Preußens Fall

Bald nachher wurde die Stadt der Schauplatz eines fortgesetzten Heereszuges. Regimenter zu Fuß und zu Pferde, Batterien, Fuhrkolonnen, Feldbäckereien, Pontons (die uns ganz besonders auffielen) marschierten und fuhren wochenlang zum Brücktore herein, zum Sudenburger Tore hinaus.
Eine Kriegsschar in Bewegung hatte damals anderes Beiwerk als jetzt. Der Troß in seiner Sonderbarkeit prägte sich der kindlichen Vorstellung tief ein. Schon die Packpferde waren uns merkwürdig, welche den Regimentern die Zelte nachtrugen. Ein weitläufiges Geschnür von Leinwand und Stricken auf dem Rücken eines solchen Tieres und darüber hinaus die langen Zeltstangen balancierend! Pferd mußte hinter Pferd gehen, weil sich sonst die Stangen gestoßen hätten; man kann also denken, wie lang die Koppel wurde. Noch wunderlicher aber kamen uns die rotangestrichenen Küchenwagen der Generale und Obersten vor. Diese Wagen hatten nämlich zu beiden Seiten lange Gatter mit vorgehängten Freßtrögen, und hinter den Stäben strobelte sich und gackerte das Federvieh: Hühner, Kapaunen, Truthennen, welches die Befehlshaber zur Sicherung ihrer Tafelfreuden mit in den Krieg nahmen. Eine solche Fürsorge kam selbst uns Kindern befremdlich vor, und ich erinnere mich, daß einmal einer meiner Spielkameraden bei dem Anblicke solcher beweglichen Hühnerhöfe ganz naiv fragte: ob es denn unterwegs in den Dörfern keine Hühner gäbe? Herrlich nahmen sich unter dieser schwerfälligen Feldökonomie die leichten bunten Bosniaken und Towarizys *) aus.
Tante Rustan war, sobald die verhängnisvollen Züge begonnen hatten, noch quecksilbriger geworden und hatte die deutsche Mundart in ihren Reden immer spärlicher hören lassen. Sie gab uns sogar eines Tages mit Energie den Rat, uns nur fleißig auf das Französischlernen zu verlegen, welchen wir jedoch mit entschiedener Verachtung zurückwiesen. Am Siege wurde nicht gezweifelt. Es war eine seltsame Schlußfolgerung aufgekommen, welche ihn logisch darweisen sollte. Napoleon wurde nämlich mit Alexander von Mazedonien verglichen, hinzugesetzt aber wurde, Alexander habe auch nur über Perser seine Siege erfochten; da nun die Preußen keine Perser seien, so habe es mit ihm nicht viel zu sagen.
Die Armee war in Thüringen, und durch unsere niedersächsische Ebene breitete sich nun im September und in der eisten Hälfte des Oktobers die tiefe Stille aus, welche großen Dingen vorherzugehen pflegt. Diese erschienen dann vorgebildet in der tragendsten Fata Morgana. Nämlich so: Am 14. Oktober 1806 war die Familie auf dem Neustädter Markte in einem verwandten Hause. Es war Herkommens, daß dieser Jahrmarktstag dort mit einem großen Essen gefeiert wurde; alle Freunde und nähere Bekannte nahmen daran teil, und zuweilen drängten sich gegen fünfzig Personen in der kleinen Predigerwohnung zusammen. Für die Kinder war der Tag eine andere Weihnacht und monatelang vorher Gegenstand der ausgelassensten Erwartung, denn alle Strenge der Disziplin hörte dann auf und die wildesten Spiele durften ohne Scheu vor Nachahndung in Hof und Hausflur getrieben werden. Es gehörte zu der Eigenart meines Vaters, daß, so stramm er sonst die Zügel festester Ordnung hielt, er solchen Saturnalien**) alles nachzusehen wußte. Am Abend jenes Tages tollte denn also auch wieder ein großes Rudel von Knaben und Mädchen mit Haschen und Kämmerchen-Vermieten durch den Flur, als trotz des ungeheuren Lärmens ein Geschrei vom oberen Teile des Hauses sich hörbar machte. Ein Teil der Spielgenossen wurde dadurch nicht beirrt, mehrere aber ergriff doch die Neugier, sie liefen die Treppe hinauf, und unter diesen befand ich mich auch.
Oben hatten wir folgenden Anblick: die Stube war gedrängt voll von Basen, Vettern, Öhmen, Muhmen, Freunden und Zugehörigen. In dem kleinen offenen Raume in der Mitte befand sich ein Mensch, der verrückt zu sein schien. Er sprang in kurzen Sätzen empor, hielt sich den Kopf mit beiden Händen, kreischte, jauchzte, umarmte jetzt diesen und dann den. Man drang in ihn, er solle denn endlich sagen, was er wolle; und da gab er in abgebrochener, keuchender Rede, untermischt von unartikulierten Tönen von sich, daß soeben bei dem Gouvernement eine Stafette eingegangen sei der Post und Überlieferung, Napoleon sei bei Schleiz total geschlagen und in voller Flucht nach dem Rheine. Hieran knüpften sich die glorreichsten Nachrichten von der Zahl der Toten, der Gefangenen, der eroberten Kanonen. Die Verluste gingen ins Unermeßliche.
Der freudigste Jubel brach aus. Man schüttelte einander die Hände, Tränen der Rührung wurden vergossen, die Seligkeit des Glücks leuchtete aus den Augen der ältesten und trockensten Personen. Ich habe, wenn ich nachmals über diesen Vorfall in meiner Erinnerung kam, stets innig empfunden, wie tief die edeln Regungen, welche da erweckt wurden, in der menschlichen Brust gegründet sind. Man konnte wirklich zu jener Zeit vom Staate nicht viel mehr wissen, als daß er eine Anstalt sei, worin die Soldaten Spießruten liefen, worin der Adel empfange, der Bürger und Bauer aber zu geben habe, und dennoch jauchzten die Menschen über sein Glück: als hätten sie ein Vaterland, welches ihnen die köstlichsten Früchte der Freiheit und des Großsinns trage!
Die Nacht und der folgende Morgen ging im Schwelgen des befriedigten Patriotismus hin. Um Mittag kam aber der Vater mit einem ernsten Gesichte von der Kammer zurück und sagte: „Bei dem Gouverneur ist keine Stafette eingegangen, und man weiß überhaupt nicht, woher die ganze Nachricht rührt. Prinz Louis soll bei Saalfeld angegriffen und schwer verwundet worden sein.“
Das klang nun freilich gar anders, und die unbestimmte Ahnung eines Unglücks, welche sogleich hervortrat, erhielt die tiefste tragische Wendung. Denn der Prinz war für Magdeburg, was Achill für das Lager in der Ebene von Ilium gewesen. Er war Chef eines der bei uns garnisonierenden Regimenter, Domprobst, aber über diese Prädikate hinaus lagen die Zauber, mit denen er auf die Menschen wirkte. Seine Tapferkeit, Bonhommie, seine große Begabung für Musik nicht minder als seine Waghalsigkeiten und forcierten Ritte nach Berlin und selbst seine Schulden, Ausschweifungen und Liebeshändel hatten ihn in alle Lichter romantischer Beleuchtung gestellt.
Der Tag und der folgende verging still und gespannt, und ich weiß noch, daß ich in meinem Knabenkopfe darüber nachdachte, wie es möglich sein könne, daß die Menschen an einem Abende entzückt und am Tage darauf niedergeschlagen wären. Ich wußte freilich keine Lösung zu finden, aber die erste Ahnung von der tiefen Zweideutigkeit und Tücke des Lebens entstand mir damals und knüpfte sich so an ein furchtbares allgemeines Geschick.
Niemand wußte, wie die Sachen sich verhielten. Ein Nachbar trat im Dunkel unter das Fenster, zu dem der Vater hinaussah, und sprach von einer großen zweitägigen Schlacht bei Frankenhausen, die, als der Kurier abgegangen, noch unentschieden gewesen sei. Der Vater seufzte tief und stieß den Schmerzensruf aus: „Gott! Friedrichs Soldaten werden denn doch wohl ihre Schuldigkeit tun!“
Der Morgen des 17. Oktobers (wenn ich nicht irre) brachte den Jammer der kläglichsten Gewißheit. Schon in der Frühe war ruchbar geworden, die Nacht zuvor sei ein verwundeter Offizier vom Schlachtfelde angekommen, der dem Gouverneur die schlimmsten Dinge entdeckt habe. Der Tod des Prinzen wurde bekannt. Aber, was in gewöhnlichen oder nur nicht ganz entsetzlichen Verhältnissen wie ein Fall sondergleichen erschienen wäre, das verschwand hier fast unbeachtet vor dem Heranschreiten des unerhörtesten Elends. Denn um neun Uhr morgens begann der Rückzug (wenn man ihn so nennen will) der geschlagenen Armee, welche in Magdeburg sich wieder sammeln sollte, und er hat ununterbrochen den ganzen Tag hindurch bis spät in die Nacht, sowie einen Teil des folgenden Tages fortgedauert. Aller Aufsicht entlassen, war ich als elfjähriger Knabe beständig auf der Straße, habe ihn daher mit meinen Augen gesehen und kann mithin sagen, daß meine erste große Anschauung der grausenvollste Sturz und Ruin gewesen ist.
Um neun Uhr zogen die ersten Flüchtigen zum Sudenburger Tore herein. Haufen Fußvolks waren mit halben oder viertel Geschwadern Reiterei vermischt; dazwischen fuhren dann wohl einzelne Kanonen oder Pulverkarren. Durcheinander trieben Uniformen aller Regimenter und der verschiedensten Grade sich zur Stadt herein. Auch einzelne Packpferde mit den balancierenden Zeltstangen wurden wieder sichtbar, Feldequipagen folgten, und selbst die erbärmlichen roten Küchenwagen blieben nicht aus. Zuweilen kam ein Stabsoffizier gesprengt, befahl etwas mit heftigen Schreiworten an Leute, die nicht von seinem Regimente waren, und sprengte dann weiter, ohne darauf zu achten, ob sein Befehl ausgeführt wurde.
Das Volk hatte sich auf dem Breiten Wege und am Neuen Markt in dichten Haufen versammelt und sah anfangs mit einer Art von dumpfer Hoffnung dieser Verwirrung zu. „Es sind die ersten Ausreißer,“ hörte ich mehrere Leute sagen, „die halten sich nie in der Ordnung. Nur Geduld, bald werden reguläre Regimenter kommen!“
Aber es wurde Mittag, es wurde Nachmittag, es ging gegen den Abend, und noch hatte das Durcheinander nicht aufgehört, noch immer wälzte sich der verworrene Knäuel, zu welchem der Schlachtengott hier ein Heer zusammengeballt hatte, durch die Straßen. Endlich kamen einige geordnete Scharen, gleichsam zur Probe und um doch auch eine Ausnahme von der grausen Regel zu zeigen. Eingehüllt waren nun die Fahnen, die auf dem Hinzuge so lustig im Winde geflogen hatten. Meistens zog alles ohne Sang und Klang einher. Nur einmal tönte die Musik hell, gleichsam ein Lachen der Verzweiflung über das gramvollste Geschick. Das war, als das Trompeterkorps eines Kürassierregiments einpassierte. Sie hatten ihr Regiment nicht hinter sich, waren überhaupt ganz allein und für sich und bliesen so auf ihre eigene Hand den Dessauer Marsch, als sei alles in bester Ordnung. Sie sahen wohl aus, die Trompeter, und saßen auf feistgenährten Pferden. Überhaupt fiel es auf, daß die einzelnen nicht abgerissen oder abgehungert oder sonst zerstört sich ausnahmen; das Tiefste des Unglücks trat in diesem Kontraste persönlicher Wohlbehaltenheit mit allgemeiner Vernichtung zutage.
Am Nachmittage wußte Jeder, daß es ein preußisches Heer eigentlich nicht mehr gebe. Eine marklose Trauer lag auf den Gesichtern der Menschen. Doch selbst in dieser regte sich noch der unbeschreibliche Geist, der jene Zeit charakterisierte. Ich hörte jemand zu seinem Nachbar sagen: „Das mag nun sein, wie es will, schlecht ist es allerdings hergegangen, aber wir haben mit Ehren verloren, denn ich hörte soeben, daß die Franzosen in der Schlacht nicht aus dem Schritt, die Preußen jedoch nicht einmal aus dem Tritt gekommen seien.“ Er wollte damit andeuten, wie vortrefflich unsere Armee bei Jena und Auerstädt exerziert habe.
Der König war angekommen und in der Domprobstei am Neuen Markte abgestiegen. Man wußte, daß er nach dem Fürstenwalle oder nach dem Gouvernementshause sich begeben hatte. Eine große Menge Menschen war, seine Rückkunft erwartend, in der hinabführenden Straße versammelt. Es dämmerte schon etwas, als der König die breiten Steine an der Seite der Straße zu Fuße heraufgeschritten kam, nur von einem Adjutanten begleitet. Bei seinem Anblicke brach die Menge in ein lauthallendes Vivat aus. Dieser Ruf mochte ihm so unerwartet sein, der Augenblick ihn in dem Bewußtsein seiner Lage so ergreifen, daß ihn die ihm sonst eigene Fassung verließ. Er zog sein Taschentuch hervor, bedeckte damit das Antlitz und ging so verhüllt einige Schritte weiter auf seinem Wege. Dann nahm er das Tuch wieder hinweg und schritt nun ernstgrüßend nach seiner Wohnung den Menschen vorüber, welche, erschüttert von der Träne ihres Herrschers, den gewaltigen Moment durch das tiefste, ehrfürchtigste Schweigen feierten.



*) Besniaken nannte man damals ein preußisches Reiterregiment, das mit Lanzen bewaffnet war; aus diesen „Bosniaken“ und „Tataren“ und „Towarczys“ wurde 1808 das erste preußische Ulanenregiment gebildet. Die Towarczys (polnisch: Gefährten bedeutend) waren ein preußisches Regiment, das 1800 aus dem kleinen polnischen Adel gebildet war. Auch die Ulanen kommen zuerst bei den Polen vor; sie sollen nach einem tatarischen Anführer Ullan genannt sein.
**) Ein römisches Fest um die Mitte des Dezembers, unserm Weihnachten ähnlich.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons