Napoleon

Die erste große Weltbegebenheit, welche meinem Sinne einging, war der Krieg der Österreicher im Jahre 1805. Die Dinge, welche ich davon vernahm, sind charakteristisch, um die damalige, jetzt unglaublich aussehende Stimmung in Norddeutschland zu bezeichnen. Ich hörte nämlich eines Tages unter mehreren Bekannten des Hauses von dem nahen Ausbruche jenes Krieges reden, und es war nicht anders, als wenn es ein Unglück wäre, sollten die Österreicher siegen. An welche Schlußfolgerung diese Sorge geknüpft wurde, ist mir entfallen. Sie erschien um so verwunderlicher, als daneben her der Abscheu gegen den französischen Vergewaltiger ging.
Ein alter Doktor, der Hausarzt, hatte sich besonders unter jenen Redenden hervorgetan, jedoch die Zweifelmütigen mit der Aussicht auf die gewisse Niederlage der Österreicher beruhigend. Dieser war es auch, der meinem Vater in seine Gartenstube die erste Nachricht von dem greulichen Unglücke bei Ulm brachte. „Was habe ich gesagt, Vetter!“ rief er schon von draußen zwischen den Blumenbeeten meinen Vater an; „die Halters haben tüchtige Schmiere gekriegt.“*)
Ich saß mit meiner Rechentafel beschäftigt in einen schwierigen Bruch vertieft und dachte, als ich nun Macks Kapitulation mitanzuhören bekam, im stillen: „Da habt Ihr es für den Sturm von Magdeburg!“
Wie erdichtet klingt es, es ist aber wahr, daß die demnächst erfolgte Auflösung des Reichs und die Niederlegung der Kaiserkrone bei uns nur Freude erregte. Es wurde darüber gewitzelt, gespöttelt, und ein munteres lebhaftes Frauenzimmer, deren Junge bei keiner Gelegenheit zu feiern pflegte, habe ich ausrufen hören: „Nun hat sich das Franzel selbst auf Pension gesetzt!“
Ein großer illuminierter Kupferstich hing in einem Bilderladen aus, da sahen wir einen untersetzten Mann im bienenbesäten Mantel von einem alten Manne in Purpur etwas empfangen, was wir nicht recht unterscheiden konnten, und ringsumher Damen und Herren, prächtig gelb, rot, blau, grün angestrichen, und man sagte uns, das sei die Kaiserkrönung Bonapartes.**) Mit diesem verknüpften wir den Begriff, daß er eine Art von Tollem sei, der sich zu seinem Vergnügen überall in der Welt herumhaue und herumschieße. Daß er uns etwas tun könne, fiel niemandem ein. Wenn von seinen Siegen 1805 die Rede war und nebenher noch manches andere zur Sprache kam, was er getan, so hieß es immer: „Laß ihn sich nur erst einmal gegen die Preußen versuchen!“
Für uns Kinder hatte er durchaus etwas Lächerliches, und das kam daher, weil seine einzige Verehrerin im Kreise der Bekanntschaft uns den Lachreiz durch ihre Person gab. Diese Bonapartistin war nämlich eine alte unvermählt gebliebene Jugendfreundin der Großmutter, die uns um so mehr auffiel, als mir sie nur in Gesellschaft der Großmutter sahen und da allerdings ein starker Kontrast hervortrat. Die Großmutter, zu ihrer Zeit eine gepriesene Schönheit, war eine große, wohlerhaltene Frau in den Fünfzigen; die Freundin dagegen eine kleine, verwachsene Gestalt mit einem Gesicht, grau, faltenreich, alräunchenhaft. Die Großmutter sprach laut, daß man es im dritten Zimmer hören konnte, die Freundin hatte den asthmatischen piependen Ton, hüstelte zwischen jedem Satze und mengte in alles französische Phrasen, hinter deren jeder aber das Wörtlein: Hé quoi? angeflickt wurde, gleichsam als Ballast für das unter fremder Flagge fahrende Schiff. Da sie nun überdies auch Tabak schnupfte und immer einen grünseidenen Hut trug mit roten Rosen, so war sie für uns eine entschieden komische Figur und hieß wegen ihrer Anhänglichkeit an den frisch Gekrönten „Rustan“, denn von diesem Leibmamelucken war auch schon vielfach Rede gewesen.
Tante Rustan hatte sich also beizeiten für den Gewaltigen entschieden und verhehlte nicht, daß sie ihn für den ersten Helden und größten Mann aller Zeiten halte. Toulon, Ägypten, Montenotte, Millesimo, Dego, Arcole, Lodi, Marengo stäubten ihr nur so von den Lippen, und da sie nach der Art alter Jungfrauen sehr viel sprach, so erfuhren wir von diesen französischen Heldenwundern nicht seltener als von den Schlachten des Siebenjährigen Krieges durch den Vater. Es fehlte aber viel, daß sie auf uns einen ähnlichen Eindruck gemacht hätten, denn Tante Rustan piepte, hüstelte und näselte sie ab, wodurch alle Würde des Vortrags verloren ging.
Es kam dazu der Umstand, daß sie in eigensinniger Verkehrtheit dem Namen ihres Helden einen ganz ungehörigen Pleonasmus (überflüssige Vergrößerung). gegeben hatte. Sie nannte ihn nämlich nie anders als Neapoleon. Vergebens korrigierte sie die Großmutter jedesmal, so oft diese sonderbare Verlängerung hörbar wurde, umsonst wurde sie auf gedruckte Dokumente verwiesen; sie blieb dabei, daß das Wort „Napoleon“ eine neidisch verkleinernde Kontraktion sei und dass der Name in seiner wahren Fülle so klinge, wie sie ihn ausspreche. – Wir Kinder aber, die wir wohl wußten, wie es darum stand, setzten bei uns in der Stille fest, daß an einem Manne, den seine eifrigsten Anhänger nicht einmal richtig zu benennen wüßten, unmöglich viel sein könne.
Was meinen Vater betrifft, so nannte ihn dieser nur „Bonaparte“, ist auch bei der Bezeichnung die ganze Zeit der Unterdrückung hindurch verblieben.
Übrigens stimmte er weder in die Herabsetzungen der Österreicher ein, obgleich er auf dieselben vom „Könige“ her nicht gut Zu sprechen war – noch ließ er sich zu übermütigen Dingen wider den französischen Kriegsfürsten verleiten, wie er denn der ernsteste und in sich gezogenste Charakter war, der mir je vorgekommen ist. Sein Vertrauen aber auf Friedrichs Staat und Heer sprach er bei jeder Gelegenheit herzhaft aus.



*) Die „Halters“: die Österreicher wegen ihres beliebten Flickwörtchens. Am 17. Oktober 1805 übergab der österreichische General Mack die starke Festung Ulm an Napoleon, 23.800 Mann der Besatzung wurden Kriegsgefangene. In vierzehn Tagen jenes Oktobers wurde eine österreichische Armee von 90.000 Mann fast völlig vernichtet, kaum 20.000 erreichten erschöpft und mutlos ihre Heimat. Am 13. November zog Murat in Wien ein. Am 2. Dezember folgte die Dreikaiserschlacht bei Austerlitz, in der Napoleon den deutschen und den russischen Kaiser besiegte. Am 26. Dezember wurde der Friede von Preßburg geschlossen, durch den Österreich 1.000 Quadratmeilen Land und fast 3 Millionen Einwohner verlor, von der Schweiz und Italien fast ganz abgeschnitten wurde und den Einfluß auf das übrige Deutschland fast gänzlich einbüßte. Am 6. August 1806 legte Kaiser Franz II. die deutsche Kaiserwürde nieder: das alte römische Reich deutscher Nation war damit aufgelöst. – Was Immermann von seiner knabenhaften Stellung zu diesen großen Ereignissen erzählt, ist ein Bildchen für die ganze Haltung Norddeutschlands, zeigt also, daß die Deutschen ein Einheitsgefühl nicht hatten.


**) Napoleon war am 18. Mai 1804 zum Erbkaiser der Franzosen ernannt worden, am 2. Dezember assistierte der Papst Pius der Siebente der Kaiserkrönung, doch setzte Napoleon sich und seiner Gemahlin selber die Krone auf.


Dieses Gefühl steigerte sich noch, als auf einer großen Magdeburger Revue plötzlich französische Marschälle von Hannover aus als schlaue Ehrengäste erschienen. Der Herzog von Braunschweig*) stand jener Heerschau vor, und eine ganze Woche lang sahen wir alle Morgen die Regimenter im höchsten Staat mit den Fahnen vom Siebenjährigen Kriege her, die nur in Fetzen flatterten, aber wie wir wußten durch diesen Beweis des empfangenen Kugelsegens um so ehrwürdiger waren, ausrücken. Nicht genug konnte man sagen, wie die Marschälle, unter denen wir Bernadotte nennen hörten, des Lobens und Rühmens voll seien über die preußischen Truppen, und Jeder, der davon sprach, tat, als sei ihm etwas Schmeichelhaftes widerfahren.
Diese kindischen Geschichten lehren, daß damals der Traum sicherer Größe nicht bloß von einzelnen Verblendeten und nicht von einer Klasse, sondern durch alle Stände und bis zu den Kindern hinab geträumt wurde. Es schien, als ob alle Welt einen Taumelkelch getrunken habe, denn es gab doch Landkarten und statistische Bücher, und die sogenannte Rheinkampagne hatte doch endlich zu dem nicht sehr ehrenvollen Frieden von Basel geführt; aber keine Erinnerung schreckte.
Ja es war, als ob der Mann, der sich andrer Orten so furchtbar erwiesen hatte, in diesem Falle den Schwindel mehren sollte, anstatt von ihm heilen. Die preußische Armee, mit der Revolutionsmasse zusammengestoßen, schien da einem ihr nicht gemäßen Elemente begegnet zu sein, die Zweideutigkeit der Erfolge konnte aus einem gewissermaßen unanständigen Versuchen der Kriegsmeisterschaft wider rohes Naturalisieren abgeleitet weiden. Wie nun aber Napoleon als unbezweifelbarer Virtuose des Metiers hervortrat, so entstand sofort die Vergleichung mit Friedrich, und da dieser dem Durchschnitte der Menschen noch immer als der Höchste galt, der überhaupt im Kriegswesen denkbar sei, so fiel das Prognostikon unbedingt ungünstig wider den französischen Helden aus. Man nahm an, daß Napoleon sich nach Regeln schlage, und die Regeln aus Friedrichs Schule, deren Tradition noch bei dem Kriegsstaate fortgepflanzt wurde, mußten natürlich die siegbringenden sein, wenn auch von noch so alten und kraftlosen Händen ausgeführt. Möllendorf**) wurde mit der größten Ehrfurcht genannt, doch erinnere ich mich auch, daß Blücher ***) schon damals in den Gesprächen stark hervorklang und daß man wegen eines kühnen und gewaltigen Reiterangriffs (welcher? ist mir entfallen) an ihn die Aussicht knüpfte, vor ihm sei, wenn er zum Einhauen komme, kein Bestand, denn er reite Alles nieder.
Indessen glaubte bei uns seit der Revue, welche die Marschälle besucht hatten, niemand mehr an den Krieg mit den Franzosen. Es hieß, daß sich nun die Obersten der fremden Armee selbst von der Vortrefflichkeit des preußischen Exerzitiums überzeugt hätten und daß der französische Kaiser daher wohl Bedenken tragen würde, eine schlimme Lektion in Empfang zu nehmen.
Aber eines Tages sahen wir plötzlich in dem großen, gewaltigen Zeughause, welches zunächst dem Dome einem bedeutenden Teile des Neuen Marktes seine Front zukehrte (es ist nachmals abgebrannt), eine unruhige Bewegung. Die Flügelpforten des Gebäudes waren aufgetan; neugierig schauten wir in die geheimnisvollen schwarzen Räume, in welchen Geschütz an Geschütz, Kugelhaufen an Kugelhaufen sich befand. Ein Zufall begünstigte meine Forschbegier, ich drang in diese Werkstätte des Todes ein und gelangte selbst auf die oberen Böden. Dort sah ich mit schaurigem Vergnügen auf unabsehlichen Gerüsten den Feuergewehrbestand des Magazins. Soldaten schleppten sich mit Flinten und Pistolen, unten wurden Kanonen und Lafetten untersucht, hinausgefahren, und zwei Offiziere, hinter denen ich herging, hörte ich die charakteristischen Worte sprechen: „In vier Wochen wissen wir, woran wir sind.“



*) Herzog Karl Wilhelm Ferdinand (1735-1806), vom Siebenjährigen Kriege her der berühmteste Heerführer Norddeutschlands nach Friedrich dem Großen. In den Feldzügen gegen die Franzosen von 1793 und 1794 hatte er jedoch seinen Ruhm nicht vermehrt; von dieser „Rheinkampagne“ ist gleich darauf die Rede. General Bernadotte: der nachmalige erwählte König von Schweden.
**) Generalfeldmarschall Wichard Joachim Heinrich v. Möllendorf (1724-1816); das hohe Alter der preußischen Generale, Obersten usw. war eine Hauptursache der bald folgenden Niederlagen.
***) Gebhard Lebrecht v. Blücher (1742-1819) nahm schon am Siebenjährigen Kriege, jedoch auf schwedischer Seite, teil. In den Rheinfeldzügen zeichnete er sich als preußischer Oberst bei Luxemburg, Kaiserslautern, Mooschheim, Weidental und Moorlautern aus; 1794 ward er Generalmajor.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons