Abschnitt. 2

Alles dieses vollbringt sich vor dem Antlitz des Feindes, während seine Heersäulen das Land durchziehen und Schwärme von Kundschaftern bestellt sind, jeder bedenklichen Regung aufzulauern. Sie sehen den „Tugendbund“*), sie sehen diesen und jenen Verdächtigen, aber sie übersehen das Größte, Verdächtigste!
Welchen Teil an dieser Schöpfung des Schweigens die wirkenden Persönlichkeiten im einzelnen gehabt, wie die inneren Bezüge ihrer Arbeit zu- und aufeinander gewesen, inwiefern der Zufall ihr Schaffen gehemmt oder gefördert, das wahr und erschöpfend darzulegen, ist vielleicht die Stunde noch nicht gekommen; gewiß aber würde meiner Feder jedes nähere Schildern nicht gelingen. Ich nenne also nur die Namen: Stein, Hardenberg, Scharnhorst, Boyen, an welche sich die Ausbeute des erhabenen Werks in ihrer ungeteilten Fülle knüpft.
Die Zeit ist eisern, der goldne Schmuck verschwindet, und eherne Zierraten tragen Frauen und Jungfrauen. Aber wie jeder Einzelne leide und darbe: er sieht, daß sein Monarch in würdevollem Dulden, in opfernder Entsagung Allen das glorreichste Beispiel gibt. Der letzte Schlag, an dem sich diese Tugend bewähren soll, bricht über das Haupt des Königs herein. Die Königin stirbt, als der Überwältiger, nach dem Feldzuge in Österreich auf dem Gipfel seiner Macht stehend, nur noch schlecht verhehlt, daß er die völlige Vernichtung des ihm widerwärtigen Staates sinne.
Endlich war der Zorn des Geschicks versöhnt. In allen den aufgehäuften Brennstoff heißer Wünsche, heftiger Vorsätze, geheimer Zurüstungen, verborgener Vorbereitungen, wagemutiger Bündnisse fiel wie ein zündender Funke die Post von dem ungeheuern Ereignisse in Rußland. Die Wirkung war eine magische; wer die Grenzen kennt, die jeder Darstellung gesetzt sind, fühlt, daß kein Wort den ganzen Gehalt jener Tage wiedergeben kann. Wunderbare Bilder schwebten den Menschen vor, seltsame Träume umspannen sie; die Welt war wie von einem Fieber geschüttelt, aber in den Schauern dieses Fiebers spürte Jeder die Entscheidung des langen Übels. Alles erwachte, regte sich, fühlte die Zuckungen der von Grund aus annahenden Verwandlung. Zwischen den Gewöhnungen des alten Elends und dem Aufsprießen junger Hoffnungen ergaben sich tiefgreifende, schneidende Widersprüche. York, ein Charakter, wenn es je einen gegeben hat, wirft durch die Konvention von Tauroggen“**) zuerst den Keim fester Gestaltung in dieses Chaos. Er wird verurteilt, aber schon hat sich die Erwartung der Nation seinem Schritte angeschlossen, und sie berührt der Spruch des Kriegsgerichtes nicht.
Am 3. Februar 1813 sagt der Kanzler im Namen seines Herrn aus, daß der Staat in Gefahr sei, und ruft die Freiwilligen auf. Der Feind wird noch nicht gezeigt, aber Jeder sieht ihn.
Endlich, am 17. März, spricht der König selbst zu seinem Volke. In dieser Anrede, die nie vergessen werden wird, sind die Worte Taten, weil in jedem Worte nur eine Wahrheit laut vom Throne herab verkündet wird, welche Millionen schon seit sechs Jahren sich zugeraunt hatten. Wie wenn die Herstellung eines schönen Heldenbildes beschlossen ward, Meißel und Hammer hinter der bergenden Umhüllung lange daran arbeiteten, endlich aber der Mantel fällt und dem entzückten Volke die verehrte Gestalt neu leuchtend entgegenstrahlt, so fiel am 17. März vor dem Bilde Borussias die Umhüllung zusammen, und hergestellt, frischen Glanzes, erregte es wieder das Staunen und die Freude der Welt.
Schon bei Groß-Görschen bestehen die Freiwilligen mit ihrem Blute die Waffenprobe. Scharnhorst fällt, aber die Saat, die er geheimnisvoll säen helfen, geht über seinem Grabe auf. Macdonald erfährt an der Katzbach, Oudinot bei Groß-Beeren, Ney bei Dennewitz, was die Landwehr sei. In dem grauen Feldmarschall (Blücher) ist der Geist Preußens am gewaltigsten rege, in seinem Verhältnis stehen die Geschicke Preußens gleichsam zutage. Er wetteifert mit dem großen Feinde nicht in dem Elemente, in welchem dieser mit Meisterschaft zu walten weiß, er stellt ihm vielmehr ein ganz neues entgegen, auf welches der Gegner sich nicht versteht und woran zuletzt dessen Zauber alle zerbrechen. Wie man von Napoleon sagen kann, daß seine Kriege eine politische Färbung hatten, und wie in der Politik immer nur der glückliche Erfolg einen Schritt weiter bringt, so läßt sich von Blücher behaupten, daß er den Krieg wieder zu einer Art von persönlichem Zweikampfe im größten Maßstabe zu veredeln wußte. In einem rechten Zweikampfe aber auf Tod und Leben, wie dieser war, tritt nicht eher die Entscheidung ein, als bis der Eine sterbend am Boden liegt oder ihm der Degen aus der Hand geschlagen ist. Wunden und Nachteile in den einzelnen Gängen tun dem Tapfern da nichts an! Charakteristisch wird es bei unsrer Vergleichung, daß der eine Feldherr aus der Artillerie, der berechnetsten und berechnendsten Waffengattung, der andere aus der Reiterei, der ritterlichsten, hervorgegangen war. Wie der Feind durch Überfall, durch Konzentrierung unwiderstehlicher Massen auf einen Punkt zu wirken versteht, so weiß unser Held mit überraschten oder zerstreutlagernden Truppen zu siegen oder den Widersacher zu ermüden oder mindestens die Ehre des Kampfes auszulösen.
Und in einem Zuge ist er unvergleichlich, und dadurch hat er die Feinde am nachhaltigsten in Verwirrung gesetzt: in dem Zuge, daß keine verlorne Schlacht seinen Entschlüssen etwas anhaben konnte. So leistet er denn etwas nie Dagewesenes, nämlich daß er, auch geschlagen, unaufhaltsam immer vorwärts dringt. In der Champagne hart mitgenommen, vor dem Walde von Etoges beinahe aufgerieben, beschließt er, dem Kriege auf eigne Hand in Paris ein Ende zu machen. Er behauptet sich bei Laon und steht wenige Wochen später auf dem Montmartre. Ja, als sollte sich am Ende dieser rühmlichen Bahn ihr Gesetz noch einmal in der glänzendsten Figur verkörpert zeigen: bei Ligny schleudert das verwundete Roß den Dreiundsiebenzigjährigen auf den Boden, er aber erhebt sich von diesem Sturze nur zu dem Siege von Belle-Alliance, jenem Riesen zu vergleichen, der von der Berührung seiner Mutter gedoppelte Kräfte empfing***). Uns aber ergreift bei der Betrachtung dieser Heroengestalt die freudige Rührung, welche für den wohlgesinnten Menschen nie ausbleibt, wenn er sieht, wie aus dem Schoße der Natur einmal etwas Ganzes, Großes, Unvermischtes, Urgewaltiges hervorwuchs.
Ist der alte Blücher der erdgeborne Mut, die erfolgbringende Tatkraft, so tritt in einem andern Kreise eine nach außen hin mit solchen Wirkungen nicht vergleichbare, innerlich aber ebenso bedeutende Potenz (Macht, Vermögen) jenes Kampfes besonders hervor. Die Jugend und Frische des deutschen Gesamtlebens war in seinen zartesten Nerven von der fremden Überziehung angetastet worden. Deutsches Denken, Sinnen und Dichten stand in Gefahr, mit der heimischen Sprache den fremden Lauten und dargeliehenen oder aufgedrungenen Geistesformen weichen zu müssen. Deshalb kämpfte die Blüte der Jugend aus dem Hörsaal, der Kirche, dem Lehrstuhl, der Gerichtshalle so begeistert mit; diese Jugend fühlte, daß das ganze Erbe unsrer großen geistigen Ahnen und die Zukunft des Geistes, welche ihr anheimfallen sollte, auf dem Spiele stehe.



*) Eine dem Könige und den obersten Staatsbeamten bekannte, im übrigen geheime Gesellschaft, die im Frühjahr 1808 in Königsberg entstand und sich rasch über alle preußisch gebliebenen Städte ausdehnte. Der Zweck war die sittliche und politische Erneuerung Preußens als Vorbereitung zur Abwerfung des französischen Jochs. Besonders wirkten seine Mitglieder auf Wiederherstellung der Armee und auf ein besseres Verhältnis zwischen Offizieren und Zivilisten, das bisher recht unfreundlich gewesen war. Im Dezember 1809 mußte der König nach Napoleons Willen den Tugendbund verbieten; die einander bekannt gebliebenen Mitglieder waren jedoch bis zum offenen Kampfe gegen Napoleon dessen Vorbereiter.
**) In dem Dorfe Poscherun bei Tauroggen (im russischen Gouverment Kowno) schloß Graf York am 30. Dezember 1812 mit dem russischen General Diebitsch eigenmächtig einen Neutralitätsvertrag; damit traten die bisherigen preußischen Hilfstruppen Napoleons auf die Seite seiner Gegner.
***) Nach der griechischen Göttersage war der Riese Antaios, Sohn des Meergotts Poseidon und der Gaia (Erde), unüberwindlich, weil er von jeder Berührung mit seiner Mutter neue Kraft gewann. Herkules mußte ihn deshalb in der Luft halten, um ihn zu erwürgen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons