Abschnitt. 4

„Es ist ein Schäferstück,“ versetzte einer kleinlaut, „und heißt ›Rinaldo und Armida‹.“
„Wenn es ein Schäferstück ist, so bin ich zufrieden, versetzte er einigermaßen beruhigt. „Narrenpossen verbitte ich mir zu meinem Geburtstage. Übrigens habe ich nie von Schäfern gehört, die Rinaldo und Armida hießen.“
„Es ist ein Schäferpaar aus dem Morgenlande,“ antworteten wir.*) Wagen über Wagen rollten gegen die Dämmerung in den Hof. Die Bühne, diesmal nicht von Monsieur d'Imbert im wohlverstandenen Interesse Aller verdunkelt, strahlte im blendendsten Lichte, so daß man jedes Fädchen an der dünn-grün-bemalten Leinewand sah, welche die berauschenden Zaubergärten der schönen Verführerin darstellen sollte. Der „Marquis“ hatte seiner Locken wegen diese übernommen und stand im blauen Taffetrock, rotem Spenzer, Schnabelschuhen da. Würdig einer solchen Geliebten zeigte sich Rinaldo als gepuderter Chevalier mit Taubenflügeln, Haarbeutel, Galanteriedegen. Gottfried v. Bouillon, der nicht viel vertragen konnte, hatte sich mittags auch noch so eine Art von Haarbeutel als Ergänzung der Maske zugelegt. Alle Anderen waren ebenfalls auf das barockste ausstaffiert.
Auf einmal sah des Oheims Gesicht neben dem Vorhange durch. „Nie in meinem Leben werden daraus Schäfer,“ sagte er, indem er zurückging.
Der ganze Rittersaal war voll von mansfeldischen Nachbarn und Freunden. Väter, Mütter, Söhne, Töchter, ein höchst gespanntes Auditorium. Der Oheim nahm mit verlegener Würde in seinem Lehnsessel mitten vor den übrigen Zuschauern Platz und bereitete sich, das Rührende, was seiner Meinung nach kommen mußte, in Empfang zu nehmen. Die Musik begann.
Nach den letzten Tönen trat ich vor und sprach meinen Prolog mit dem größten Ernste, indem ich besonders auf die Stellen, die von des Oheims Fassung unter schwierigen Umständen handelten, die empfindendsten Akzente legte. Ich bemerkte während meiner Rede, daß Alles in das gehörige Fahrwasser kam. Der Oheim hörte mit Sammlung zu, im Saale vernahm ich schon ein leises Schluchzen da und dort.
Ich bin überzeugt, daß, wenn die Andern sich in ihrem Spiele etwas zu mäßigen verstanden hätten, das ganze Stück diesem Kreise als ein rührendes Drama vorübergegangen sein würde, denn die Stimmung war durchaus günstig für einen solchen Eindruck. Aber sie taten, wie es zu geschehen pflegt, des Guten zuviel, übertrieben und versetzten dadurch den König des Festes und seine Gesellschaft in die eigenste Lage.
Ich hatte mich, da es für mich hinter dem Vorhange nichts mehr zu tun gab, unter die Zuschauer gemischt. Den Oheim sah ich bei den Renommistereien Gottfrieds in seinem Sessel unruhig werden; ich hörte ihn, als Rinaldos Seelenqual begann, laut murren; endlich, als das „Tigertier“ aus Armidens Lippen sprang, versteinerte er sozusagen und hielt sich in dieser starren Fassung unter schwierigen Umständen bis zum Schluß.
Die Gesellschaft dagegen war durchaus in einem gespaltenen Zustande. Daß der Spaß nicht verstanden wurde, konnte hingehen, denn sie machten ihn zu toll. Nun aber wollten die Einen fortschluchzen zur Ehre des Tages, ein innerliches Erschrecken aber hemmte sie in ihren Veranstaltungen. Die Andern hätten wohl hin und wieder lachen mögen, hielten dies aber für unpassend und zwangen sich zu seufzen, womöglich etwas zu weinen. Endlich lösten sich diese künstlichen Bestrebungen in ein allgemeines Ermatten auf, welches immer größer wurde, je mehr sich die Spielenden angriffen, und fast zur Lethargie gediehen war, als der Vorhang vor der unglückseligen Farce niederrollte. –
Flöten und Geigen spielten lustige Weisen. Der Ball hatte angefangen, wir wurden aber von den Mansfeldern mit einigem Abscheu betrachtet, und Mancher empfing von den Mädchen einen Korb, wenn er zum Walzen aufforderte. Der Oheim zeigte sonderbar-verdrießliche Mienen und sah uns nicht an, ausgenommen mich, dem er gleich nach dem Spiele die Hand drückte und sagte: „Du kannst nichts dafür! Du hast deine Sachen gemacht, wie sich gehört.“
Nur der Pastor eines benachbarten Dorfes war unser Freund und Sachwalter geblieben. Dieser Mann machte die einzige Wintergesellschaft des Oheims aus; er kam im wildesten Eis- und Schneewetter zu ihm, um mit ihm Deutsch-Solo zu spielen, was des Pastors alleinige Lebensfreude war. Von den Schnee- und Eisgängen hatte er eine rote Nase bekommen, die auch im Sommer wie erfroren aussah und von welcher der Oheim behauptete, der Pastor poliere sie sich mit einem Falzbeine, um eine glänzende Naturmerkwürdigkeit aufzuweisen; denn sie glänzte wirklich über die Maßen, diese Nase, in ihrer Blaurötlichkeit. Er hatte der Darstellung mit ununterbrochener Andacht beigewohnt, als höre er die Gastpredigt eines Amtsbruders.
Der Pastor mit der Glanz- und Frostnase ging dem Oheim nach und sagte begütigend: „Herr Oberamtmann, das war ein schönes Stück.“
„Herr Pastor, was soll ich von Ihnen denken? erwiderte der Oheim.
„Ich versichere Ihnen,“ fuhr der unerschrockene Begütiger fort, „das Stück war sehr schön, und wenn es an einigen Orten nicht so aussah, so war das Ungeschick der jungen Leute daran schuld; sie werden es das nächste Mal schon besser spielen.“
„Nichts als Ränke und Schwänke waren es! fuhr der Oheim heraus. „Die Wiederholung schenke ich Ihnen.“
Der Pastor war unser Freund, weil er ohne uns heute seine Partie nicht gehabt hätte.
Es hatte Eins geschlagen, die Gäste hatten sich entfernt. Wir standen im Rittersaale wie ein zusammengeschossenes Bataillon auf dem Felde der verlorenen Schlacht. Der Oheim saß im Lehnstuhl, in dem er eine so unerwartete Feier erlebt hatte, und rauchte seine Nachtpfeife.
Niemand hatte den Mut zu sprechen. Er zürnte, das war offenbar.
Dergleichen Momente höchster Spannungen bringen aber oft urplötzlich ihr Gegenteil hervor. Denn auf einmal nahm Einer aus bloßer Verlegenheit, aber wie durch einen Gott unterwiesen, aus seiner Tasche Papiere, näherte sich dem Oheim und fragte schüchtern: „Lieber Onkel, wollen Sie die Rechnungen heute oder morgen haben?“
Der Oheim sah groß auf, nahm die Braten- und Küchenrechnungen, blickte hinein, blickte den Schüchternen an, der eine Kammerzofe der Armida gespielt hatte und in der Rolle stecken geblieben war, blickte auf unsere stumme und verlegene Schar. Er wollte noch zorniger werden – es ging aber nicht, denn er war schon so zornig gewesen, als ein Mensch überhaupt sein konnte. Er mußte also etwas anderes werden, nämlich lustig – ein gewaltiger Kampf arbeitete in seinen Gesichtsmuskeln, wir halfen den Wehen der Fröhlichkeit nach, brachen in Lachen aus, der Oheim stimmte ein, stand auf, zupfte mehrere am Ohre, was ein Zeichen seines besonderen Wohlwollens war, rief zwischen Lachen und Poltern: „Ihr seid doch ein nichtswürdiges Volk!“ und ging mit den Rechnungen in seine Festung, um sich schlafen zu legen.
Am andern Morgen war das heiterste Wetter im Hause, ungeachtet der Oheim verschiedene Strafreden hielt.
„Mußte denn die Person im blauen Taffetrock so brüllen? Mußte der Liebhaber sich gebärden wie ein Hanswurst? War das ein ordentlicher Held, ein Feldherr, der Gottfried?“ sagte er. „Der allein, fuhr er fort, indem er auf mich wies, „war vernünftig, nach dem hättet ihr Anderen euch richten sollen.“
Die Geschichte dieses Tages trat in den Kreis seiner ungeheuerlichen Erzählungen. Er sagte es anfangs und glaubte es späterhin, an dem Stücke „Rinaldo und Armida“ hätten vierzehn Studenten gearbeitet und umwechselnd einen Vers nach dem andern geschrieben. „Sie können also denken, was für Zeug das war!“ fügte der Oheim hinzu. „Und damit wollen sie einen Geburtstag feiern!“ – Er vermied seitdem derartige Festlichkeiten.
So waren ihm die Schnurren, die er selbst genährt, endlich über den Kopf gewachsen. Wir aber erfuhren vierzehn Tage später, daß in den Stunden, wo wir unsere Eulenspiegeleien getrieben, Napoleon von Elba entkommen sei. Das war wohl eine Konstellation tragischer und komischer Sterne Zu nennen. Denn einige Monate später standen die Meisten von uns bei Ligny.



*) Rinaldo und Armida sind Personen aus den Rittersagen des Mittelalters; am bekanntesten sind sie aus Tassos „Befreitem Jerusalem“, dessen Fabel jene Studenten karikierten. Armida ist eine heidnische Königstochter und wunderschöne Zauberin, auch den Helden Rinaldo lockt sie in ihre Zaubergärten; er wird von Boten, die Gottfried v. Bouillon aussendet, wieder zu seiner Pflicht, an der Eroberung Jerusalems zu helfen, zurückgeführt. Schließlich wird Armida zum Christentum bekehrt und Rinaldos Gattin.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons