Exzellenz, ich begreife Sie nicht.

„Exzellenz, ich begreife Sie nicht.“ sagte die Staatsdame Gräfin Diebitz zu dem Hofmarschall von Seben. „Ich begreife Sie nicht! Konnten Sie bei Ihrem anerkannten Einfluss nicht eine so wenig erwünschte Wahl, wie die der kleinen Hatzfeld, hintertreiben?“

„Verehrte Gräfin -“ Der kleine Hofmarschall wand sich vor Artigkeit. „Mein Einfluss konnte unmöglich mehr in Betracht kommen, nachdem sich der Ihre als unzureichend erwiesen.“


Die resolute Dame zuckte die Achseln. „Sie haben eben nie vermocht, sich selbst etwas zuzutrauen, Exzellenz.“ Damit rauschte sie hinaus.

Der kleine Hofmarschall blickte ihr nach, und ein zufriedenes und merkwürdigerweise ganz natürliches Lächeln glitt über sein Gesicht. Er gedachte seiner Jugendzeit, da er für die Gräfin Diebitz geschwärmt hatte. Man war damals allgemein auf eine Verlobung vorbereitet gewesen, und daß dieselbe ausblieb, hatte die Gräfin ihrem einstigen Verehrer nie ganz verziehen, obwohl sie fest davon überzeugt war, daß den kleinen Herrn nichts anderes von dem entscheidenden Schritt abgehalten hatte, als sein mangelndes Selbstvertrauen. Ja freilich, er hatte sich nicht getraut, die große, energische Dame heimzuführen - aber er hatte es auch nie bereut.

In diesem speziellen Fall genügte es dem kleinen Hofmarschall vollkommen, daß die neue Hofdame den allerhöchsten Beifall fand. Der Herzog hatte alle Einwendnngen, die von verschiedener Seite erhoben wurden, kurzweg mit der Bemerkung abgeschnitten. „Die Hofdame soll um meine Tochter sein, folglich hat die Sympathie der Prinzessin den Ausschlag zu geben. Übrigens ist gegen das Mädchen nichts einzuwenden.“ -

So war also Fräulein von Hatzfeld im Schloß eingezogen und mit ihr eine Fülle unangenehmer Aufregungen für die Gräfin Diebitz. Es war nicht zu leugnen. Das junge Mädchen war seiner Stellung nicht gewachsen. Es fehlte ihr jede Umsicht, jedes Selbstvertrauen, jede Gewandtheit. Prinzessin Christine bemerkte es nicht. Die kleine Hofdame hing mit hingebender Liebe an ihr. Seit jenem Hofball, wo sich die Prinzessin ihrer so gütig angenommen hatte, lebte eine große Dankbarkeit in dem Herzen des vereinsamten, übersehenen Mädchens. Sie schloß der Prinzessin ihr ganzes Wesen auf, und diese hörte mit tiefem Mitgefühl von dem bisherigen Leben ihrer Schutzbefohlenen. Es waren trübe Dinge, die da zutage kamen. Der Vater war eine despotische, kalte Natur, die Mutter jahrelang nervenleidend, zerbrochen an Geist und Körper. So war das junge Mädchen aufgewachsen zwischen der Furcht vor dem Vater und der Sorge um die Mutter, bis man die letztere eines Tages von ihr nahm und die unglückliche Frau in eine Anstalt brachte. Da blieb nur noch die Furcht. Ina Hatzfeld stand ganz allein neben dem herrischen Vater, der die erwachsene Tochter als eine Last betrachtete und nur ungeduldig die Zeit erwartete, von ihr durch irgend eine Heirat frei zu werden.

Das alles gab Prinzessin Christine viel zu denken. Also dort bei den anderen, da gab es auch Einsamkeit und Kalte wie hier oben bei ihr. In einer Art war es ein Trost, dann aber wieder sank das Gefühl von dem Elend des Daseins doppelt schwer auf sie. Ihr war zu Mute, als trüge sie von nun an nicht nur die eigene Last, sondern ein Stückchen von dem Leid der ganzen Menschheit.

Aber auch in anderen Dingen übte die kleine Hofdame einen entscheidenden Einfluss auf ihre junge Herrin aus. Ina Hatzfeld besaß in dem städtischen Krankenhaus Herrenburgs eine Verwandte, die einen Johanniterkursus durchmachte. Die kleine Hofdame hatte ihr Weg infolgedessen häufig in die Anstalt geführt, und nach und nach war sie dort gewissermaßen heimisch geworden. Die Kranken kannten sie und begrüßten das Erscheinen des jungen, freundlichen Mädchens immer voll Dankbarkeit. Auch die Schwestern sahen ihr Kommen gern; sie waren ja so beschäftigt, dass sie sich, außer der nötigen Pflege, nicht viel mit den Kranken abgeben konnten, und sich freuten, wenn sich ein liebes Wesen fand, das den Armen die Zeit ein wenig verkürzte.

Die Prinzessin lauschte aufmerksam. Die kleine Ina Hatzfeld konnte prächtig erzählen, wenn sie einmal warm wurde. Man sah ordentlich die großen, hellen Säle des Hospitals vor sich, sah die blassen Gesichter der Kranken, die beim Eintritt des Besuchs lächelten und einen Augenblick ihre Leiden vergaßen.

„Könnte ich sie doch auch einmal besuchen!“ sagte die Prinzessin, die sich seit jenem Ballabend häufig mit den letzten Worten ihrer Mutter beschäftigte.

„Ach Hoheit, das wäre zu schön! Das wäre eine Freude für die Kranken! Ich habe ihnen ja so viel von Euer Hoheit erzählt!“

Der Gedanke wurde weiter gesponnen und endlich der Gräfin Diebitz unterbreitet. Diese war mit der Oberin der Anstalt persönlich befreundet und fand die Idee überaus glücklich. Das Krankenhaus war seinerzeit unter Protektion des Hofes gegründet worden, und die verstorbene Herzogin hatte sich sehr dafür interessiert. Die Gräfin fand, daß eine gewisse Teilnahme an wohltätigen Bestrebungen zur guten Erziehung einer fürstlichen Dame gehöre, sie hatte es stets gemissbilligt, daß die Erbprinzessin sehr wenig Neigung für dergleichen zeigte. Um so freudiger begrüßte sie diese Regung bei der jungen Prinzeß. Es wurde ein Tag festgesetzt, an dem sie mit den beiden Damen ihrer Begleitung nach der Anstalt fuhr. In der Tür des Hauses kam ihnen die Oberin entgegen, eine Baronesse Schliefenstein aus Klein-Bukow. Sie war eine große, energische Frau, mit freundlichen Augen und einem Gesicht, in dem die Merkmale echter Herzensgüte so deutlich standen, daß sie die Liebe ihrer Kranken fast immer im Sturme eroberte. Sie begrüßte die kleine Prinzessin mit schlichter Freundlichkeit und machte einen Versuch, ihr die Hand zu küssen, was diese aber nicht duldete. Darin begleitete die Oberin ihren hohen Gast durch die verschiedenen Säle. Überall auf den Stationen standen die Schwestern in frischen, weißen Schürzen und Hauben und knixten ehrfurchtsvoll-neugierig. Die Kranken lagen mit erwartungsvollen Gesichtern in ihren Betten. Die Oberin nannte diesen und jenen bei Namen und erzählte der Prinzessin von ihren Leiden. Dann trat einen Augenblick Schweigen ein, während dessen Prinzessin Christine das Gefühl hatte, daß man ihr Gelegenheit geben wolle, einige Worte mit den Kranken zu wechseln. Sie hätte es so gern getan, sie empfand ein so tiefes Mitleid mit den armen, blassen Menschen, deren Gesichter so deutlich die Spuren schweren Leidens trugen. Aber neben ihr standen die imponierenden Gestalten der Oberin und der Gräfin Diebitz und an der Tür die erwartungsvollen Schwestern. Sie fürchtete sich förmlich vor dem Klang ihrer eigenen Stimme. Ja, wenn man hier allein sein könnte, wie Ina Hatzfeld!

„Wollen Hoheit nicht die Blumen verteilen?“ fragte die Gräfin Diebitz, der Prinzessin den Riesenstrauß prachtvoller Rosen reichend, den man zu diesem Zweck mitgenommen hatte.

„O danke, danke, gnädigste Prinzessin,“ murmelten die Kranken, als Prinzeß Christine die Blumen mit schüchterner Hand auf die Betten legte.

Ein junges Mädchen erfaßte ihre Hand und küßte sie.

„Das hier ist unsere kleine Tränenweide, Hoheit,“ sagte die Oberin scherzend. „Wir haben nämlich immer so schrecklich viel Heimweh.“

In die Augen der Kranken waren Tränen getreten. „Mutter braucht mich so nötig,“ stammelte sie. ,,Die kleinen Geschwister - wer wird ihr helfen, wenn ich krank bin?“

„Nun, nun, nicht weinen,“ meinte die Oberin begütigend und strich teilnahmsvoll über das Haar der jungen Kranken, „der liebe Gott wird’s schon recht machen. Nur Geduld!“

Ans dem Ton ihrer Stimme hörte Prinzessin Christirre, daß sie keine Hoffnung für das Mädchen hatte. Sie blickte mitleidig auf das junge Wesen, es sah gar nicht einmal sehr trank aus, nur die Augen hatten einen zu starken Glanz.

„Kann man nichts für sie tun?? fragte sie draußen die Oberin.
Diese zuckte die Achseln. „An und für sich ist der Zustand nicht hoffnungslos, Hoheit. Sie müßte nur in andere Luft, in den Süden. Ader daran ist ja nicht zu denken! Wir verpflegen sie umsonst, und ich fürchte, sie wird hier kaum den Winter überleben.“

„Ich will alles bezahlen,“ sagte Prinzessin Christine hastig. „Ich bin ja so glücklich, wenn ich auch etwas helfen kann!“ Sie hätte gern hinzugefügt. „Ich vermag ja sonst nichts zu tun, nicht einmal ein freundliches Wort zu sagen! Lassen Sie mich doch nur einmal allein! Aber sie fürchtete sich vor den kühlen Augen der Gräfin Diebitz.

„Nun müssen Hoheit noch unseren Garten ansehen,“ sagte die Oberin, als man die Treppen hinabstieg. Es war ein echter Anstaltsgarten, langweilig und praktisch und doch von jener eigentümlichen Poesie überhaucht, die der Gedanke an Genesung allen solchen Gärten gibt. Gemüsebeete waren seitwärts angelegt, Obstbäume über das Ganze verstreut, nur längs der Buchsbaumeinfassung einige schmale Rabatten mit Herbstblumen. Hie und da stand eine Bank zum Ausruhen für Genesende. Einige Kinder, blasse Geschöpfchen, spielten umher, zum Teil trugen sie Krücken. Als sie der Damen ansichtig wurden, liefert sie, so schnell es ihre armen, kranken Gliederchen erlaubten, einer Bank zu mit dem Ruf: „Onkel Leutnant, die Prinzessin kommt!“

Von der Bank, welche unter einer breitarmigen, leuchtend gelben Kastanie stand, erhob sich die Gestalt eines Offiziers in Litewka. Er trug den rechten Arm in der Binde.

„Herr von Ramberg - Sie hier?“ fragte die Prinzessin erschrocken.

„Einer Kleinigkeit halber, Euer Hoheit! Ein Armbruch bei der Jagd. - Mein Bursche ist so entsetzlich ungeschickt, daß ich mich seiner Pflege nicht anvertrauen konnte.“

„Es ist also wirklich nicht schlimm?“ fragte sie, noch immer nicht ganz beruhigt.
„Ich werde schon übermorgen hier entlassen, Eure Hoheit. Übrigens habe ich nur die Sache recht zur Unzeit eingerichtet. In wenigen Tagen kommen mein Vater und meine Schwester zurück.“

„Wie schade! Sie hätten diese Tage viel angenehmer zu Hause verlebt!“

„Nicht wahr? Aber meine Schwester wird ganz froh sein. Ursel sind Kranke ein Greuel, ebenso wie Kinder.“

Vor dem Auge der Prirrzessin stand im Geiste die Gestalt ihrer einstigen Gespielin, der Schwester Detlef Rambergs. Sie war um eine ganze Reihe Jahre älter als Prinzessin Christine, und man hatte sich nie sehr nahe gestanden.

,,Wissen Sie noch, Herr von Ramberg, wie Ursel als Kind immer saß und las, wenn wir spielen wollten? Liest sie noch so gern?“

„Jetzt schreibt sie lieber selbst, Hoheit.“

„Schreibt? Was denn?“

„Bücher - Romane. Wirklich vieles sehr hübsch.“

„Dann ist sie ja eine Künstlerin geworden!“

„Eine Künstlerin - ich weiß nicht, ob sie es ist, Hoheit, aber ich wünsche ihr, daß sie es einst sein wird. Es wäre das einzige Glück, das für Ursel möglich ist.“

„Inwiefern?“

„Ursel wird nie heiraten, Hoheit, aber sie ist ein warmer, starker Charakter, sie muß etwas haben, für das sie leben kann, sonst fühlt sie sich elend.“

Sie standen unter der großen Kastanie beisammen. Die Oberin und die Gräfin wechselten etwas abseits einige Worte mit einer älteren Schwester. Die kleine Hatzfeld suchte abgefallene Kastanien für die kranken Kinder.
„Warum meinen Sie, das, Ihre Schwester nicht heiraten wird?“ fragte Prinzessin Christine.

Die schönen, offenen Augen des Offiziers senkten sich, ein Ausdruck herber Verschlossenheit legte sich über sein Gesicht. „Ich hätte das nicht fragen sollen,“ sagte sie verwirrt.

„Verzeihung, Eure Hoheit; aber ich hätte diese Frage nicht herausfordern sollen. Da es aber einmal geschah, beantworte ich sie Eurer Hoheit lieber als anderen. Meine Schwester hat eine große Liebe hinter sich. Er war ein glänzender, reichbegabter Mensch und hat sie sehr geliebt, aber er hatte nicht die Energie, sie zu erkämpfen. Es gab da schwere Hindernisse. Ursel hat ihnen weichen müssen und darüber ihre Jugend eingebüßt. Man sagt uns Rambergs nach, daß wir nur einmal lieben.“

„Das ist sehr traurig! Aber das andere gefällt mir, das, was Sie von Ihrer Familie sagten. Glauben Sie es von sich auch?“

Sonderbare Frage! Sie hatte etwas eigentümlich Verwirrendes, Betörendes.

„Ja,“ sagte er leise.

„Ich glaube,“ fuhr sie fort, „es würde mir auch so gehen, das heißt, ich weiß es ja nicht, aber ich denke, alles ganz Große ist einzig in seiner Art: die Heimat, der Himmel, der liebe Gott. -“

Er fühlte plötzlich, wie ihm das Blut heiß in Stirn und Wangen stieg. Es war ihm, als träte etwas Wunderbares, Wunderschönes und zugleich Erschreckendes ganz nahe an ihn heran. Man konnte es nicht sehen, und es war doch bestimmt da. Ob sie es wohl auch empfand? Sie sprach noch immer leise und stockend. Es klang fast, als arbeiteten die Gedanken erst, während sie spräche, ihre kindliche Philosophie aus. Er verstand nichts davon, er vernahm nur den Klang ihrer Stimme, die, wenn sie unbefangen war, etwas Weiches, Einschmeichelndes besaß. Sie blickte, während sie sprach, von ihm fort, hinaus in den milden, verschleierten Herbstsonnenschein, der über den schon halb geleerten Gemüsebeeten lag. Der Geruch abgefallener Kastanienblätter erfüllte die Luft.

,,Ich glaube, wir müssen weitergehen,“ unterbrach sich Prinzessin Christine.
Sie hatte einen Blick der Gräfin Diebitz aufgesaugt, welche bereits unruhig geworden war. Als sie ihm die Hand hinstreckte, fiel ihr Blick wieder auf die Binde, in der er den rechten Arm trug. „Geben Sie mir die Linke,“ sagte sie lächelnd, „die kommt von Herzen.“

Ihm fiel kein einziges Wort ein. Er zog ihre schmale Kinderhand stumm an die Lippen, und dabei durchschauerte es ihn eigentümlich - Die Linke kommt von Herzen. -


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Prinzessin Christelchen