Abschnitt. 2

Regelmäßig hörte ich Schütz*) über Horazens „Episteln“ und die „Frösche“ des Aristophanes. In diesem Kollegio stellte sich gleichfalls zu jeder Stunde ein feiner, blasser Mann im erbsengelben Oberrock, das Buch wie wir anderen Schüler unter dem Arme, ein, der uns am Abend als Posa, Don Manuel, Wiburg, Klingsberg hinriß oder lachen machte. Es war Wolf, der Beste und Gebildetste der weimarischen Schauspieler.**)
Es ist wahr und muß immer wiederholt werden: die Deutschen hatten in jenen Leidensjahren nur in ihrer großen Dichtung das Evangelium, welches sie zur Gemeine machte, sie über der materiellen Not, über dem Verlieren in eine wüste Verzweiflung emporhielt. Namentlich sind Goethe und Schiller die beiden Apostel gewesen, an deren Predigt sich das deutsche Volk zu Mut und Hoffnung auferbaute. Es ist mehr als sündlich, wenn man dieses unsterbliche Verdienst nachmals hin und wieder in stumpfsinniger oder heuchlerischer Mäkelei hat vergessen werden wollen. Die „Evangelische Kirchenzeitung“ und die mit ihr trollende Lämmleinsbrüderschaft hat den beiden ihr Heidentum aufgestochen, und Mancher meint etwas recht Kluges gesagt zu haben, wenn er von sich gibt, daß Goethe doch keine Religion habe. Er hatte die Religion, ein großer Mann zu sein und den Ausländern Bewunderung abzuzwingen, während wir Anderen vor ihnen im Staube knirschten!

Das Verhältnis, in welches sich die Jugend zu den großen Schriftstellern setzte, war ein leidenschaftlicher Liebesbund. Das junge Alter pflegt eine richtige Ahnung von dem Höchsten zu haben, was gerade in der Zeit da ist. Die Ersten lebten noch zum Teil, und das tat auch viel, denn das Tote ist abgeschlossen und fällt der Betrachtung anheim, das Lebendige weiset aber immer in eine unendliche Zukunft hin, der Nerv der Bewegung wird von ihm affiziert (berührt, beeinflußt.) . Sie kamen uns wie Heilige vor, deren leuchtende Fußtapfen zu sehen schon das höchste Glück gewesen wäre. Von Kritik war unter diesen Jünglingen nicht die Rede. Eine beschränkte Lehre machte die Seele nur um so lechzender, am Quell der Poesie sich zu berauschen, wenn sie einmal zu ihm hinangeleitet worden war. Auch war der Blick nicht zerstreut, die Literatur bot dem geistigen Auge die einzige Weide. Von der bildenden Kunst, welche jetzt Viele ableitet, sprach Niemand.
Am gewaltigsten unter Allen wirkte aber doch Schiller, während Goethe uns mehr ein Gott in unendlichem Abstande blieb. „Faust“, der jetzt das Haupt- und Grundbuch der Jugend geworden ist, regte uns eher Schreck als Freude an. Ich erinnere mich noch des eigenen Fröstelns, mit dem ich Mephistopheles und die Meerkatzen zum ersten Male gedruckt las. Einer unserer Lehrer sagte, es solle das größte Werk Goethes sein, man könne es nur leider nicht verstehen.
Schiller hat das ganz eigentümliche Genie besessen, scheinbar die Gestalten der Welt heranzubeschwören und sie doch so im Feuer des Begriffs wieder aufzulösen, daß sie Schatten glichen, die nun ein Jeder erst mit seinem wärmsten Herzensblute tränken mußte, um die edeln bleichen Lippen für sich zum Reden zu bringen. Schillern ist die Welt dunkel, und in dieser Dunkelheit läßt er einige Figuren ohne individuelle Züge, aber von glänzender Durchsichtigkeit erscheinen. Gerade diese erhabene Transparentmalerei war es aber, was dem Sinne der damaligen Jugend am mächtigsten zusprechen mußte. Das frische Gefühl der Menschheit verlangt nach Gestalten, es mag aber nicht gern seine noch große Reizbarkeit durch ihren Realismus belästigen lassen. Damals nun bedurfte der auf allen Seiten von der kolossalsten Wirklichkeit umdrängte Sinn nur noch mehr des poetischen Widerhalts, den ihm diese großen und doch leichtfaßlichen Transparente gaben. Obgleich die Empfindsamkeit noch nicht der Jugend verschwunden war, so konnte doch die Poesie jener Stimmung unter so historischen Umständen in uns nur die zweite Stelle einnehmen, und deshalb ist erklärlich, weshalb „Werther“ uns nur in geringerem Grade berührte, selbst hinter Klopstocks tönenderen Freundes- und Liebesworten zurückstand und erst unsere reifere Zeit entzücken sollte. In Schiller traf nun aber Alles zusammen, was wir begehrten; gleichsam eine historische Sentimentalität wehte uns aus ihm entgegen. Seine voll hinrauschenden Worte prägten sich fast ohne Absicht, sie zu behalten, dem Gedächtnisse ein; das Gedächtnis ist aber die erste Kraft, welche im Menschen sich ausbildet. Wird man mich mißverstehen, wenn ich sage, ich halte es für das Hauptverdienst Schillers, der größte Jugendschriftsteller der Nation geworden zu sein?
Unsere Begeisterung für ihn ging aber bis zur Andacht. Es war uns wunderbar, daß ein solcher Mann hatte sterben können. Das Bewußtsein, daß sein Tod erst vor wenigen Jahren erfolgt sei, schärfte noch die mythische Empfindung, von welcher Jeder in seinem Privatgeschicke ein Analoges erlebt, wenn nun ein Geliebtester soeben abgeschieden ist und die an den Verlust noch nicht gewöhnte Seele aus ihren Tränen und aus ihrer Sehnsucht, aus den Kleidern des Dahingegangenen, aus den Spuren seines Wirkens, aus Allem, was seine Hand berührte, noch eine Zeit lang die teure Schattengestalt sich zusammenwebt. So schritt uns Schiller als Schatten noch umher, denn er war ja in der Mitte seiner Laufbahn hinweggerafft worden, und wir sagten uns, daß wir, wenn er das gewöhnliche Lebensalter erreicht hätte, ihn dereinst von weitem gesehen haben würden.
In einer unserer Zusammenkünfte, es mochte sieben Jahre nach seinem Tode sein, als wir wieder einmal über ihn sprachen, rief einer plötzlich aus: „Wenn er noch lebte, wollte ich gern einen Finger meiner rechten Hand darum geben!“ – Dieser Eifer blieb nicht ohne Nachahmung. Ein Zweiter setzte die Hand, ein Dritter beide Hände daran. Der Enthusiasmus wuchs und sprach sich in immer größerem Erbieten zu Verstümmelungen aus, so daß, wenn man die Gliedmaßen, welche aufgegeben werden sollten, zusammensummiert hätte, der ganze Kreis zum wenigsten einen vollständigen Menschen eingebüßt haben würde.
Man kann diese Szene lächerlich finden und zweifeln, ob der Opfermut stark genug gewesen wäre, sich beim Worte nehmen zu lassen; indessen ist es doch immer schön, wenn die Jugend ihre ersten Aufregungen von starken, positiven Geistern empfängt.



*) Christian Gottfried Schütz (1747-1832), von 1779-1804 in Jena, danach in Halle Professor der Poesie, Literaturgeschichte und Beredsamkeit. Großen Einfluß hatte er durch die von ihm 1785 begründete Allgemeine Literaturzeitung.
**) Pius Alexander Wolf, Goethe betrachtete ihn als seinen eigentlichsten Schüler. Uns Heutigen tritt er noch nahe als Textdichter der ›Preziosa‹, z.B. durch sein Lied „Die Sonn' erwacht“.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons