Haben Eure Hoheit noch Befehle?

„Nein, danke. Sie können gehen, Erna.“ Die Kammerjungfer entfernte sich knixend, und Prinzessin Christine war allein in dem hellerleuchteten Toilettenzimmer. Sie nahm die weißen Rosen, welche von der Garnitur ihres Kleides übrig geblieben waren, und setzte sie in ein Glas, denn Prinzessin Christine konnte Blumen nicht welken sehen. Dann trat sie noch einmal vor den hohen Kristallspiegel. Es war ein scheuer, beinahe ängstlicher Blick, den sie hinein sandte, und gleich darauf wandte sie sich hastig ab. Es lohnte sich auch wahrhaftig nicht, lange hinein zu blicken. Eine kaum mittelgroße, schmächtige Gestalt, ein blasses, müdes Gesichtchen mit unregelmäßigen, nervösen Zügen, das war alles, was sie sah. Dazu ein schlichtes, weißes Kleid und an der Brust einige große, weiße Rosen, die genau so blass und müde den Kopf hängen ließen, wie die junge Prinzessin. Die Kammerjungfer hatte ihr durchaus noch einige dunkle Granaten ins Haar stecken wollen, aber Prinzessin Christine besaß eine Abneigung gegen lebhafte Farben, da war nichts zu machen gewesen.

Unten am Portal des Schlosses fuhren die ersten Wagen vor. Die kleine Prinzessin hatte sich einen Stuhl ans Fenster gezogen und presste den Kopf gegen die kühlen Scheiben. Wie wunderschön war es doch, hier allein zu sein! Sie hatte das so selten. Horch! Wieder ein Wagen! Neugierig blickte die Prinzessin hinunter. So also sah man ans, wenn man als junges Mädchen zum Ball fuhr! In große Abendmäntel gehüllt, stiegen eben zwei junge Damen in Begleitung einer älteren aus dem Wagen. Im Schein der hellen Lichter vor der Einfahrt des Schlosses konnte Prinzessin Christine ihre Gesichter deutlich erkennen. Die eine sah strahlend aus in froher Erwartung, die andere ein wenig aufgeregt, beinahe ängstlich.


Eben kamen von der anderen Seite mehrere junge Offiziere. Einer von ihnen sprach die Ängstliche an, wahrscheinlich benutzte er das Zusammentreffen, sie gleich um einen Tanz zu bitten. Sie nickte und lächelte - jetzt sah sie nicht mehr ängstlich ans. Es mußte doch ein eigener Reiz darinnen liegen, zum Tanze aufgefordert zu werden. Prinzessin Christine seufzte. Sie durfte ja nur befehlen - ach, immer nur befehlen!

Wie heiß es hier im Zimmer war! Die Prinzessin stieß das Fenster auf, ein hohes Fenster mit weiß- und goldgeränderter Fassung. Milde, müde Herbstluft strömte herein. Die alten Kastanien, welche den öden, dankten Schlossplatz umsäumten, standen schwarz und schwer rauschend da. Es lag ein Duft von welken, modernden Blättern in der Luft. Von den Kaskaden gegenüber dem Schlosse rauschte und plätscherte es, und weiterhin schimmerten die Dächer der lächerlich niedrigen Häuser des Städtchens. Der Mond ging eben auf und warf einen feenhaften Silberglanz über das Bild der kleinen Sommerresidenz. Herrenburg! Wie sehr Prinzessin Christine das kleine Städtchen liebte und das große, stille, altmodische Schloss, in dem die herzogliche Familie jedes Jahr einige Wochen zubrachte. Herrenburg! Prinzessin Christine betrachtete es als ihre Heimat. Alle Erinnerungen, die sie liebte, knüpften sich an dieses Fleckchen Erde. Hier hatte sie die sonnigen Tage ihrer Kindheit verlebt, der goldenen, unbewussten, gedankenlosen Kindheit. Hier hatte sie auch ihre über alles geliebte Mutter zum letztenmal gesehen. -

Es mochte so um diese Zeit des Jahres gewesen sein. Die kranke Herzogin lehnte müde in ihrem Rollstuhl, den man auf die Terrasse des Schlosses gefahren hatte, wo die Herbstsonne mittags noch einige warme Strahlen hinsandte. Neben ihr, aus einem Buche vorlesend, saß der Kammerherr von Ramberg, den die Herzogin besonders gerne um sich sah. Leuchtend und herrlich in ihren goldenen und purpurroten Gewändern standen die Bäume des Schlossgartens da, und doch müde - ach so müde! Die junge Prinzessin kam mit ihrer Erzieherin von einem Spaziergang zurück. Sie flog auf die Mutter zu und legte einen prächtigen Strauß bunter Herbstblätter aus den Schoß der Kranken.

„Ach, Mama,“ rief das Kind, ,,wie herrlich ist es, eine Prinzessin zu sein! Die bunten Blätter sind alle aus den Anlagen, und niemand darf dort etwas abpflücken, nur ich darf es, der Aufseher hat es selbst gesagt, denn ich bin ja eine Prinzessin! und alle Leute nehmen vor mir den Hut ab, und die kleinen Mädchen knixen! Ach Mama, ich möchte nichts anderes sein, als eine Prinzessin!“

Die blasse Herzogin strich dem Tochterchen das Haar aus der heißen Stirn. „Mein kleines Mädchen, man soll aber als Prinzessin nicht mehr verlangen wie die anderen Menschen. Meinst du nicht, daß die fremden Kinder traurig werden konnten, wenn sie dich Blumen pflücken sehen, die ihnen verboten sind?“

Die kleine Prinzessin blickte bestürzt aus. „O Mama, glaubst du das wirklich? Darin darf ich vielleicht auch nicht leiden, daß sie mich grüßen? Und dann ist es ja gar nicht mehr schön, eine Prinzessin zu sein!“

Schön, eine Prinzessin zu sein! Die kranke Herzogin lächelte so eigen hinüber zu dem Kammerherrn. Er sah sehr traurig aus.

„Glückliche, schöne Jugend!“ sagte Herr von Ramberg und nickte der kleinen Prinzessin freundlich zu. Prinzessin Christine liebte ihn sehr, er besaß so eine gewinnende Art auf die kleine Welt des Kindes einzugehen.

„Christelchen,“ begann die Herzogin nach einer Weile - niemand hatte die Prinzessin seitdem wieder so genannt. - ,,Christelchen, du sollst dich ein wenig zu mir setzen. Morgen reist du zu deinem Vater in die Hauptstadt zurück und musst fleißig lernen. Wir werden uns dann lange nicht sehen, da habe ich dir noch manches zu sagen.“ Ihre Stimme bebte eigen.

„Mama, warum kommst du nicht mit?“

„Du weißt ja, Christelchen, daß ich krank bin. Ich kann die Luft und das Geräusch der großen Stadt nicht gut vertragen.“

„Wirst du hier gesund werden, Mama?“

„Vielleicht -“

Warum blickte nur Herr von Ramberg so ernst zu Boden? Warum hatte er kein einziges Scherzwort für sie, wie sonst?

„Meine kleine Christel,“ sagte die Herzogin und nahm die schmale Kinderhand in die ihre, „du fragtest mich vorhin, ob du leiden dürftest, daß dich die Leute grüßen. Es ist sehr schön, wenn sie es tun, aber du musst ihnen auch dankbar dafür sein. Sieh einmal, uns Fürsten hat der liebe Gott auf einen sehr hohen Platz gestellt, dafür verlangt er aber auch etwas sehr Hohes von uns. Er verlangt, daß wir all die vielen Menschen, die zu uns aufsehen, glücklich machen, soweit wir es können. Ich möchte so gerne, Christelchen, daß du dir dies für dein ganzes Leben merktest. Willst du mir versprechen, daß du daran denken wirst?“

„Ja, Mama! Ich will es versuchen...

„Christelchen,“ fuhr die Herzogin fort, ,,ich glaube, ich werde künftig nicht viel bei dir sein können. Du weißt ja, ich bin sehr, sehr krank. Du wirst vielleicht später einmal jemand nötig haben, dem du ganz vertrauen kannst, vielleicht auch jemand, der dich manchmal an das erinnert, was ich dir eben sagte. Der Papa hat so viel zu tun, der muss sein Land regieren, dem darfst du damit nicht kommen. Aber wenn du einmal etwas fragen möchtest, irgend etwas Großes, Wichtiges, so kannst du zu Herrn von Ramberg gehen, er weiß altes, was ich denke, Christelchen, und er wird dich lieb haben, wie er mir immer ein treuer Freund gewesen ist. Wirst du daran denken, Christel?“

Und wieder sagte die kleine Prinzessin ernsthaft und gewissenhaft. ,,Ja, Mama! Ich will es versuchen.“

Darin schwiegen sie beide. Es lag so etwas eigentümlich Wehes in der Luft, und es war so still hier auf der Terrasse vor dem großen, altmodischen Schloss. Einige Astern blühten noch auf den Beeten zwischen den steinernen Figuren und Rokokovasen, welche die Rasenplätze schmückten. Dann fiel ein gelbes Blatt von einem Baum, langsam, schwebend, lautlos. Es fiel auf die schlanke Hand der Herzogin.

Der kleinen Prinzessin wurde plötzlich so bange zu Mute. Es war etwas Fremdes hier um die Mutter und um das alte Schloss.

„Befehlen Hoheit, daß ich den Lakai rufe, daß er den Stuhl hinein schiebt?“ fragte Herr von Ramberg. ,,Ich fürchte, es wird kühl.“

Statt einer Antwort nahm die Herzogin die Hand des Kammerherrn und legte diejenige der kleinen Prinzessin hinein.

,,Mein lieber Freund,“ sprach sie, „ich habe eben meiner kleinen Christel gesagt, daß Sie, sie lieb haben werden.“

Da zog der ernste Mann die Hand der Herzogin stumm an die Lippen, und es war der kleinen Prinzessin, als ob in seinen Augen etwas Feuchtes schimmerte. -

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Am nächsten Tage reiste Prinzessin Christine mit ihrer Erzieherin in die Hauptstadt ab. Sie sollte ihre Mutter nicht wiedersehen. Wenige Wochen darauf verschied die Herzogin in Herrenburg.

Seitdem waren zehn Jahre vergangen. Prinzessin Christine mußte lächeln, wenn sie an ihre kindliche Freude dachte, die sie damals im Bewusstsein ihrer Prinzessinnenwürde empfunden hatte. O, heute verstand sie den traurigen Blick der Mutter!

Auch ihr junges Leben war schon angehaucht worden von der eisigen Höhenluft, welche die Hochgebirge wie die Höhen der Gesellschaft umweht. Es gibt Naturen, zarte, weiche, die diese Luft nicht vertragen. -


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Prinzessin Christelchen