Abschnitt. 2

Es war Herkommens in der Familie, ihre Feste mit allerhand Theatralischem zu feiern. Der Oheim hatte sich bei solchen Gelegenheiten vielfältig versucht. Für die Krone seiner Leistungen erklärte er selbst einen Genius, den er zu einer Hochzeit geliefert hatte. Dieser Genius war der Liebesgöttin aus einem Rosenbusche vorangeschwebt und hatte dem Paare verblümt zu erkennen gegeben, was für Gaben die Göttin, die selbst nicht sprach, dem neuen Bunde zudenke. Der Oheim war damals schon über dreißig; „das tat aber nichts,“ sagte er, „ich war dennoch der Einzige, der den Genius mit Würde sprechen konnte. Zum Überfluß hatte ich in meiner Rolle einige Worte angebracht, worin ich sagte, heute sei ein Tag, ein Tag so schön, ein Tag so ernsthaft und wichtig, daß kein dummer Junge von Genius an einem solchen Tage seine Sache hätte machen können.“
Die meiste Schwierigkeit hatte ihm das Kostüm verursacht. Niemand konnte ihm sagen, wie ein Genius sich eigentlich zu Hause trage. „Endlich,“ rief der Oheim, „gab mir die Rolle Aufschluß!“
„Von der Milchstraße herab komme ich an diesem schönen Tage –
Halt, dachte ich. Milchstraße! Milch – Milchflor. In Milchflor will ich gehen, weil der überhaupt so eine unschuldige Tracht ist, die für ein höheres Wesen paßt. Ich kaufte mir also zwölf Ellen Milchflor, und der Schneider mußte mich ganz darin einnähen vom Kopf bis zu den Füßen. Meinen Kopf ließ ich mir aufbinden, das Haar flog mir lang um die Schultern, und ich sah ganz pompös aus, machte auch einen großen Eindruck.“
An letzterem war nicht zu zweifeln. Denn der Oheim besaß rötliches Haar, welches einen herrlichen Abstich gegen den weißen Milchflor gegeben haben muß.
Als wir heranwuchsen, gingen die artistischen Bestrebungen der Jugend bei dem Oheim teils den älteren Gang, teils bogen sie auch schon in die neuere Literatur- oder Kunststraße ein. Zu den Darstellungen älteren Stempels gehörten verschiedene Schäferspiele, ein Genre, welches er besonders liebte. Er ließ nicht leicht einen Geburtstag vorüber, ohne auf dem Theater im Freien oder im Rittersaale einen Myrtill mit seiner Daphne, einen Menalk und eine Chloe*) zu produzieren. Diese Stücke entstanden wie die Poesie der Urzeit: ein bestimmter Verfasser war selten ermittelbar, das dichtende Volk brachte sie hervor.
Außerordentlich war besonders eins, dessen Darstellung in die Olympiade**) des Jahres 1810 oder 1811 fiel. Es traten darin mehrere herkömmliche Arkadier auf, dann die Göttin Hygiea, als eine völlig neue Figur aber ein junger Mensch in abgeschabtem grauen Rock, der sich sehr kläglich gebärdete, weil seine Eltern zu nahe dem Schlachtfelde von Aspern***) gewohnt hatten und total abgebrannt waren. Hygiea hatte eine Beziehung auf den Gefeierten, denn er war kürzlich von einer schweren Krankheit erstanden; wie sich aber der junge Mensch mit seinen abgebrannten Eltern in die Fabel verflocht, ist mir entfallen.
Bei den Vorbereitungen zu diesem Stücke wurde mir eine Aufklärung niederschlagender Art. Der Geschäftsträger des Herzogs von Dalmatien, Monsieur d'Imbert, ein feiner, schöner Franzose, war gerade, wie alljährlich mehrere Wochen geschah, zum Besuche auf dem Amte. Er hatte schon früher einige unserer Darstellungen gesehen und sich dabei leidend verhalten. Diesmal aber griff er tätig ein. Das Stück sollte im Rittersaale gegeben werden, bedurfte also der Lampen. Da sah ich des Abends kurz vor dem Beginn, als ich schon mein arkadisches Gewand trug, Monsieur d'Imbert still umhergehen und die angezündeten Lampendochte herabschrauben, so daß der Schauplatz fast von des Oheims ägyptischer Finsternis erfüllt wurde. Man achtete nicht auf die Sache, und das Stück nahm seinen halbunsichtbaren Verlauf.
Ich fragte am andern Morgen Monsieur d'Imbert um den Grund seines Verfahrens und erhielt zur Antwort, daß man immer zwischen den Darstellungen durch Künstler und denen durch Dilettanten unterscheiden müsse. Bei den ersteren könne es nicht hell genug sein, bei den letzteren aber liege es im wohlverstandenen Interesse Aller, wenn man so wenig als möglich davon sehe. Monsieur d'Imbert gab diese Erklärung ohne alle Satire in der größten Höflichkeit; mich aber verletzte sie doch sehr, denn ich hatte mit allen Übrigen gemeint, daß wir unsere Sachen so meisterhaft machten, um den großen Kronleuchter des Théatre fran[,c]ais nicht scheuen zu dürfen. Nachmals, wenn ich die Gesellschaftsbühnen bei Hoch und Niedrig sah, mußte ich oft an Monsieur d'Ibert und seine Lampenlöschungstheorie denken.
Der neueren Kunstentwicklung gehörten dagegen mimisch-plastische Darstellungen an. Wir beschränkten uns nicht wie die Händel-Schütz ****) auf einzelne Sphinxe, Karyatiden, Madonnen und Magdalenen, sondern führten ganze Gedichte in dieser Manier auf. Lichtwers Die Fabeln des Halberstädter Regierungsrats Lichtwer (1719-1783) waren um jene Zeit sehr bekannt. Das ganze Gedicht lautet:

Der blinde Eifer.


Tier'und Menschen schliefen feste,
selbst der Hausprophete schwieg,
als ein Schwarm geschwänzter Gäste
von den nächsten Dächern stieg.

In dem Vorsaal eines Reichen
stimmten sie ihr Liedchen an,
so ein Lied, das Stein' erweichen,
Menschen rasend machen kann.

Hinz, des Murners Schwiegervater,
schlug den Takt erbärmlich schön,
und zwei abgelebte Kater
quälten sich, ihm beizustehn.

Endlich tanzen alle Katzen,
springen, lärmen, daß es kracht,
zischen, heulen, sprudeln, kratzen,
bis der Herr im Haus erwacht.

Dieser springt mit einem Prügel
in dem finstern Saal herum,
schlägt um sich, zerstößt den Spiegel,
wirft ein Dutzend Tassen um.

Stolpert über ein'ge Späne,
stürzt im Fallen auf die Uhr
und zerbricht zwei Reihen Zähne.
Blinder Eifer schadet nur!

„Tier und Menschen schliefen feste,
selbst der Hausprophete schwieg,
als ein Schwärm geschwänzter Gäste
von den nächsten Dächern stieg ...“

bot einen Reichtum von Katzenmotiven dar; Schillers „Handschuh“ gab Gelegenheit, höhere Richtungen höherer Tierwelt vorzuführen. Im ersten dieser Gemälde spielte der Oheim den vom Katzenlärmen erwachten Hausherrn, der mit einem Prügel im finstern Saale umherspringt; im letzten saß er als König Franz vor seinem Löwengarten und winkte voll ruhiger Hoheit mit dem Finger. Zu keiner anderen Rolle wollte er sich in diesem Gedichte bequemen. „Wenn ich eine von den Bestien machte, so verlöre ich ganz den Respekt bei Euch,“ sagte er.



*) Die Schäferpoesie führt in eine künstliche Welt, die man nach einer griechischen Landschaft Arkadien nannte: hier erträumte man sich ein idyllisches Naturleben von höchst liebenswürdigen und zierlichen „Schäfern“ und „Schäferinnen“, denen griechische Namen beigelegt wurden. Man hat diese Mode in der griechischen, lateinischen, italienischen und deutschen Literatur gehabt, auch in der Malerei [Watteau] und bildenden Kunst [Meißner Porzellan]. Sie reicht in Deutschland etwa von 1625-1777; noch bei dem jungen Goethe finden wir Schäferlieder und auch ein Schäferstück: „Die Laune des Verliebten“. Onkel Yorick wird zumeist an Gellerts Dramen gedacht haben.
**) In Griechenland ein Zeitraum von vier Jahren, nach den alle vier Jahre wiederkehrenden olympischen Spielen genannt.
***) Bei Aspern siegten am 21. und 22. Mai 1809 die Österreicher unter Erzherzog Karl über Napoleon.
****) Die Schauspielerin Henriette Händel-Schütz (1772-1849) war die erste, die öffentliche mimisch-plastische Vorstellungen gab.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons