Die Existenzfrage des moderner Judentums

Ein Lehrsatz lautet: Eine vollständige Auflösung der Judenheit liegt nicht im Bereich der Möglichkeit. Die Assimilationsversuche sind als misslungen anzusehen; sie vermochten nicht unser nationales Gepräge auszumerzen und die Judenfrage auch nur zu mildern, geschweige zu lösen. Wir sind nicht unter dem Gesichtspunkt der Quantität als eine den Gesetzen der Zahl und Menge unterworfene Minderheit, sondern als eine eigenartige nationale Qualität zu bewerten, die jene seltsame Eigenschaft besitzt: nie und nirgends aufgelöst werden zu können.

Dieser Glaube an die Unmöglichkeit einer völligen Assimilation der Juden ist von der zionistischen Lehre zu einem unumstößlichen Dogma erhoben worden. Er suchte und fand bald einen Stützpunkt in der noch recht wackligen Rassentheorie, die, obgleich selbst nur eine vage Hypothese, vom Zionismus als eine wissenschaftliche Grundlegung mit naiver Begeisterung aufgenommen und verkündet wurde.


Ein zweiter Lehrsatz lautet:

Palästina kann nicht die Frage der Judennot, sondern die der Judentumsnot lösen. Eine jüdische Siedlung im Lande der Väter bedeutet nicht die Aufhebung des Galut, eine Sammlung der Zerstreuten, sondern die Schaffung einer Heimstätte für jüdische Kultur, die Ermöglichung einer normalen Entwicklung unserer nationalen Werte auf unserem historischen Nährboden: die Errichtung eines geistigen Zentrums. Von diesem Zentrum, das gleichsam die Sonne der Nation und den Brennpunkt all ihrer schöpferischen Kräfte bilden soll, werden Strahlen zu der weit ausgedehnten Peripherie der gesamten Judenheit in den Diasporaländern ausgehen und, Licht und Wärme spendend, das Judentum allerorten befruchten und fördern. Der kleine Tempel unseres nationalen Heiligtums in Palästina wird auch die großen Massen in den Fremdländern vor Entjudung schützen. Die versprengten Volksglieder werden sich um den geistigen Mittelpunkt sammeln; um das Herz der Nation, aus dem sie neues Leben empfangen werden, sobald sie seinen Pulsschlag in der Ferne vernehmen. Die geistige Sammlung wird die räumliche Zerstreuung überwinden.

Mit dieser Problemstellung und Lösung des Kulturzionismus verbindet sich eine besondere Vorliebe für Betonung eines geistigen Judentums sowie eine besondere Neigung für Definitionen, die das .Judentum als einen Lehrinhalt ergründen und durch Ideologien bestimmen. In solchem Zusammenhang erhält das geistige Zentrum eine ihm vorgezeichnete Funktion mit zielbewusster, zwecksetzender Richtung: als Wahrung und Förderung des Judentums im Geiste seiner traditionellen Lehre, seiner sittlichen Ideen, oder, wie es heißt, seiner nationalen Ethik, der spezifisch-jüdischen Weltanschauung.

In ähnlichen Gedankengängen bewegt sich der moderne Glaube an eine wunderbare Lebenskraft des jüdischen Volkes. Ist das religiöse Judentum in tiefinnigem Glauben an die Ewigkeit der Thora von der Unsterblichkeit Israels überzeugt, so sind es die Verfechter des geistigen Judentums im Glauben an die Ewigkeit der jüdischen Sittenlehre. Sowohl die assimilatorischen als die nationalen Wortführer des jüdischen Ethizismus bekennen sich zum Ausspruch unserer Weisen: „Israel kann nie untergehen.“

Diese Lehrsätze müssen von dem im Territorialgedanken gereiften Nationalismus, also vom Zionismus, abgelehnt werden; der von ihnen vertretene Glaube muss von ihm als verhängnisvoll für unsere nationale Wiedergeburt erkannt werden.

Eine vollständige Assimilierung der Judenheit ist möglich.

Die Assimilation gewinnt immer mehr an Umfang und noch mehr an Tiefe. Noch ist sie dahin nicht gelangt, die jüdische Nationalität völlig auszulöschen und die Judenfrage aus der Welt zu schaffen, aber damit ist nicht bewiesen, dass sie nie dahin gelangen wird. Noch steht sie in den Anfängen ihrer Entwicklung und kann sich schon ansehnlicher Erfolge rühmen. In der kurzen Zeitspanne ihres Wirkens ist unser Nationalbesitz bedeutend geschmälert worden; der erst vor einem Jahrhundert eingetretene Entnationalisierungsprozess hat bereits viele und wesentliche Glieder unseres Volkskörpers verunstaltet, entartet, und treibt nun Blüten der Verwesung. Mit welchem Recht dürfen wir die Assimilation als misslungen bezeichnen? Die Assimilation ist unterwegs. Es ist ja nur ihr Anfangsschritt und man muss sagen: sie hat in raschem Tempo ein großes Stück des Weges vom Judentum ab zurückgelegt und die erste, allerdings leichtere Hälfte ihrer Aufgabe — die Entwurzelung — mit erstaunlicher Fertigkeit gelöst. Und wer will es bestreiten, dass auch die zweite, schwierigere Hälfte — die Einwurzelung — verheißungsvolle Ansätze aufzuweisen hat?

Unser zweitausendjähriger Bestand im Exil kann gewiss nicht als Beweis dafür gelten, dass unsere Assimilierung schlechterdings unmöglich sei. Die Kraft der religiösen Lebensformen, die unser Volkstum in strenger Abgeschlossenheit erhalten hatte, ist von uns gewichen, und es gibt keine feste Scheidewand mehr, um ein Ghetto aufzurichten und ein nationales Sondersein im Galut zu sichern.

Und der Geist des Judentums, der Geist unserer unsterblichen Sittenlehre, jener ewigliche Kern, der nach Abwerfen der religiösen Schale an Festigkeit und Wirklichkeit nur gewinnt — bietet er nicht Gewähr für den Bestand des jüdischen Volkes?

Nein. Die Schale ist national wertvoller als der Kern. Die Schale ist national widerstandsfähiger als der Kern. Es gibt einen nationalen Halt in unseren Religionsgesetzen; es gibt aber keinen nationalen Halt in einer Ideologie und gar in einer ethischen Lehre. Unsere Religionsverfassung ist reich an nationalen Scheidewänden, an „Schutzmauern“ und ,,Zäunen“, die unser Eigenleben allseitig umgrenzen: der Geist des Judentums ist es nicht. Das in Normen gebannte Judentum hat nationale Enge, der von ihnen losgelöste Kern — kosmopolitische Weite. Vielleicht verbürgt die sittliche Kraft des Judentums seine Erhaltung im Weltbereich seiner Ideen, nicht jedoch als nationales Reich; in Expansion, nicht in Konzentration; im Bunde der Menschheit, nicht im Bunde Abrahams; als Ethizismus, nicht als Ethos; methodologisch gesprochen: als Inhalt, nicht als Form.

Hat die im ersten Kapitel unternommene Analyse des spirituellen Judentums ergeben, dass der sittliche Inhalt des Judentums kein Auskunftsmittel für ein nationales Kriterium besitzt, so besagt sie auch zugleich, dass er keine nationale Garantie in sich birgt. Wir wissen: Wahrung und Förderung des Judaismus meint nicht Wahrung und Förderung unseres nationalen Daseins; gar oft ist das Wohl der jüdischen Weltanschauung das Weh ihres nationalen Trägers. Wir wissen auch: der „Geist des Judentums“ hat die Assimilation sanktioniert. Das Menschheits-All ohne Teilung und ohne Saum tat sich ihm auf, die ganze Erde erschloss sich ihm als ein gelobtes Land, und er glaubte wahrlich auf seine innere Berufung sich besonnen zu haben und seinen weltgeschichtlichen Auftrag treulich zu erfüllen, indem er im Namen des Propheten den „Partikularismus“ preisgab und als Weltgeist auf alle völkischen Attribute verzichtete. Er also kann unseren nationalen Bestand nicht gewährleisten. Er kann im besten Falle ein jüdisches Bewustssein erhalten — ein subjektives Judentum, das sich in einem verbalen Bekenntnis äußert und erschöpft; ein eingebildetes Judentum, das in unjüdische Wirklichkeit wohlig eingebettet ist und auch auf die Bequemlichkeit nicht verzichten mag, sein nationales Gewissen durch Fiktion eines Scheindaseins zu beschwichtigen — nicht aber ein jüdisches Sein. Israel kann nie untergehen — nur der religiöse Jade und der assimilatorische Judaist dürfen diese Gewissheit aussprechen. Dem religiösen Juden ist sie ein Glaubenssatz. Dem assimilatorischen Judaisten bedeutet ja der Untergang der jüdischen Nation nicht den Untergang Israels, sondern eine Weiterentwicklung und vollends eine Stärkung Israels, weil Läuterung und Ausbreitung des Judaismus. Auch wenn der Judaist an die nationalen Losungen des Zeitgeistes ein Zugeständnis macht und den leibhaftigen Juden als anthropologische Voraussetzung für den Fortbestand der prophetischen Ideen anerkennt, wie es Hermann Cohen in der letzten Etappe seines langsamen aber regelrechten Rückzuges dem Zionismus zubilligte, so ist es nur eine Umsetzung des nationalen Untergangs als eines passiven Zustandes in die Aktivität einer nationalen Selbstüberwindung, Selbstaufgabe: der Jude ist die biologische Bedingung für die Bewährung des Judaismus in nationaler Entsagung, in Entnationalisierung, wenn anders die Idee nicht der Naturtatsache, der Zweck nicht dem Mittel geopfert werden soll. Geht man noch weiter, und schließt von der Unsterblichkeit des judaistischen Menschheitsideals auf die Unsterblichkeit seines Trägers, so meint man höchstens das illusorische Individuum, die verstreuten Einzelnen als Bekenner, als „göttlichen Tau inmitten der Völker“; nicht aber das Kollektiv als Sammlung in Sonderung. Kurz, diese Zuversicht auf Erhaltung des Judentums ist im Glauben an die Zerbröckelung der jüdischen Volksgemeinschaft begründet; Israel kann nie untergehen, denn im Vergehen ist sein Bestehen.

Der Nationaljude muss hingegen sagen: Vielleicht wird die Idee des Judentums in den Regionen der Abstrakta ewig bestehen, als elastischer und anpassungsfähiger Kautschukbegriff, als bodenloses und daher universales Luftjudentum; vielleicht auch ist unser Geist stark genug, um sich gegen allen Nationalgeist der Wirtsvölker zu wehren und zu behaupten; vielleicht mächtig gar, um in Überflügelung der nationalen Grenzen die Welt zu erobern und als „nackte Seele“ eines wunderlichen Weltvolkes unter den Menschen umherzuirren, überall gespensterhaft wirkend und nirgends sichtbar, überall beängstigend, weil nirgends heimisch; vielleicht ist er noch wurzelkräftig, um sich in neuen Schöpfungen zu entfalten und in modernreligiöser Neubelebung seinen Horizont zu weiten und zu erhellen — Israel kann bei all dem untergehen.

Und noch mehr muss gesagt werden. Eine Assimilierung der Diaspora-Judenheit ist nicht nur möglich, sondern unvermeidlich.

Ein unter vielen Nationen und in vielen Ländern zerstreutes und aufgeteiltes Volk muss früher oder später von ihnen aufgesaugt werden. Man kann den Werdegang der Assimilation hemmen und verlangsamen, nicht aber zum Stillstand bringen. Man kann das Endergebnis hinausschieben, nicht aber abwenden. Man kann auch ein nationales Leben durch künstliche Mittel, gleichsam durch künstliche Atmungsorgane erhalten. Doch erweist sich bald diese mühselige Erhaltung als eine unnütze Vergeudung von Volkskräften. Ein immerwährender Widerstand gegen die fremde Umgebung, ein unablässiger Kampf gegen die fremde Wirklichkeit ist nicht möglich. Die Anstrengung des Volkswillens, die fehlenden nationalen Elemente durch Surrogate zu ersetzen, ist nur als Übergangsstadium in Hoffnung auf Wiederherstellung der nationalen Norm berechtigt; als bleibende Lebensbedingung enthält sie eben in dieser Bedingung das Todesurteil. Das Gekünstelte ist auf die Dauer ermüdend, das Gespannte muss endlich reißen. Das Gewollte, Allzubewusste, Allzukonstruierte mag das nationale Bewusstsein befriedigen, vermag aber nicht echte Werte eines nationalen Seins zu erzeugen; es ermangelt des Elementaren, des Unmittelbaren und Unbewussten. Es ist ein Sollen, das einem stetig wachsenden Sein zu trotzen hat und folglich an ihm zerschellen muss; eine aufreibende Pflicht, die schließlich als Joch empfunden und abgeschüttelt wird. Freilich ein Gebot des Lebens, des nationalen Selbsterhaltungstriebes; doch muss es allmählich an Triebkraft abnehmen und zu einem frommen Wunsch erblassen, da es nur noch als Trägheit wirkt und im Konflikt mit dem wirklichkeitsvollen Lebensgebot des individuellen Selbsterhaltungstriebes steht. Es kann hier und da einer großen Persönlichkeit gelingen, sich den Einflüssen des Milieus zu entziehen und in hermetischer Abgeschlossenheit gegen die Außenwelt aus den Quellen des entrückten Volksgenius zu schöpfen; auch darf eine idealgesinnte und willensstarke Elite sich die vornehme Aufgabe zutrauen, in zweckbedachter Absonderung und in einer Art von Weltfremdheit die Güter der Nation unter- oder überirdisch zu hüten und nationale Kultur treibhausartig zu pflegen. Das Volksganze jedoch unterliegt den Gesetzen der Zahl und Menge und kann nicht in beständiger Opposition gegen eine überwältigende Mehrheit und in beständiger Abwehr des Gegenwärtigen verharren. Es muss in solcher Absperrung verarmen und geht nunmehr erschöpft und verkümmert erst recht in der fremden Nation unter, der es früher, als es noch im Besitz seiner nationalen Kulturwerte war und mitbestimmend sein konnte, die Gemeinschaft und Gefolgschaft verweigert hatte. In dieser oder in jener Form, als bereitwillige Teilnahme oder als verzehrende Vereinsamung, ist die völlige Assimilation unausbleiblich.

Haben wir uns nicht nahezu zwei Jahrtausende in der Zerstreuung erhalten, warum soll es nicht weiter möglich sein? Haben wir nicht auf fremder Scholle nationale Werte geschaffen, warum sollen wir es nicht mehr können? Ist doch die jüdische Wirklichkeit im Galut und nicht in Palästina verwurzelt, warum sollen diese tiefen Wurzeln plötzlich verdorren müssen? Im Exil hat Israel die furchtbarsten Prüfungen überstanden und die schwersten Krisen überdauert — wie darf man sagen, dass die Exiljudenheit, die fast das Gesamtjudentum darstellt, dem Untergang geweiht ist? So wird allenthalben getröstet. So wird der Glaube an eine nationale Zukunft der Diaspora gepredigt.

Wir waren schon auf diese Beweisführung aufmerksam und haben, den Fragen zuvorkommend, die Antwort kurz angedeutet. An dieser Stelle müssen wir aber diesen Gesichtspunkt näher prüfen und beleuchten.

Die obige Beweisführung unterlässt es geflissentlich, neben den auf eine günstige Schlussfolgerung eingestellten Fragen auch die schlichte Frage aufzuwerfen und zu erörtern: ob die Kräfte, denen wir unsere eigenartige Existenz als Volk ohne Land zu verdanken haben, noch bestehen und noch lange bestehen können.

Welche Kräfte sind es?

Etwa der nationale Selbsterhaltungstrieb? Er hat noch nie die Leistung vollbracht, ein in allen Weltteilen zerklüftetes Volk zwei Jahrtausende als Einheit zu erhalten. Hat er es denn vermocht, unsere nationale Sprache vor Verfall zu bewahren? Hat er nicht vielmehr von einer bedenklichen Unempfindlichkeit gegen die Schmach, dass das jüdische Volk in den ,,Sprachen der Gojim“ lebt, längst Zeugnis abgelegt? Der nationale Selbsterhaltungstrieb stumpft im Widerstreit mit dem fremden Organismus ab und büßt alsbald seine primitive Natürlichkeit ein, verliert die Kraft des National-Unbewussten und hinterlässt bloß ein ideales Wollen, das der inzwischen unbewusst gewordenen Assimilation noch weniger standhalten und höchstens ein „Sterben in Schönheit“ erreichen kann.

Unsere Religion ist es, in der das Rätsel unserer Dauer im Galut zu suchen ist. Sie ist die Macht, die uns von allen Völkern sonderte und in aller Zerstreuung einte. Die äußeren Ghettomauern, die von unseren Feinden errichtet wurden, hätten es nie bewirken können. Die inneren Mauern aber, die in unserer Religion gegründet und die wir auf den Wanderweg mitgenommen und in den Siedlungen immer fester ausgebaut haben, diese beweglichen „Zelte Jacobs“ sind es, die uns überall ein eigenes Heim sicherten. Wir haben, einen Ausdruck Dantons gebrauchend, unser Vaterland an den Schuhsohlen mitgenommen.

Die jüdische Religion ist reich an Umzäunungen, die unser Gemeinwesen gegen die Umwelt abgrenzen und ihm jede Fremdart fernhalten. Die jüdische Religion ist reich an Formen, die uns im Sein und Schein als Einheit binden und kennzeichnen. Ist sie doch im Gegensatz zu anderen Religionen keine Ideenlehre, sondern Gesetzeslehre. In unsern Gesetzen haben wir das Recht der Selbstbestimmung betätigt. Wir haben unsern Staat, nicht aber unsere Staatsverfassung verloren; wir erretteten sie gleichsam als tragbaren Staat, der uns auch in der Diaspora eine Art nationaler Autonomie ermöglichte.

Wohl mussten viele Gesetze nach Verlust unseres Staates außer Geltung kommen, im großen und ganzen blieb jedoch unsere Gesetzesverfassung in Kraft; sie wurde noch erweitert, durch genauere Einzelbestimmungen ergänzt und vervollkommnet. Nur der jüdische Kodex beherrschte und gestaltete unser Leben in all seinen Äußerungen. Nur die jüdische Gerichtsbarkeit war uns maßgebend. Die Landesgerichtsbarkeit haben wir nicht angerufen und ihren Kodex nicht anerkannt. Wurden uns ihre Gesetze aufgezwungen, so haben wir sie als schlimme Verhängungen angesehen, die zu beseitigen oder zu umgehen wir stets bemüht waren. Sie behielten diesen Charakter — als „Gseroth einer frevlerischen Herrschaft“ — auch wenn wir genötigt waren, sie durch die Formel: „Das Gesetz des Reiches ist gültiges Gesetz“, zu sanktionieren. Deshalb wurde der Angeber („Mossar“), d. h. der einen Juden bei der fremden Obrigkeit denunzierte, als Verräter betrachtet, zu Schadenersatz und anderweitiger Busse verurteilt und aus der Gemeinde ausgestoßen.

Auch in einem anderen Sinne ist unsere Religion keine Ideologie. Sie ist Nationalreligion, gebunden an den Stamm und seine Geschichte. Daher kannte sie nicht die jeder Konfession innewohnende Mission des Bekehrens. Sie musste vielmehr die Proselyten als Fremdkörper empfinden und hat den in der Religionsgeschichte wohl vereinzelt dastehenden Ausspruch getan: Proselyten sind Israel lästig wie ein Aussatz. Weil sie Volksund nicht bloß Glaubensgemeinschaft war, konnte die Bekehrung keine immanente Aufgabe des Judentums sein — so erklärt sich die biblische, von der Politik anderer Religionskämpfe grundsätzlich abweichende Vorschrift, die götzendienenden Völker zu vernichten und nicht dem Judentum anzugliedern — und hatte als freiwilliger Akt nur den Sinn einer Aufnahme und Einbürgerung in den Volksbund Israels.

Unsere Exilfürsten, Gaonim, Rabbanim, waren nicht Geistliche und Seelsorger — wie die modernen westlichen Rabbiner, die das Judentum in eine Kirche verwandelten, sich in Anlehnung an die christliche Geistigkeit und Seligkeit gerne nennen; sie waren Vorsteher und Verwalter unseres Gemeinwesens; sie waren Richter, Dezisoren, Dajanim; sie waren die obersten Behörden unseres exilarchistischen Staates. Ihre Gerichtshöfe hatten die Befugnis, auch Strafurteile zu fällen und zu vollziehen. Ihre Anordnungen hatten nicht nur religiöse Autorität, die Ungehorsam und Übertretungen mit Ausschluss aus der Kirche beantwortet; sie waren mit Machtmitteln eines musterhaft organisierten und sehr strengen Regimes ausgestattet, das Zuwiderhandlungen recht empfindlich ahndete. Wir fügten uns ihnen in Liebe, aber auch in Furcht vor der Gesetzesgewalt.

Unsere Gesetzesverfassung erhielt uns in der Diaspora eigenartige religiös-nationale Wirtschaftsformen, die in ihren Funktionen und Institutionen viele Erwerbszweige umfassten; wenn auch gewisse „an das Land gebundene Gebote“ im Galut keine Anwendung finden konnten.

Die Fremdherrschaft hat uns daher die Selbstverwaltung nicht entwinden können, solange wir unter der Botmäßigkeit unserer eigenen Gesetze und Gesetzeslehrer standen. Wir bildeten eine in sich geschlossene Rechtsund Wirtschaftsgemeinschaft. Nicht ein Bekenntnis, sondern vornehmlich eine Satzung war das Gefüge des einen Volkes. Nicht so sehr der religiöse und sittliche Lehrinhalt des Judentums als die konkreten Formen unserer Staatsverfassung trennten uns von allen Nationen, in deren Mitte wir unsere Zelte aufschlugen. Wir ruhten nicht an den Ruhetagen des Wirtsvolkes und feierten nicht seine Gedenktage, teilten nicht seine Freuden und seine Leiden, und waren nicht um die Wohlfahrt des fremden Reiches besorgt. Eine starke Mauer, von uns selbst errichtet, sonderte uns vom Landesvolke ab, und hinter der Mauer lebte ein jüdischer Staat in Miniatur.

So gaben wir unserem Landstrich in Babylon den Namen: Land Israels. Und Raw Huna durfte sagen: Wir betrachten uns in Babylon wie im Heiligen Lande. Auch in unseren späteren Siedlungen war das jüdische Ghetto — das seinen Wesensgrund und seinen Bestand in unserer Gesetzesverfassung und nicht in den bösen Absichten unserer Feinde hatte — ein Staat im Staate.

Selbst unsere sprachliche Assimilation vermochte nicht eine kulturell-nationale Assimilation zu bewirken, solange unsere Volkseinheit und Volkssonderheit in der Religion verankert waren. Die sprachliche Assimilation führte bald zur Ausscheidung nationaler Gebilde, die, von jüdischer Eigenart durchwirkt, nicht mehr als Fremdgut empfunden werden konnten.

Mittelhochdeutsch entwickelte sich zu Jiddisch, Spanisch zu Spaniolisch, und sind jüdische Sprachen geworden.

Wir sollten es als ein nationales Glück schätzen, dass der Prophetismus vom Rabbinismus verdrängt wurde. Hätte die prophetische Richtung der Geistigkeit mit ihrer Opposition gegen die Suprematie des Gesetzes entscheidenden Einfluss auf das Judentum genommen, wir hätten in der Diaspora schon längst aufgehört, eine Nation zu sein; die Kraft des Ideengehalts würde uns höchstens befähigt haben, nur noch als Glaubensgemeinde, als Kirche ein übernationales Dasein zu fristen. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten, die Hüter des Gesetzes, waren die Hüter des nationalen Judentums. Dies wusste Petrus, als er die Einheit des jüdischen Volkes bewunderte; dies wussten die Eiferer des Christentums, die den Talmud verbrennen Hessen. Das Gesetz war die Verkörperung des Judentums, das die mythische Verkörperung verabscheute. Außerhalb des Gesetzes bleibt also das Judentum ohne Veräußerlichung, ohne Gestaltung; es bleibt, in der Sprache der Kabbalah zu reden, eine nackte Seele. Alle Bestrebungen, die mit dem Ruf nach Vergeistigung und Verinnerlichung der jüdischen Religion — ein Ruf, der heutzutage in einer modernen stilisierten Losung von ,,Neubelebung der jüdischen Religiosität“ wiederhallt — auftraten und in Sehnsucht nach religiöser Erschütterung gegen die Erstarrung der Gotteslehre in einer formalen Gesetzeslehre ankämpften, führten immer zum Abfall vom Judentum; weil von den nationalen Lebensformen der jüdischen Staatsreligion, die der Unbedingtheit der Religiosität geopfert wurden. Beispiele: Essäer, Karäer.

Es ist ungerecht, den Rabbinismus als Verknöcherung oder gar als Entartung des jüdischen Geistes hinzustellen. Die große rabbinische Responsenliteratur zeugt wahrlich mehr von nationaler Lebensgemeinschaft, von Vitalität jüdischer Wirklichkeit, als die nach Aufleben schreiende neuhebräische Literatur. Wir sollten unsern Gesetzesgebern Dank wissen, dass sie für den Ausbau der jüdischen Rechtsordnung ihren fruchtbaren Scharfsinn und ihren unermüdlichen Fleiß einsetzten; dass sie Kompensation für den verlorenen Staat schufen. Wir sollten ihnen, und vollends den Rigorosen, den „Erschwerern“ unter ihnen. Dank wissen, dass sie für minuziöse Befolgung der Vorschriften wohlweise Sorge trugen. Zäune um die Gesetze und Zäune um Zäune anlegten und gegenüber aller Fremdherrschaft ein strenges Regime einer jüdischen Verfassung aufrechterhielten. Nach Untergang unseres Reiches musste das fließende Leben des Landes in starre Formen gezwängt werden, um konserviert zu dauern. Nur der blinde Eifer der Haskala konnte von Verstocktheit des Rabbinismus faseln. Nur das naive Freidenkertum konnte die Pedanterie, die Grausamkeit eines i-Tüpfelchens (J. L. Gordon: „Das Tüttelchen eines Jud“) und somit eigentlich den Gesetzescharakter unserer Religion verlachen.

Das Joch des Gesetzes hat freilich der Religiosität Abbruch getan. Um so vorteilhafter war es für die nationale Enge eines exterritorialen und mithin universalen Volkes; für die nationale Gebundenheit, die sich in Formzwang bewährte. Die Hallachah war daher für die nationale Erhaltung des Judentums von größerer Bedeutung als die Agadah. Es ist so erklärlich, dass unsere Weisen in den erzwungenen Disputationen mit Christen nichts von der Halachah, wohl aber vieles von der Agadah als unwesentlich im Judentum preisgaben.

Aber auch dieses starre System des Judentums im Galut war nicht etwa Trägheit, war nicht Verstopfung der Quelle, eine Besiegelung des Schöpferischen, eine Fesselung des Geistes; es gab Fließendes und Schaffendes, es gab ein Entstehen und Vergehen innerhalb dieses Systems. Ja, die mündliche Lehre war es, die das Judentum im Fluss erhielt. In der Auslegung der Schrift hat sich unsere Gesetzesgebung stetig erneuert; als Akt des Gebens im religiösen Gewand des Empfangens, der Ableitung vom überlieferten Wort. Unter der Kruste formalistischer Deutung pulsierte das Leben unseres Gemeinwesens; die Interpretation war ein vom Volksorganismus unbewusst erzeugtes Mittel, um Veränderungen und Neubildungen im Judentum zu ermöglichen oder nachträglich zu legitimieren. Die Ablehnung der mündlichen Lehre durch die Parole der oft erwachten religiösen Inbrunst „Zurück zum Urquell! Zurück zur Schrift!“ hatte nicht eine Verjüngung, sondern eine Erstarrung des Judentums bewirkt; da sie eine Ablehnung seiner nationalen Struktur, eine Unterbrechung seiner geschichtlichen Kontinuität war; da sie ihm einen Abschluss aufnötigte.

Der Rabbinismus hatte also eine doppelte Funktion; er war Erhalter und Fortbildner des Judentums. Er hat ein Riesenwerk der Vollendung nahegebracht: Die Ausgestaltung unserer Religion in einer Fülle von für alle Verhältnisse und Beziehungen klar umschriebenen Normen; sie waren ein Bollwerk, das das Judentum vor Verschwommenheit jenseitiger religiöser Geistigkeit, die unsere nationale Bindung locker zu machen drohte, immer beschützt hat. Der Rabbinismus hat aber auch das Judentum in Bedingtheit gesetzt, in einer vom Leben durchwirkten Entwicklung gefördert und vermöge der Auslegung vor Stillstand bewahrt. Daher heißt es: „Die Aussprüche der überliefernden Schriftgelehrten sind gewichtiger als die Worte der Schrift“.

Eine sinnreiche Midrasch-Allegorie erzählt: Moses gedachte die mündliche Lehre niederzuschreiben; aber vorausschauend, dass die Völker einst die Schrift in Übersetzung besitzen und behaupten werden: „wir sind Israel, wir sind die Kinder Gottes“, hat Gott ein Kennzeichen gegeben: Wer mein Mysterium besitzt, der ist mein Sohn. Die mündliche Lehre ist das Kennzeichen, das unser Volk von allen Völkern unterscheidet. Sie kann nicht übersetzt werden; sie muss gelebt werden. Sie ist das Mysterium, das nur uns eigen ist.

Wir können nunmehr die obige Frage nach dem Geheimnis unseres Bestandes in der Zerstreuung eindeutig beantworten. Die Formkraft der jüdischen Religion, die das Dasein in seiner ganzen Mannigfaltigkeit umspannt und alles Tun und Lassen regelt, das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft vom Intimsten und Keuschesten bis zum Äußerlichsten und Profansten in Gesetze bannt; die uns durch Aufprägung manifestierender Zeichen im Getriebe der Völker kenntlich macht — der gelbe Fleck wurde nicht erfunden, um uns zu zeichnen, sondern um uns zu demütigen, eben dadurch, dass er sonst keinen Sinn hatte — und ungeachtet der grausamen Verfolgungen die stolze und rigorose Anordnung wagt, dass „ein Jude seine Tracht nicht ändern darf, um unerkannt nach einem Ort zu gehen, wo ihm als Juden der Aufenthalt verwehrt wird“; der politische Charakter der indischen Religion, der in unseren Rechtsinstitutionen stets wirksam blieb und in den trotz aller Anfeindungen nie gänzlich aufgehobenen Sonderbestimmungen für Nichtjuden die nationalen Grenzen unserer Rechtsordnung beglaubigte: die Formkraft und die politische Verfassung des jüdischen Gesetzeskodex haben uns im Exil ein einzigartiges Reich als Staat im Staate zwei Jahrtausende erhalten.

Auch das Judentum der Gegenwart zehrt noch an dieser Kraft unserer Staatsreligion, in deren Formen noch ein beträchtlicher Teil unseres Volkes lebt. Dieser Teil ist der Nähr- und Wehrstand der jüdischen Nation. Unbewusst wird auch das moderne Judentum von ihm gespeist und beschützt.

Dieser Rest Israels wird aber immer kleiner und schwächer, die jüdische Religionsverfassung ächzt und stöhnt in ihren Fugen, ihre Formkraft ist in Zersetzung begriffen — und das Judentum der Diaspora hat keinen Bestand mehr.

Unsere Weisen sagten: „Für die Völker der Welt ist eine Verbannung kein Galut. Für Israel aber, das von ihrem Brot nicht isst und von ihrem Wein nicht trinkt, ist die Verbannung wahrlich Galut“. Hat der Schulchan-Aruch seine Geltung verloren, so haben wir inmitten der Nationen keine Scheidewände mehr und sind keine Ausnahme mehr; wir teilen das Schicksal aller anderen verbannten Völkerstämme: das Los der Vermischung. Unser Exil ist bald kein Galut mehr: das fremde Land ist oder wird uns Vaterland.

Man sagt, der Westen beweise das Gegenteil. Im Westen ist die Sonne unserer Religion untergegangen und doch ist mit ihr das Judentum nicht erloschen und die Judenfrage nicht verschwunden. Freilich, aber es muss ein Nachsatz folgen: weil der Osten den Westen hält.

Unsere großen Volksmassen im Osten, die noch in jüdischer Tradition und allenfalls in deren Atmosphäre wurzeln, bilden für die Auflösung der Westjudenheit ein Hemmnis. Die aufrechte Gestalt der Nation im Osten wirft ihren Schatten weit über ihre Landesgrenzen und breitet ihn über die erschlafften Glieder im Westen aus, die daher in den fremden Organismus nicht ganz hineinwachsen können, solange der jüdische Volkskörper jenseits der Grenze sich regt. Von Osten gehen ebenso Schatten der Judenfrage nach allen Weltgegenden aus und spuken gespensterhaft beängstigend auch in Ländern, wo diese Frage bloß ein matter Widerschein der jüdischen Wirklichkeit aus der Ferne ist. Die Judenheit im Westen besteht also nur noch als Abglanz des Ostjudentums, das in seiner Auswirkung ihr Schutz gewährt und sie der Leiden des Volkes teilhaftig werden lässt. Die Assimilanten wissen es und fürchten daher den Ostjuden, der Judentum nach dem Westen verschleppt und den Prozess der Verschmelzung stört.

Aber unsere letzte Mauer im Osten wird immer rissiger und ist ins Schwanken geraten — mit ihrem Fall hat das Judentum keinen Halt mehr in der Stätte seiner nationalen Konzentration, geschweige denn in der Peripherie seiner langen Schatten, die es jenseits der Mauer wirft.

Man sagt, Amerika beweise die Existenzmöglichkeit eines modernen Judentums im Galut. Indessen besteht auch da das Judentum nur dank der fortdauernden Einwanderung östlicher Juden. Bis es einer Wanderwelle gelingt, das Ghetto zu verlassen, hat der Ozean schon eine neue Wanderwelle ausgespült und mit ihr einen neuen Import von Judentum. Wenn die zerwürfelnden Fluten der Masseneinwanderung sich legen werden, wird die Assimilation ihren normalen Entwicklungsgang erhalten.

Auch befindet sich Amerika noch mitten im Stadium des nationalen Werdens, noch hat es keinen Amerikanismus. Wenn sein Völkergemisch aus dem Schmelztiegel als Einheit hervorgehen und eine nationale Gestalt annehmen wird, werden wir auch unsere überseeische Kolonie nicht behaupten können. Wir können nur unter den Völkern national leben, die ihre nationale Reife noch nicht erlangt haben.

Man wird einwenden: Nun ist doch unser Nationalismus gerade in den letzten Jahrzehnten und gerade in der jüdischen Moderne gewachsen, am allerwenigsten jedoch innerhalb des traditionellen Judentums im Osten.

Man muss aber zwischen Nationalsein als Idee und Nationalsein als Wirklichkeit unterscheiden. Unser Nationalismus setzte ein, als und insofern die nationale Wirklichkeit des religiösen Judentums in die Brüche ging. Er entstand in den Reihen der Entzweiten, der Abgesplitterten und Versprengten, nicht im Volksinnern der Geeinten und Wurzelstarken; er entkeimte nicht dem tiefen Volksempfinden der Gesetzestreuen und konnte in ihrer Mitte kein richtiges Verständnis finden, da sie im Besitze der jüdischen Lebensformen kein Bedürfnis nach nationaler Wiedergeburt verspüren. Im Bewusstsein des in ihnen lebendigen Judentums sehen sie auch nicht recht die uns drohende Gefahr des Untergangs und sind um die Zukunft Israels nicht so sehr ängstlich: sie haben ein nationales Gefühl der Sicherheit und daher keinen echten Sinn für unsere Rettungsversuche. In der Tat, der jüdische Nationalismus wächst mit dem Schwinden der jüdischen Wirklichkeit; sein Aufstieg könnte als Gradmesser für den Abstieg dienen.

Allenfalls bedeutet die Steigerung unseres Nationalbewusstseins nicht eine Stärkung unseres nationalen Seins, eine Mehrung unseres Nationalbesitzes. Man ist noch kein nationaler Jude, wenn man jüdischer Nationalist ist, Ist denn der westeuropäische jüdische Nationalist mehr Jude als der jüdische Assimilant? Sie sind in gleichem Masse dem fremden Volksgebilde angegliedert, in die fremde Kulturgemeinschaft eingestellt; sie sind beide gleich assimiliert, leben national unjüdisch; sie sind — vom Gesichtspunkt der nationalen Attribute aus bewertet — beide keine Juden mehr. Sie unterscheiden sich in ihrem nationalen Bekenntnis, in ihrer nationalen Willensrichtung, nicht aber in ihrem Nationalsein, im Jüdischsein. Wie soll ja die nationale Idee, so mächtig sie auch als Bekenntnis und als Wille sich kundgeben mag, den exilarchistischen Staat unserer Religion ersetzen und eine jüdische Wirklichkeit inmitten der Nationen schaffen? Sie kann vielleicht unser nationales Bewusstsein aufrichten, nicht aber unser nationales Sein. Eher kann sie den Aufbau unseres Volkstums in Palästina bewerkstelligen, als das Judentum im Galut erhalten oder gar vermehren.

4.

Ist nicht die Religion bloß das Gewand, in das unser Nationalgeist gehüllt war? Der Verlust des Gewandes kann doch nicht als ein Versiegen unserer nationalen Kraft im Galut eingeschätzt werden. So wird getröstet, so wird der Glaube an eine nationale Zukunft der Diaspora gepredigt.

Es ist indes ein Trugschluss und eitler Trost, wenn gesagt wird: der Verfall der Religion sei nur Wegfall einer Hülle, und die Kraft der Nation erleide hiermit keine Einbusse.

Erstens. Die Religion war uns im Galut nicht Gewand, sondern tiefster Inhalt unseres Daseins. Hätte sich die Entwicklung des Judentums in den Normalgrenzen nationaler Attribute vollzogen, so wäre unser Bestand in Formen gefestigt und gesichert und nicht durch einen Inhalt als Existenzgrund bedingt. Auch hätten gar viele religiöse Formen nach Entwertung ihres Inhalts nicht ihre Geltung verlieren müssen; sie hätten sich in nationale und staatliche Lebensformen verwandelt. Der Sabbat, die Feste, die Freuden- und Trauertage, gewisse Gebote und Verbote, Rechtsnormen und Bräuche würden in einem territorialen Gemeinwesen nationalpolitische Sanktion erhalten und auch nach Schwinden ihres religiösen Ursprungs fortgelebt haben.

Das der primären nationalen Formen entblößte Diasporajudentum bleibt hingegen an einen Inhalt als seinen Existenzgrund immer gebunden und hat ohne ihn keine Widerstandskraft. Auch kann uns die absterbende Religion nach Erlöschen ihres Inhalts keine Formen hinterlassen, die, losgelöst von ihrem religiösen Kern, nationale Geltung in der Diaspora erlangen dürften. Wir haben im Exil keine außerreligiöse Autorität, keine gemeinschaftsbildende Instanz, von der die Hinterlassenschaft der Religion nationale Weihe und Bindung empfangen könnte. Die Lockerung der religiösen Bande bedeutet daher im Galut auch Lockerung all der national potenzierten Formen, die in unserer Religionsverfassung gegeben sind.

Zweitens. Gesetzt, der Verfall der Religion sei nur Abwerfen einer Hülle. Er würde freilich unsere Zukunft nicht in Frage stellen, wäre unser Dasein von normalen Nationalgrenzen bestimmt. Unsere Entwicklung hätte keine Diskontinuität erfahren, die religiösen Formen wären evolutionistisch durch andere Lebensformen abgelöst worden.

Im Galut aber ist das Abstreifen der Religionsformen eine Vernichtung unserer Nationalformen schlechthin. Welche andere Formen gibt es, die den Verlust ersetzen könnten? Es ist ein Riss, eine Unterbrechung unserer geschichtlichen Kontinuität und nicht Verwandlung; der Entformung folgt keine Formgebung, dem Ablegen kein Anlegen. Zugegeben, wir hätten vor uns, mit Achad Haam zu reden, bloß ein Zerbrechen des Gefäßes; aber das exterritoriale Judentum besitzt kein anderes nationales Gefäß, das den ausgeschütteten Inhalt aufnehmen könnte. Wenn getröstet wird: „Nur der Körper ist zerstört, die Seele aber blieb bestehen“, so wird hiermit eben das Todesurteil über das Judentum im Galut ausgesprochen.

Der Körper — es ist die nationale Form, das nationale Konkretum.

Wohl wurde unsere Religion nicht ausschliesslich aus eigenen Kräften gespeist. Es bestand eine Wechselwirkung zwischen der Religion und dem nationalen Selbsterhaltungstrieb. Unbewusst zog die Religion Nahrung aus dem nationalen Selbsterhaltungstrieb, da sie in der Diaspora nationale Aufgaben verrichtete. Viele außerreligiöse Nationalwerte haben sich, in Ermangelung einer anderen nationalen Seinsart, in das Gefüge der Religion eingestellt. So wurden in unserer Religion Kräfte und Säfte aufbewahrt, die nicht ihr Eigentum sind. Dank dieser nationalen Dienstleistung als Behälter hat sie selbst an Lebensfähigkeit gewonnen; sie hat sich gleichsam an den ihr anvertrauten Nationalgütern bereichert.

Daher konnte in Westeuropa eine sonderbare jüdische Orthodoxie aufkommen, die die religiöse Seele längst ausgehaucht hatte und nur noch eine Verzerrung der jüdischen Religion darstellt. Es ist der nationale Selbsterhaltungstrieb, der die religiösen Formen in dieser Erstarrung, die Schale ohne Kern noch erhält; da das Judentum in der Diaspora keine andere Seinsform der Besonderheit besitzt. Das nationale Bewusstsein klammerte sich, wie im ersten Kapitel ausgeführt, an die Tradition und gab ihr damit neue Impulse; indem es in ihr einen Halt fand, verlieh es ihr einen nationalen Gehalt. Eine gegenseitige Hilfeleistung, die vom Volksorganismus in seinem Daseinskampf gefordert und bewirkt wurde. Dieser nationalen Funktion verdankt die verknöcherte Orthodoxie im Westen ihre zwiespältige Existenz. Auch im Osten wird unsere Religion, wenn ihre Seele aus ihr gewichen ist, noch eine Zeitlang ein vom nationalen Selbsterhaltungstrieb genährtes Dasein fristen: er wird ihr in der Stunde der Not beistehen, denn ihre Not ist im Galut auch die seine.

Es will also scheinen, als sei der Selbsterhaltungstrieb das Primäre in der Erhaltung des Judentums. Es scheint so, solange wir jenes Verhältnis der Wechselwirkung in positiver und nicht auch in negativer Richtung beurteilen. Ist nun die Kraft der Religion gebrochen, so müssen schließlich ihre verhärteten Formen abbröckeln und jenes positive Verhältnis der Gegenseitigkeit wird aufgelöst. Der Selbsterhaltungstrieb verliert nunmehr seinen Halt in den religiösen Formen, sie wiederum verlieren hiermit ihren außerreligiösen Gehalt, der sie unbewusst ausfüllte. Es ist die gleiche Wechselbeziehung in negativer Richtung. Der nationale Daseinstrieb wandert alsdann von Surrogat zu Surrogat, irrt Zuflucht suchend in allen Notbehelfen umher, bis er zum Schatten abgezehrt, ermattet und erschlafft verfliegt. Wenn er also noch die hinfällige Religion stützt und weil er ihr Stütze ist, selbst von ihr gestützt wird, so sind es eben die letzten Krämpfe des sterbenden Galut, das Ringen der Agonie. Unsere Religionsverfassung kann nicht mehr lange ohne eigenen Nährboden ihre nationale Funktion im Exil ausüben, der nationale Selbsterhaltungstrieb wiederum kann sie nur für eine kurze Zeitspanne stärken und ihren Zusammenbruch hinausschieben. Sie haben sich in der Diaspora gegenseitig gestützt und müssen in ihr auch miteinander fallen.

Ist nicht unsere Orthodoxie im Westen, die ja unbewusst vom nationalen Selbsterhaltungstrieb noch erhalten wird, bereits auf dem Wege der Assimilation? Ist sie weniger als das liberale Judentum bestrebt, die fremdnationale Kultur in sich aufzunehmen und die Verquickung mit dem fremden Volksorganismus zu ermöglichen?

Jedenfalls genügt der nationale Selbsterhaltungstrieb allein nicht. Es ist eine von ihm selbst in schwerem Daseinskampf erzeugte Illusion, wenn Wortführer des Nationaljudentums sich auf ihn berufen und Zuversicht für die Zukunft des Galut aus ihm schöpfen. Ohne die ursprüngliche Kraft der Religion hätte er es nie vermocht, unser Volkstum in Zerstreuung vor Untergang zu bewahren; er hätte uns die Kraft nicht geben können, als Märtyrer zu leben und zu sterben. Was vermag noch jetzt das nationale Gefühl, das des Inhalts entleert und der Formen bar ist und ohne Zufluss neuer Säfte bleibt? Wie soll es uns vor der Macht der fremden Wirklichkeit, die uns zu verschlingen droht, schützen können?

Will man vielleicht die Hoffnung einer Dauerhaftigkeit des Galutjudentums in das soziologisch wichtige Faktum der jüdischen Lebensfreude setzen?

Erstens, diese Lebensfreude war ein Hochgefühl des beglückenden Glaubens, nicht zuletzt des Glaubens an unsere Auserwähltheit und Unzerstörbarkeit; war zugleich ein Ausfluss der inneren Machtstellung der jüdischen Gesetzesverfassung. Auch hat sie ihren geschichtlichen Grund in der lebensbejahenden Lehre der jüdischen Religion. Sie ist daher mit der Erschütterung dieses Glaubens und dieser Lehre im Abnehmen begriffen: die Geisteserzeugnisse des modernen Judentums sind bereits von pessimistischen Strömungen und Unterströmungen vielfach durchsetzt.

Zweitens, diese Lebensfreude ist zweideutig: sie ist nationaler und individueller Art. Gerade sie setzt uns oft über das Nationale hinweg und verleiht uns eine im Daseinskampf den Einzelnen fördernde Elastizität — zum Schaden des Kollektivs. Unsere lebensbejahende Zielstrebigkeit treibt uns, der fremden Umwelt uns anzupassen und eine starke Position in ihr zu erringen. Die hochpotenzierte Lebensbejahung führt zur Bejahung der fremdnationalen Wirklichkeit. Und der individuelle Lebenswille siegt oft über den nationalen.

Zu den aufgezählten positiven Faktoren, die für die Lebensfähigkeit des jüdischen Volkes bestimmend sind, gesellt sich noch ein negatives Moment, das die Agonie des Galut verlangsamt: nämlich, der Widerstand der Wirtsvölker gegen unsere Auflösung. Zur Assimilation gehören ja zwei Parteien, zwei Willensäußerungen, die übereinstimmen; die Wirtsvölker sträuben sich aber, uns zu assimilieren. Sind wir auch ehrlich bereit, uns von ihnen verspeisen zu lassen, so verschmähen sie meistens dieses Gericht. Sie weisen unsere Annäherungsversuche zurück, stoßen uns von sich, sperren uns in sichtbaren und unsichtbaren Ghettos ab, zwingen uns zur Einigung in Absonderung; kurz, sie nötigen uns, Juden zu bleiben. Es gibt gar viele moderne Juden, die durch Zwang der nichtjüdischen Gesellschaft und des Staates — im Westen ist es vorwiegend die Gesellschaft, im Osten war es auch der Staat — bewusst und unbewusst in unserer Gemeinschaft zurückgehalten oder in sie zurückgeführt wurden. Groß ist die Zahl dieser Not-Juden, der Noch-Juden und der aus äußerer Nötigung Rückkehrenden; Juden, weil ihnen der Austritt und vollends der Eintritt unmöglich oder hindernisvoll oder moralisch unbequem gemacht wird. Man bedenke nur, wie viele Juden gegen ihren Willen in unserer Mitte leben; Juden, die ihr bisschen Judentum als großes Unglück empfinden, als ein Unglück, an dem lediglich der unseren endgültigen Untergang hemmende Judenhass schuld sei; Juden, die in ihrem Wünschen und Sehnen vom Ideal des baldigen Todes unseres Volkstums erfüllt sind und den Messias von einer fortgeschrittenen Menschheit erwarten, welche die Erlösung aus dem Judentum bringen, will sagen dessen Auflösung nicht mehr unterbinden wird.

Neben den Hemmungen, die der Wille zur Assimilation im Gegenwillen der Wirtsvölker findet, ist noch ein inneres Motiv wirksam, das aber in einem äußeren Grunde seine Veranlassung hat: die Verfolgungen, die tausendfältigen Widerwärtigkeiten, die wir seitens der Wirtsvölker immerfort erdulden, schwächen allmählich den Willen zur Assimilation. Es entsteht der Trotzjude.

Groß ist die Zahl der Juden von Gnaden des Antisemitismus. Wie stark also die potenzielle Assimilation, die nur noch von äußerer Gewalt niedergehalten wird.

Eine Folge der Unterdrückungen sind auch unsere Wanderungen, die unsere Sesshaftigkeit in einem Land „und mithin den Assimilationsprozess unterbrechen.

Man darf es mindestens bezweifeln, ob ein jüdisches Volk außerhalb der Grenzen unserer Religionsverfassung, d. h. ein modernes Judentum im Galut noch heute existiert hätte, wenn die Nationen gewillt wären, uns zu absorbieren; wenn sie uns, sagen wir, vor zweihundert Jahren überall Gleichberechtigung gewährt und den Weg zur Assimilation geebnet hätten. Gleichviel, eines steht fest: Die Judenverfolgungen, die Ausnahmegesetze haben die Erhaltung eines modernen Judentums in hohem Masse begünstigt.

Man vergegenwärtige sich, wie groß der Anteil unserer Feinde am Fortbestand des Judentums im Osten ist. Man ermesse den nationalen Dienst, den uns z. B. der Ansiedlungsrayon leistete. Wie mächtig wäre der Strom der Assimilation angeschwollen und verbreitet worden, wenn unsere Unterdrücker diesen Damm ihm aus dem Wege räumen wollten; wenn die Juden die Freizügigkeit erhalten und die Möglichkeit hätten, sich über das ganze Land zu zerstreuen. Wir müssten beinahe unseren Bedrängern dankbar sein, wenn sie die Tore der Assimilation vor uns schlössen und dafür Sorge trugen, dass unsere Volksmassen konzentriert und nicht zerstreut, abgesondert geeint und nicht zerklüftet vermischt werden; dass auch unsere biblischen Namen gewahrt und nicht durch die von manchen qualvoll ersehnte Umsetzung in Iwan, Jefim, Vassilij und dergleichen geschändet werden, dass sogar die Taufe uns nicht allzu leicht werde...

Man untersuche es im Westen, welchen hohen Anteil der Antisemitismus am Fortbestand des Judentums und an all den Regungen und Bewegungen unserer nationalen Wiedergeburt hat. Bezeichnend ist der Ausspruch Luigi Luzzattis: Ich fühle mich nicht als Jude, aber ich bin es, sooft die jüdische Abstammung mir zum Vorwurf gemacht wird und sooft Juden verfolgt werden. Viele der Besten unter uns kehrten aus einem Gefühl des gekränkten Stolzes zu ihrem Volke zurück; viele wiederum aus einem Gefühl des Mitleids mit dem gequälten Stamm. Res Sacra miser. Es fällt einer sittlichen Natur nicht gerade leicht, aus dem Lager der unrechtleidenden in das Lager der unrechttuenden überzutreten. Schließlich ist der Überläufer ja nicht sicher, dass seine Kinder oder Kindeskinder nicht Antisemiten sein und nicht Judenpogrome machen oder mitmachen werden. Die Erfahrung auf diesem Gebiete ist nicht ermutigend. „Abtrünniger du, — dichtete Salomon Ludwig Steinheim — verleugnest die Sitte deines geschlagenen Volkes und trittst, du Tückischer, höhnischen Mundes zum Widersacher: dass deine ruchlosen Kinder, ein fremd Geschlecht, mit Steinen werfen nach deines Vaters Haupt und ihm den grauen Bart zerraufen.“

Wahrlich, unsere Feinde haben viel zur Stärkung des Judentums in der Diaspora beigetragen.

Unsere Freunde, die Liberalen aller Schattierungen, haben diese negativen Momente unserer Lebenszähigkeit längst erkannt und verwerfen die Abschnürungen, die Begrenzungen, die uns vom Landesvolke trennen, unser Anderssein stählen und einen jüdischen Nationalismus hervorrufen. Sie fordern für uns Gleichstellung mit dem Landesvolke, die allein im Stande sei, jede Scheidewand zwischen uns und ihm zu beseitigen und unser Aufgehen in ihm zu ermöglichen. Und die Erfahrung lehrt, dass die Liberalen es besser als die Antisemiten verstanden haben, uns als Volk zu vernichten. Die Emanzipierung von den Sondergesetzen hat sich als Emanzipierung vom Judentum, vom nationalen Sondersein bewährt.

Ich möchte es nicht sagen und darf es nicht verschweigen: ich befürchte, dass die Aufhebung des jüdischen Ansiedlungsrayons im Zentrum des Galut auch die Aufhebung unserer letzten nationalen Konzentration, unseres letzten nationalen Bezirks bedeuten wird. Ich befürchte, dass die Stunde, da wir über diese Lösung der Judenfrage freudig aufjauchzen werden, die Stunde einer neuen Ära für das Wachstum der Assimilation sein würde. So will es unser Schicksal im Exil: was hier uns als Individuen unser Wohl ist, ist uns als Kollektiv gar oft unser Weh.

Können nun diese negativen Faktoren die Erhaltung des Judentums im Galut gewährleisten? Können wir aus ihnen Vertrauen zu unserer Zukunft fassen? Zu einer Existenz also, die vom Bestehen des Antisemitismus, des Widerstandes gegen unsere Verschmelzung, abhängig ist? Solange die jüdische Religion stark war und unsere Absonderung schützte, konnte es den Wirtsvölkern nicht gelingen, uns durch Taufe zur Vermischung zu zwingen und zu vernichten; sind die Scheidewände und Umzäunungen unserer Religion gefallen, so kann es den Wirtsvölkern nicht glücken, uns zur Abgeschlossenheit zu zwingen und gewaltsam zu erhalten. All die Not-, Noch-, Pietäts- und Trotzjuden sind bedingte Juden, und diese Bedingung ist nicht von Dauer.

Die Weigerung der Nationen, uns zu assimilieren, wird mit dem Fortschreiten der Kultur immer schwächer. Mit der Gewährung von Gleichberechtigung wird auch das Hecht auf Assimilation gegeben; nur machen die Gewährenden noch gewisse Vorbehalte und lassen uns nicht dieses Recht voll genießen, wie sie auch mit den anderen uns zugestandenen Rechten verfahren. Aber je fortgeschrittener, desto geneigter werden sie, uns volle Gleichheit der Rechte zuzubilligen — und mit diesen Rechten auch das Recht zur Assimilierung, das vielmehr eine Vorbedingung für die Gleichberechtigung ist und mithin nicht ein Recht, sondern eine Verpflichtung darstellt. Werden wir im Zentrum der Galut-Judenheit, in Russland, die erstrebte Gleichstellung erlangen, so werden wir mit ihr auch dort das Recht auf Asssimilation erhalten; und man darf die Hoffnung in den Kulturfortschritt setzen, dass uns dieses Recht nicht mehr geschmälert werden wird und die Gebenden mit ihrer Gabe nicht mehr geizen werden. Die Empfänger werden sich sicherlich beeilen, von diesem Recht ausgiebigen Gebrauch zu machen. Ist doch dieses Recht eine Verpflichtung.

Im Grunde genommen, sind die Judenverfolgungen und der Widerwille der Nationen gegen unsere Annäherung nur eine Rückwirkung unseres nationalen Bestandes. Die äußeren Ghettomauern sind Reagierungen auf die inneren Scheidewände unserer Andersheit; der gelbe Fleck — auf das Bekenntnis und Treue manifestierende Kennzeichen des Judeseins. Je mehr sich unser nationales Gesicht verwischt, um so freundlicher wird man gegen uns; je mehr wir an unseren nationalen Gütern einbüssen und verarmen, desto geneigter wird man, uns zu assimilieren. Die Judenverfolgungen und der Widerwille der Völker gegen unsere Angliederung sind immer gute Zeichen und fast ein Barometer für die lebendige Kraft des Judentums; sie bezeugen ja, dass unser Organismus als Fremdkörper noch nicht hinreichend zerstört ist, um in seiner Umwelt keinen Widerstand mehr auszulösen. Sie sind Folgen unserer Sonderart; Folgen aber, die auf ihre Ursache eine Rückwirkung ausüben. Mit dem Wegfall der primären Ursache, der inneren Kraft unserer Galut-Existenz, werden auch diese Folgen beseitigt, die zu sekundären Ursachen und zur Stütze ihres Ursprungs geworden sind.

Freilich haben unsere Feinde einen Anteil an der Erhaltung eines modernen Judentums in der Diaspora; groß ist ihr Anteil an der Eindämmung der Assimilationsflut, Freilich werden wir, mit Herzl zu sprechen, von unserem gemeinsamen Feind als Nation zusammengehalten. Man darf jedoch die reaktive Ursache nicht mit der effektiven verwechseln. Woher stammt diese Feindschaft, die uns zusammenhält? Sie ist ja nur eine Begleiterscheinung unseres völkischen Zusammenhalts. Der gemeinsame Feind ist Beweis und nicht Grund für unsere nationale Gemeinsamkeit; ist deren Folge, die auf ihre Ursachen zurückwirkt und unser Gemeinschaftsgefühl steigert. Sobald aber die innere Bindung und Einheit unseres Sonderlebens locker werden, wird in gleichem Masse der nationalen Feindschaft der Boden entzogen — und der äußere, verinnerlichend rückwirkende Zusammenhalt durch den gemeinsamen Feind ist selbst haltlos.

Nun ist es die Religionsverfassung, in der die Exil-Judenheit ihre Bindung und Einheit hat. Und unsere Religionsverfassung geht in die Brüche.

Wir müssen noch einen Faktor berücksichtigen, der den Zersetzungsprozess des modernen Judentums zuweilen verlangsamt. Unsere intellektuelle und sittliche Überlegenheit gegenüber dem Kulturniveau des Wirtsvolkes war und ist noch in manchen Ländern ein Hindernis für unsere Assimilierung, Diese Hemmung ist in der Natur des Menschen begründet, die die Tendenz des Aufstiegs und nicht des Abstiegs hat.

Aber gerade diese Erwägung lehrt uns, wie entscheidend die Naturkraft der Assimilation ist, dass sie auch dieses natürliche Hindernis überwindet. Die jüdische Assimilation in Russland beweist es zur Genüge. Wie viele Stufen muss der Jude kulturell hinabsteigen, um sich dem russischen Volke zu assimilieren. Und dennoch, er tut es; er steigt ziemlich rasch hinab und assimiliert sich. Schon hat der verhältnismäßig noch sehr junge Assimilationsprozess in diesem kulturarmen Lande es fertiggebracht, das sittliche Kulturniveau eines ansehnlichen Teiles unseres Volkes tief herabzudrücken und eine Generation großzuziehen, die an Entartung unseren Assimilationstypus in allen anderen Ländern übertrifft und als Ausgeburt nationaler Verkommenheit eine ethisch und ästhetisch geradezu erschreckende Missgestalt darstellt.

Auch abgesehen von der Naturkraft der Assimilation, die von dem gleichfalls natürlichen Hindernis der Differenz der Kulturstufen nur aufgehalten und nicht aufgehoben werden kann, ist ja dieses Hindernis an und für sich am Verschwinden, insofern die Wirtsvölker in kulturellem Aufstieg und unsere sittliche Kultur mit dem Zusammenbruch unserer Religionsverfassung im Rückgang begriffen ist.

Wir gelangen nun zur Schlussfolgerung:

Das Geheimnis des zweitausendjährigen Bestehens einer exterritorialen jüdischen Wirklichkeit ist das Geheimnis der jüdischen Religion. Unsere zähflüssige Gesetzesverfassung in ihrer Formenfülle und ihren Umzäunungen hat uns auch außerhalb der normalen Nationalgrenzen in Absonderung erhalten und in der Zerstreuung als Einheit gebunden: als Volk im Volke, als Staat im Staate. Sobald diese sondernde und einende Kraft versiegt, verlieren wir unser exilaristisches Staatswesen, unsere Enklave, unser Heim auf fremder Scholle und damit jeden nationalen Halt im Völkergetriebe. Die Zerstörung unserer Religionsverfassung ist die Zerstörung unseres dritten Hauses, unseres Hauses im Galut. Der zurückbleibende, von Gesetzesschwere befreite und ins Allmenschliche verfliegende Geist des Judentums ist nicht mehr national gemeinschaftsbildend; er flattert in fremden Gebilden umher und wirkt nur noch als Gespenst.

Noch schleppen wir mühsam unsere sonderliche Existenz im Galut, aber mit welchen Kräften? Kraft der letzten Reserven unserer Religion im Ostjudentum, das für die Gesamtjudenheit der Neuzeit gleichsam das nationale Rückgrat bildet, und kraft des Beharrungsvermögens als Trägheit. Diese positiven Faktoren werden von negativen Momenten unterstützt, die jedoch nur Annexe und Begleiterscheinungen des Noch-Positiven, Noch-Treibenden sind und auch mit ihm verschwinden.

Ist es nicht der Anblick des Verfalls, den uns die von den jüdischen Religionsgesetzen und den nichtjüdischen Ausnahmegesetzen emanzipierte Judenheit bietet? Was ist noch heute das moderne Judentum? Ein Zerrbild, ein Flickwerk, eine Farce. Bestenfalls ist es ein schmerzvolles Nachzittern des Gewesenen, wenn nicht bloß ein starres Symbol des Einst, ein Judentum der Pietät, ein Friedhofsjudentum; oder es ist die Manifestierung eines Wollens, die Vorwegnahme einer Zukunft, wenn nicht bloß ein tatenloses Sehnen und Wünschen. Was aber bedeutet noch der Istbestand des modernen Judentums als Volksvermögen, als Kapital nationaler Kräfte bewertet? Darf die dünne jüdische Übertünchung einer fremdnationalen tiefen Kulturschicht als Judesein bezeichnet werden? Ist es nicht vielmehr ein Unrecht, dass sie, Reliquie oder Zutat, den Namen: Judentum führt? Ist nicht der seines Inhalts entleerte Name eine Entweihung und eine Schmähung des Judentums?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Probleme des modernen Judentums