Abschnitt. 1

Es gibt kritische Naturen, welche einen kitzelnden Trieb in sich fühlen, durch Zerstörung bauen, durch Vernichtung beleben zu wollen. Stets in Opposition mit dem Bestehenden, unternehmen sie, ein Neues an feine Stelle zu setzen, und täuschen sich immerfort über das Material, welches sie zu ihrer Schöpfung gebrauchen. Sie sind Architekten, welche aus Schutt Paläste errichten zu können meinen.
Was bei dem Einzelnen als vermeidlicher Irrtum erscheint, das ist in kritischen Zeiträumen unabtreibbare Last des Geschicks. Ist ein Menschengeschlecht endlich dahin gestoßen worden, eine Revision seines Gesamtzustandes vornehmen zu müssen, so kann es bei dem bloßen Läugnen und Aufheben nicht stehen bleiben, denn die Gemeinschaft will zu allen Zeiten positive Stützen haben. Diese pflegen dann fälschlicherweise in entgegengesetzten Begriffen gesucht zu werden, da doch das Neue, wahrhaft Lebensfähige nur aus völlig neuen oder umgewandelten Persönlichkeiten entspringen kann.
Die Französische Revolution ist der neueste kritische Prozeß der Weltgeschichte. Sie war in allen ihren Stadien Kritik, Metakritik (Kritik, die eine andere Kritik kritisiert) .
Auch in Napoleon ist nur der Kritizismus der Revolution unbesieglich, urkräftig. Meisterhaft weiß er das Schwache in seine Nichtigkeit zu werfen. Wie er Spanien seiner Herrscherfamilie beraubt, wie er Preußen zu moralischem und physischem Falle bringt – diese Taten wird zwar die öffentliche Moral stets ächten, der Verstand wird sich aber nicht entbrechen können, sie als die größten Würfe kombinatorischen Scharfsinnes, leisen Wartens, blitzschnellen Zufahrens zu bewundern. Eine Kritik des Nichtigen ist daher seine Stärke. Die Nichtigkeiten der früheren europäischen Verhältnisse kritisch beleuchtet zu haben, scheint mir sein welthistorischer Nutzen zu sein.
Dagegen ist alles Tiefste, Wahrste wie zugedeckt vor seinem adlerscharfen Auge. Was über die Einsicht in das Schlechte oder über einen glänzenden Irrtum in den öffentlichen Verhältnissen hinaus liegt, verhöhnt er mit dem selbstgeschaffenen Worte „Ideologie“. –
Die seltsamsten Mittel braucht er, sich den Grund unter seinen Füßen zu schaffen. Weil England ihn nicht anerkennen will und der Tag von Trafalgar gewesen ist, so muß er freilich Alles, was nur von fern wie englisch Schiff und englische Flagge aussieht, aussperren, muß dem beharrlich skeptischen Feinde in Portugal, Spanien, Illyrien, an den Mündungen des Rheins, der Weser, Elbe, Trave begegnen. Er redet aber dem Kontinente vor, durch den Verkehr mit England sei er verarmt und unglücklich – dem Kontinente, welcher bei englischem Zucker und Kaffee es sich hatte so ziemlich wohl sein lassen. Und weil er nicht Napoleon der Zweite ist, soll Karl der Große sein Thronlasser sein. In dieser Erfindung zeigt sich am meisten die Trocknis, zu welcher die Phantasie des großen Geistes durch den ihm einwohnenden mathematischen Bestandteil hin und wieder herabgebracht wurde. Sie ist ein dürres Additionsexempel, in welchem noch dazu eine Null zählen soll. Denn arithmetisch ausgedrückt, lautet sie: Die untergegangene französische Monarchie + Napoleon = dem zweiten Charlemagne. Er bedachte nicht, daß ein Genie zwar eine alte Institution neu beleben kann, wie der große fränkische König mit dem abendländischen Kaisertume wirklich getan, nie aber ein früheres Genie fortsetzen wird, weil alle solche höchste Kapazitäten exklusiver Natur sind. Auch wirkte dieser Einfall am wenigsten, was er in der Welt wirken sollte; er brachte vielmehr eine entgegengesetzte gefährliche Ahnung zum Durchbruch. Man fragte, warum Karl der Große erobert habe? Und antwortete: Zum Teil wenigstens deshalb, weil er aufrührerische Vasallen züchtigen, die Christenheit vor den Einfällen der Sarazenen, vor den Neckereien der Sachsen und Slawen schützen mußte. Man fragte, warum Napoleon erobere, und begann zu vermuten, daß ihn seine mißliche Position den unruhigen Franzosen gegenüber dazu auch gleichsam zwinge. Eine Meinung, welche der Meinung von seiner Allgewalt ungünstig war.
Doch wir haben es hier weniger mit dem Riesen als mit seinem Schatten zu tun. Der Schatten des Riesen war der Despotismus.
Zwar hat man den Schatten leugnen, Napoleon gleichsam zu einem ungeheuren Peter Schlehmihl machen wollen*). Nachdem der Haß und Abscheu sich an ihm ersättigt hatte, begann eine kindische Vergötterung vor ihm zu keimen. Er war nach der Meinung mancher Menschen eigentlich ein durchaus guter und braver Mann gewesen, ein Apostel vernünftiger, gemäßigter Ideen; man begriff schwer, warum dieser sanfte Charakter nicht Landprediger geworden war. In ähnlicher Art sprach er selbst von sich zuweilen auf seinem Felsen, freilich wohl nur, um sich einen Spaß mit seiner Umgebung zu machen.
Die richtige historische Mitte über jenem Haß und Abscheu, und über dieser Vergötterung wird wohl nicht mehr verrückt werden können. Napoleon war ein Despot. Es ist abgeschmackt, beweisen zu wollen, daß das Feuer brenne und das Wasser nässe. Ich erspare mir daher die gleich abgeschmackte Mühe, Napoleons Despotismus zu beweisen. Wer jene Zeit noch mit Bewußtsein durchlebt oder wer auch nur einige Zeilen Geschichte gelesen hat, weiß daß in ihr Alles unsicher, depraviert (verschlechtert, erniedrigt), vereitelt und das Meiste auch verkäuflich war, daß die Schmeichelei sich an die Stelle der Gesinnung gedrängt hatte, daß den Schwachen und Schlechten wohl, den Starken und Guten übel zumute war, und daß alles dieses von dem Einzigen herrührte, der nichts an seinem Platze gelassen hatte. Mit diesen Sätzen muß ich meine Beweisführung für geschlossen erklären, habe ich zugleich schon bewiesen, daß Napoleons Despotismus ein schlechter war.



*) Der „Schatten des Riesen“ und „Peter Schlehmihl“ sind Anspielungen auf Goethes „Märchen“ von 1795, dessen Deutung seitdem Viele beschäftigte, und auf eine Erzählung Chamissos von 1814.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons