Abschnitt. 1

Preußens Fall nach der thüringischen Doppelschlacht*) wird, solange es eine Geschichte gibt, zu ihren furchtbarsten und warnendsten Ereignissen gezählt bleiben. Am vierzehnten Oktober kämpfen die Heere im Herzen Deutschlands, einen Monat später suchen ihre Reste, hundert Meilen rückwärts, sich an der Warthe und Weichsel im Felde zu erhalten. Acht Tage liegen zwischen einem Glanze, dessen Trüglichkeit nur von wenigen Tieferblickenden erkannt war, und einer Finsternis, durch welche auch nur für die stärksten Gemüter noch ein ferner Lichtschimmer leuchtet.
Man hat in den damaligen Zeiten, wo Leidenschaft oder böser Sinn in den Wunden der zerfleischten Mutter zu wühlen liebte, hin und wieder gesagt, der unglückliche Staat sei den Leichen in manchen Gewölben zu vergleichen gewesen, welche, die äußere Form und Gestalt bewahrend, doch bei der ersten Berührung in Staub zerfallen. Nichts kann unrichtiger sein. Ein verwestes Reich besinnt sich nicht, wie Preußen tat, unmittelbar nach dem entsetzlichen Sturz auf gewaltige Lebenskräfte: ein heruntergekommenes und abgenutztes Volk würde etwas mehr als sechs Jahre bedurft haben, um von dem Zustande der Entkräftung zu dem Mute zu genesen, mit welchem der Schild erhoben wurde, als die Stunde gekommen war. Nein! Ein in seinem Kerne eigentlich gesunder und starker Staat fiel – fiel dennoch mit unglaublicher Schnelligkeit!
Hier gibt uns der Geist der Geschichte eine praktischere Lehre, als welche aus dem Gleichnisse von erhaltenen Leichen zu ziehen sein möchte. Denn daß Staaten und Völker im Laufe der Zeiten nach und nach altern und dadurch aus der Reihe selbständiger Existenzen verschwinden mögen, ist ein gemeines Schicksal, zu dessen Abwendung sich noch kein Mittel hat entdecken lassen. Aber daß es diesen großen, zusammengesetzten Wesen ebenso ergehen kann, wie einem einzelnen Menschen, der in aller Kraft daniederzuwerfen ist, wenn er sich Arme und Füße band oder sein Auge verhüllte oder auf schlüpfrigen, abschüssigen Grund trat, darin liegt eine Erfahrung, deren Wiederkehr zu vermeiden in unseren Kräften steht.
Wie auch Not, Elend und Trübsal sich von allen Seiten damals auftürmten, dennoch wurde die preußische Ehre aufrecht erhalten. Blücher kapituliert erst, als ihm Pulver und Nahrung für Mann und Roß ausgegangen ist; Lestocq entscheidet die Schlacht bei Eylau; Courbière antwortet, als der Parlamentär ihm vorstellig macht, der König habe seine Staaten verlassen: „Dann bin ich König von Graudenz.“**)
Schill entwickelt in seiner beweglichen Schar an der Ostsee die ganze unabschwächbare Elastizität, welche von jeher die beste Ausstattung unsres Reichs war; hinter Kolbergs Mauern taucht Gneisenau auf; Nettelbeck endlich zeigt vorbildlich, was der freie Bürgersinn vermöge, wenn man ihm zu schaffen gibt.
Der Friede zerreißt das Land: der Feind bleibt im Lande! Lasten von untragbarem Gewicht sollen jede Hoffnung dereinstigen Auferstehens daniederhalten.
Wenn sonst ein Krieg unter den Nationen der europäischen Christenheit auch durch entschieden unglücklichen Ausgang für die eine zum Abschluß kam, so pflegte nach dem Frieden dem Besiegten der Schirm der Verträge und die Stütze des Völkerrechts zu werden. In unserm Falle aber hat sich der Überwinder ein Andres ausgesonnen. Preußen ist ihm nichts als eine Beute, als ein blutiger Fetzen, den er mit dem Fuße im Staube hin und her stößt, wie es seinem Übermute gefällt.
Der Mann, von dem ich rede, gehört der Geschichte an, und nur die Sage kennt das Wunder und das Ungeheuer. Die Geschichte weiß allein von Menschen und von der Macht der Umstände. Auch Jener war ein Mensch, aus Gut und Böse gemischt und weit mehr von der Macht übergewaltiger Umstände zu maßlosen Taten entboten, als dieser Macht selbst gebietend. Das aber muß gesagt werden, daß er unser Vaterland und alle Empfindungen, die ein edler Sieger zu schonen pflegt, mit einer Grausamkeit behandelte, welche jemals zu vergessen allem richtigen Selbstgefühle widersprechen würde. Er bleibe uns daher in Gutem und Bösem erinnerlich. Wir wollen seine Großtaten von der Brücke bei Lodi bis zu den Schanzen an der Moskwa und die Kraft, mit welcher er Frankreich im Innern auferbaute, im Gedächtnis behalten, aber daneben wollen wir uns auch an die Schmähungen auf die Königin, an die Beleidigungen bei dem Vertrage von Tilsit, an die Besetzung der Oderfestungen, an die Kontribution von einhundert Millionen Talern und an den Raub der polnischen Kapitalien***) erinnern.
Und noch an ein Zweites werden wir uns zu erinnern haben. Der Sohn und Held der Revolution stellte in diesen Unbilden, soweit sie nicht seinem rachsüchtigen Ingrimme entsprangen, doch nur den Egoismus und Stolz des Volkes, welches seit lange für das erste gelten zu wollen sich angewöhnt hatte, im größten Maßstäbe dar. Diese Eigenschaften aber gehören, wenn wir nicht oberflächlichen Reden, sondern unsern gesunden Augen und Ohren glauben, noch keineswegs der Geschichte, vielmehr der lebendigen und gegenwärtigen Wirklichkeit an.
Indem der Eroberer alle Rettungsmittel abschneidet, hat er nur eins übersehen, zum Glück ist es das sicherste: die Kraft großer sittlicher Entschlüsse. Der König umgibt sich mit Räten, würdig des Vertrauens, welches der reine Wille der Majestät in sie gesetzt hat, und gewachsen jener äußersten Krisis des Staats. Es beginnt nun etwas, was, in solcher Ausdehnung unter solchen Schwierigkeiten gelungen, ohne Beispiel sein möchte. Einem geschlagenen Heere wird ein würdiges Bewußtsein eingehaucht; die Ausländer verschwinden; der Gedanke der Landesbewaffnung kommt auf, und weil nur Vierzigtausend unter den Waffen stehen sollen, so wandern nach und nach, indem man immerfort entläßt und aushebt, Hunderttausend in Bauer- und Bürgerröcken umher. Das Eigentum wird in die fleißige Hand gegeben, die morschgewordene Fessel der Zünfte gesprengt, dagegen dem wichtigsten Herde des neueren Lebens, der Stadt, zeitgemäße Gestalt und Gliederung zugeteilt. In die Ämter kommt der Tüchtigste, sei er so oder so geboren. Fichte hält mitten unter den Gewalthabern in Berlin seine Reden an die deutsche Nation. Und damit der Patriot die letzte Versicherung erhalte, daß die Regierung die Wiedergeburt des Staats in der unsterblichen Region des Geistes vollenden wolle und gewissermaßen den Schlußstein des Baus damit empfange, so ersteht unter Finanz- und Verwaltungsnöten aller Art auf dem zitternden, dampfenden Boden die neue Hochschule (Die Universität Berlin wurde 1810 begründet) in der Hauptstadt.



*) Am 14. Oktober 1806 wurde gleichzeitig zwischen Jena, Apolda und Weimar und etwas nördlich bei Auerstädt gekämpft. Die Schlacht heißt deshalb oft die bei Jena und Auerstädt.
**) Dies Wort wird bis zum heutigen Tage fälschlich zitiert. Courbière erwiderte auf das Wort des Franzosen, es gebe keinen König von Preußen mehr, nicht: „Dann bin ich König von Graudenz“, sondern: „So gibt es doch noch einen König von Graudenz“, womit er König Friedrich Wilhelm den Dritten meinte.
***) Die Polen erhofften von Napoleon Wiederherstellung ihres Königreichs; er bildete auch im Frieden zu Tilsit ein „Großherzogtum Warschau“ und machte den König von Sachsen, der schon oben wiederholt erwähnt ist, zum erblichen Großherzog. Aber der neue Staat mußte ihm sogleich für 20 Millionen Franken Nationalgüter zu Schenkungen an seine Feldherrn abtreten und wurde auch sonst wie eine eroberte französische Provinz behandelt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons