberungen schmälert unsern nationalen Besitz.

Diese Ideen sind ihrer rational-universalen Anlage nach nicht bodenständig, sind „transportfähig“, eignen sich daher für Mission; sie sind gleichsam mobile Güter, im Gegensatz zu den Individualelementen des Mythos und der Kunst, die tief in der nationalen Persönlichkeit verankert sind und gleichsam immobile Güter des Geistes darstellen. Durch diese universelle Übertragbarkeit und Expansionsfähigkeit der Ideen des Judentums erklärt sich der assimilatorische Gedanke der jüdischen Mission.

Es ist nicht von ungefähr, dass die westeuropäische Judenheit im Namen des ,,Geistes des Judentums“, im Namen der universellen Ideen unserer Propheten das Aufgeben des jüdischen Partikularismus, will sagen des nationalen Sonderseins forderte. Aus dem Geiste des Judentums heraus gelangte sie also zur Assimilation. Ist die Erhaltung des Judentums mit der Erhaltung seines sittlichen Geistes identisch, so mögen vielleicht unsere modernen Assimilationsrabbiner recht haben, wenn sie predigen: Wir verrichten in der Diaspora eine hohe Mission des Judentums, wir sind die Zuchtmeister der Welt geworden; unser Geist verbreitet sich über die Menschheit in allen Erdteilen; er wird erhalten, indem er seine nationale Besonderheit aufgibt; er wird gefördert, indem er Gemeingut aller Kultur wird.

So konnte David Neumark, auch ein Vertreter des geistigen Judentums, das Kriterium des ,,Geistes“ dahin fassen: Das Judentum ist ewig; das Judentum ist eine Idee, die Idee des Guten. Auch Plato war also Jude... Wie die Mathematik nicht im Dasein der Mathematiker besteht, sondern in ihren ewigen Wahrheitsbegriffen — so das Judentum... Und ein anderer hebräischer Schriftsteller hat aus der Definition des Geistes des Judentums den folgerichtigen Schluss ziehen dürfen: Nicht eine Konzentration der Juden gewährleistet den Bestand des Judentums; sondern nur die Zerstreuung kann diese Aufgabe erfüllen, indem durch sie in weiser Vorsehung die Weltanschauung des Judentums in allen Ländern und unter allen Völkern verbreitet wird...

Ist nicht die Behauptung statthaft, dass der Geist des Judentums durch den Verlust unseres Staatswesens an Lebenswirklichkeit, an Vertiefung und Festigung nur gewonnen hat? Mit dem Schwinden unserer Macht konnten wir aufrichtiger die Nichtigkeit der Gewalt predigen und das prophetische Wort: „Nicht durch Macht und nicht durch Kraft, sondern durch meinen Geist“ bewahrheiten. Hermann Cohen durfte daher sagen, dass der Untergang des jüdischen Reiches eine segensvolle Schicksalsfügung war: der Untergang unseres Reiches habe erst den Fortbestand und die Fortentwicklung unserer Ideen in ihrer vollwertigen Wahrhaftigkeit ermöglicht. Und westeuropäische Rabbiner deuteten auch in diesem Sinne den Midrasch-Spruch: „Am neunten Ab ist der Messias geboren“...

Allenfalls: was dem Geiste des Judentums als einer Sittenlehre fördernd ist, ist es noch nicht für die nationale Sonderart des Judentums. Wie viel vom Geiste des Judentums ist im Sozialismus erhalten und wie wenig doch vom nationalen Sein des Judentums. Und ist nicht der Sozialismus vielmehr eine Art von Expropriierung des Geistes des Judentums? Die Ideen des Judentums verbreiten sich immer mehr — freilich, aber bedeutet es denn nicht, wie gesagt, dass sie immer mehr aufhören, unser nationales Eigentum zu sein, indem sie in den Besitz der Menschheit übergehen?

Somit müssen wir den Satz prägen:

Wahrung und Förderung des Geistes des Judentums, des Monotheismus, des Messianismus, des Optimismus, des Sozialismus und all der Ideen, die als Judaismus bezeichnet werden, bedeuten noch nicht eine Wahrung und Förderung unseres nationalen Seins; gar oft ist das Wohl dieses „Geistes“ das Weh unseres Seins.

Will also der Nationalismus den „Geist des Judentums“ verneinen? Dieser Vorwurf wäre ungerechtfertigt. Er will ihn nicht verneinen, er will ihn nur nicht zu einem nationalen Kriterium erheben. Er will das Judesein nicht durch ein subjektives Moment, durch ein Bekenntnis bedingen, sondern durch ein objektives: Land und Sprache. Sie sind die Formen des nationalen Seins.

Aber unser Land ist nicht unser, unsere Sprache nicht Volkssprache. Freilich, sie sind Antizipationen einer nationalen Forderung; und nur in Vorwegnahme der erstrebten Zukunft und in Verneinung der Galut-Gegenwart legitimieren wir uns als Nation. Ohne die Richtung auf eine nationale Zukunft unseres Landes und unserer Sprache, ohne diese Korrelation, ohne die Orientierung an diesem Seinsollen, das noch kein Sein darstellt, können wir für das Judentum in der Diaspora den Begriff einer Nation nicht beanspruchen.

In der Diaspora haben wir aufgehört, eine Nation zu sein, — sagen die Assimilationsjuden. Und das Nationaljudentum muss erwidern: Wir sind eine Nation auch in der Diaspora, insofern unser Wille auf die Erlösung aus der Diaspora gerichtet ist; auf die Wiedergeburt unseres Landes und unserer Sprache.

Auch in der Diaspora bilden wir eine nationale Einheit, auch im fremden Lande und in fremder Sprache, wenn wir nur im Geiste des Judentums leben und wirken, — sagt der Galut-Nationalismus. Und das echte Nationaljudentum muss erwidern: In einem fremden Lande und in einer fremden Sprache ist unsere Existenz nie national, selbst wenn wir im Geiste des Judentums, d. h. der jüdischen Sittenlehre leben und wirken. Ohne die Zukunft-Korrelation des nationalen Landes und der nationalen Sprache ist der Nationalismus in der Diaspora ohne Sinn, und die Assimilation — eine mutige Konsequenz.

Wir kennen auch den besseren Stil des Afternationalismus, der die Verneinung des Galut ausspricht und die Forderung von Land und Sprache aufstellt. Nur begründet er es auf seine Weise: Land und Sprache sind ihm ,,bloß“ die nationalen Formen, der Geist des Judentums aber der nationale Inhalt. Welchen Wert hätten die Formen ohne Inhalt? Welchen Sinn hätte ein Martyrium für Formen, wenn es nicht um des großen Inhalts, des Bekenntnisses, der Ideen des Judentums willen geschieht? Verlohnt es sich für „des Inhalts entleerte Formen“ einen Kampf zu führen? So fragt der geistige Nationalismus.

Wahrlich, mit dem Erstarken unseres umgewerteten Lebens in Palästina wird die neue Generation einen Kampf für die nationalen Formen, Land und Sprache, wie unsere Väter in der Diaspora für den Inhalt des Judentums, tapfer und freudig führen und kein Opfer scheuen. Und sind nicht bereits die ersten Anzeichen dafür da, dass die neue Generation, die dem Inhalt des Judentums, seiner Religion und den Ideen des Judaismus fast entfremdet ist, einen Sinn für ein Martyrium der „bloßen“ Form wegen — unserer nationalen Sprache wegen — zu bekunden weiß?

Hier erkennen wir den Grundirrtum der nationalen Theorie vom Geiste des Judentums. Sie hat mit der Religion eine gemeinsame Methode in der Anerkennung eines Inhalts als eines Kriteriums des Judentums. Nur ist diese Methode im Wesen des religiösen Kriteriums, das ein Bekenntnis zu einem bestimmten Inhalt fordert, tief begründet, bildet aber einen inneren Widerspruch in einem nationalen Kriterium. Der Inhalt einer Lehre, ein religiöses Bekenntnis, eine Weltanschauung, ein bestimmter Ideenkomplex, kann nie ein nationales Differenzierungsmoment bilden; nur die Form vermag es. Und der abstrakte Inhalt des Judentums als Ethizismus kann erst recht nicht ein nationales Moment bilden. Wir sahen ja, dass er seiner Anlage nach in Universalismus münden musste, seiner Natur nach anational, ja antinational ist. Wir erkannten bereits: die Erhaltung des sittlichen Inhalts des Judentums ist keineswegs mit der nationalen Erhaltung des Judentums identisch zu setzen. Dieser Inhalt wird auch außerhalb der nationalen Grenze unserer Existenz erhalten, und zwar in der Form der allgemein-menschlichen sittlichen Ordnung, des Sozialismus und der vielen Kulturinstitute, die den Geist des Judentums verwirklichen. Kommt es auf die Erhaltung des jüdischen Lehrinhaltes an, so wird z. B. die sozialethische Idee des Sabbats in der christlichen Sonntagsruhe erhalten; die nationalhistorische Form dieser jüdischen Institution wird aber dadurch vernichtet.

Inhalte sind ihren Wesen nach anational; wenn ihr Ursprung auch national ist, tendieren sie doch nach Universalität, weil nach Allgemeingültigkeit. So die Inhalte der religiösen und sittlichen Lehren. Daher bilden Konfession und Moral diejenigen Geschichtsfaktoren, die die nationalen Schranken durchbrechen und die verschiedensten Völker im Namen eines Lehrinhalts vereinigen; sie sind die antinationalen Tendenzen in der Geschichte der Menschheit.

Ein fremder Inhalt kann wohl durch jüdische Formprägung ins Judentum eingebürgert werden und nationale Weihe erlangen. Eine fremde Form aber kann nie durch einen jüdischen Inhalt jüdisch werden und in unserem Nationalbesitz übergehen; sie enteignet vielmehr den Inhalt und erwirbt ihn für ihre nationale Domäne. Das nationale Matrikel aller Werte ist die Form.

So müssen unsere Zeitschriften in nichtjüdischen Sprachen sich ausschließlich mit jüdischem Inhalt beschäftigen, hingegen sind unsere Zeitschriften in jüdischer Sprache immer jüdisch, auch wenn sie durchwegs nichtjüdische Inhalte behandeln; sie führen sie damit in den jüdischen Literaturschatz ein.

Im Glauben, den Geist des Judentums in einem fremden Gewande wahren und sogar fördern zu können, hat Philo den jüdischen Inhalt in hellenistische Form kleiden wollen. Es war ihm um den Inhalt zu tun, für den er in Liebe und Verehrung seine mühevolle Arbeit einsetzte. Die Form aber hat über den Inhalt entschieden. Das Werk Philos konnte nur außerhalb der Grenzen des Judentums eine dauernde Wirkungsstätte finden. Ein geschichtliches Beispiel für die Suprematie der Form ist ferner die arabisch-jüdische Literatur, die nur insofern das Judentum schöpferisch beeinflusste, als sie ins Hebräische übertragen wurde. Auch unsere neuzeitliche Literatur, die in fremden Sprachen niedergelegt ist, kann nicht als unser Nationaleigentum angesehen werden und muss erst aus dem Sprachenexil erlöst werden, um dem jüdischen Schrifttum einverleibt zu werden.

Vielleicht darf man in diesem Zusammenhange die Vermutung aussprechen, dass ein deutscher Dialekt nie hätte Jiddisch werden können, hätte er nicht den Charakter der hebräischen Typen angenommen.

Nur Formen können ein nationales Kriterium bilden. Wir können die Distanz zwischen dem Kriterium des Inhalts und dem der Form an den zwei entgegengesetzten Strömungen im modernen Judentum ermessen: die Assimilationsprediger, die nie müde werden, das „Wesen des Judentums“ und den „Geist des Judentums“ zu verherrlichen — auf der einen Seite; die Vorkämpfer unserer nationalen Renaissance, Schöpfer der neuhebräischen Literatur (z. B. Berdyczewski, Tschernichowski u. a.), die gegen die Grundlehren des Judaismus in Opposition treten — auf der anderen Seite. Wer von beiden Gruppen schafft nationale Werte? Die Antwort ist klar.

Es ist nur natürlich, wenn sich der Afternationalismus so sehr gegen den Territorialgedanken des modernen Zionismus gewehrt hat. Der Zionismus besagt in seinem tiefsten Grunde die Eliminierung des Inhaltes aus dem nationalen Kriterium, das sich nur von Formen, wie vornehmlich Land und Sprache, bestimmen lässt. Der Zionismus stellt daher die strengste Konsequenz der nationalen Erkenntnis dar. Er ist die Säkularisierung des Begriffes Israel. Er bedeutet eine neue Epoche als Grundlage eines neuen Kriteriums des Judentums.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Probleme des modernen Judentums