Abschnitt. 3

Es war im Februar 1815. Plötzlich fiel es einem von uns ein, daß des Oheims Geburtstag bevorstehe, und einem Andern, daß derselbe noch nie eigentlich recht feierlich begangen worden sei, und uns allen, daß wir die bisher übersehene Pflicht auf das ausbündigste nachleisten müßten.
Wir lebten nun ganz in den Vorbereitungen zu dieser Festesfeier. Stillschweigend war angenommen worden, daß nur etwas Ungemeines derselben würdig sei. Mir hatten die Übrigen die Wahl des Stücks übertragen. Ich stöberte in den Bibliotheken umher, fand ein Heft Possen von Julius v. Voß für „lebende Marionetten“ geschrieben, und darin nur „Rinaldo und Armida“, die mir das Ungemeine, was Zeit und Gelegenheit verlangte, zu sein schien. Als ich es vorlas, gewann es sich auch den Beifall des ganzen Kreises. Das Ding war überschrecklich genug. Gottfried von Bouillon, der das Glas liebte und immer etwas aus der Fassung auftrat, rief an einer Stelle, wo er sich zum Ausruhen niederlegen wollte:
„Ihr Wagen Heu, fahrt mir aus dem Wege,
dieweil ich hier mich schlafen lege!“
Armida apostrophierte den Abtrünnigen zum Schluß einer herzbrechenden Rede mit den Worten:
„Bleib hier
bei mir,
Du Tigertier!“
Kurz, es war alles schon gehörig gesalzen und gepfeffert darin. Allein den Spielern in diesem großen Drama genügte die Würze noch nicht, Jeder setzte sich in seiner Rolle zu, was ihm an Kraftworten und Geistesblüten aufging. Mir wurde hierbei etwas bedenklich zu Mute, ich dachte an Ceres und die Cerealien. Deshalb schrieb ich einen Prolog, worin ich höchst ernsthaft auseinandersetzte, die Lehre unserer Tragödie gehe dahin, daß der weise Mann sich unter allen Umständen zu fassen wisse. Auch der Oheim habe sich unter schwierigen Umständen zu fassen gewußt, und das Stück sei daher vorzüglich geeignet, sein Wiegenfest zu verherrlichen. Es herrschte eine solche Begeisterung für die Rollen, daß ich leicht aus dem Gedichte fortbleiben konnte; man war sehr zufrieden mit meiner Genügsamkeit, die nur den Prolog für sich in Anspruch nahm.
In der Frühe eines rotklaren Wintermorgens machte sich die abenteuerliche Rotte auf den Weg. Es waren vierzehn Studenten im ganzen, welche sich neben und in den Gärten Armidens hören lassen wollten. Die meisten ritten, aber nicht in der Tracht vernünftiger Menschen, sondern in dem damaligen sogenannten „Wichs“, d. h. in buntfarbigen, schnürebesetzten Kolletten, weißgekollerten Lederbeinkleidern, Kanonenstiefeln, Stürmer auf dem Haupte. Ein großer Rumpelkasten von Wagen folgte mit den zusammengerollten Kulissen, mit dem Kostüm, mit kalten Braten, sauer eingekochten Fischen, Kuchen, Gelees. Denn Alles war auf die vollkommenste Überraschung berechnet, und selbst mit der Gesellschaft sollte der Oheim unvermutet angebunden werden. Um aber diese in der Eile von Morgen bis Abend zusammentrommeln zu können, um der Tante die Bewirtung möglich zu machen, hatten wir jene Festspeisen in Halle bereiten lassen, versteht sich auf Rechnungen, die neben den Gerichten im Wagen lagen und dem Oheim am Lendemain (am folgenden Tage) als nachträgliche Freude dargereicht werden sollten.
Wir waren trotz der Februarkälte warm durchheizt von Lust und Vergnügen, und schon unterwegs brach die Posse aus.
Vor Langenbogen, einem Dorfe auf der Hälfte der Straße, sahen wir mehrere Bauern stehen, verwundert über den herannahenden bunten Zug. „Halt!“ rief einer von uns, „wir wollen dem Volke weismachen, es sei der König von Sachsen, der in sein Land zurückkehre.“
Wirklich war damals schon vielfältig davon die Rede, daß Friedrich August bald aus seiner Gefangenschaft*) entlassen sein werde. Gesagt, getan! Einer, den wir den Alten nannten, weil er der Verständigste unter uns war, hing sich Gottfried von Bouillons Purpurmantel um die Schultern, setzte die Goldflitterkrone des Mohrenkönigs auf, nahm Zepter und Reichsapfel in die Hand und ließ sein Pferd von Zweien zu Fuß führen. Ein Anderer, ein stämmiger, praller Lockenkopf, sprengte als Reisestallmeister voran. Dieser hieß der Marquis. Er war bei Montmirail unter die französischen Kürassiere geraten, hatte bis zum Frieden in Limoges Kriegsgefangenschaft erduldet und jene Ehrenwürde von den Franzosen, ich weiß nicht durch welches Mißverständnis, empfangen.
Der Marquis rief den Bauern zu: „Hüte abgenommen! der König von Sachsen kommt!“
Die Bauern nahmen wirklich ganz verdutzt ihre Hüte ab bis auf einen, der vor Erstaunen nicht dazu kommen konnte, sondern mit offnem Munde und starren Augen den im Purpurmantel angaffte. Als dieser neben ihm vorbeiritt, gab er dem Gaffenden einen leichten Schlag mit dem Zepter. „Kann Er nicht den Hut abnehmen, wenn eine Majestät durchpassiert?“ sagte er mit einer solchen Würde, daß der Bauer nun nicht allein sein Haupt entblößte, sondern die Bedeckung zu Boden fallen ließ.
Als der Oheim von seinem Lug-ins-Land unserer Kavalkade ansichtig wurde, hätte er wohl nicht übel Lust gehabt, die Pforten schließen zu lassen, denn die Ahnung mochte ihm sagen, daß seinem Hause ein arger Wirrwarr bevorstehe. Indessen drangen wir denn doch ein und brachten in gesetzter Fassung unsern Glückwunsch vor. Oheim und Tante musterten den Anzug der Reiter, der etwas vom Reitknecht, etwas vom Husaren hatte und in den übrigen Stücken nur sich selber glich.
„Was soll denn nun eigentlich heute losgehn?“ fragte er nach einer Pause.
„Das ist eine Überraschung,“ versetzten wir.
Die Tante wurde beiseite genommen, und durch den Anblick des Speisevorrates dem Komplotte zugeneigt. Sie fertigte auf der Stelle mehrere reitende Boten ab und lud aus dem Stegreife die ganze Nachbarschaft auf den Abend ein. Es war in ihr ein wundersames Talent, keinen Scherz zu verderben und dennoch das Uhrwerk des Hauses im regelmäßigsten Gange zu erhalten.
Ich machte mich mit einigen Arbeitsleuten an das Werk und richtete im Rittersaale die Bühne zu, womit ich bald fertig wurde, denn ich hatte bei einem früheren, rekognoszierenden Besuche alle Dimensionen gehörig ausgemessen und jegliches in Schnüren, Rollen, Latten vorbereitet.
„Ich will wissen,“ sagte der Oheim, als ich in das Zimmer zurückkehrte, „woran ich bin.“
Er ging mit großen Schritten auf und nieder; die Andern saßen oder standen stumm umher, und ihre Verlegenheit kontrastierte mit den lächerlichen Jacken. „Was spielt ihr heute abend? Hoffentlich ist es doch etwas Vernünftiges?“ fuhr er fort, und sein Blick bezeugte, daß die Hoffnung auf Vernunft in ihm schwach war.



*) Der König Friedrich August von Sachsen blieb Napoleon auch 1813 noch treu und ward deshalb nach der Schlacht bei Leipzig von den Verbündeten als Gefangener behandelt. Friedrichsfelde bei Berlin wurde ihm als Aufenthalt angewiesen. Anfang 1815 ging er nach Preßburg; sein Land stand zunächst unter russischer, dann unter preußischer Verwaltung. Nach dem Wiener Kongreß kehrte er in sein durch große Abtretungen an Preußen sehr verkleinertes Land zurück.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons