Abschnitt. 1

Zwischen der Schule und Universität ist eine große Kluft. Den Sprung vom erzwungenen zum freien Lernen macht niemand, ohne daß eine Entwicklungskrankheit ihn befiele. Diese bestand in jenen Zeiten für die Meisten, nämlich für diejenigen, welche nicht berufen waren, dereinst als Lehrer der Nation zu glänzen, in dem sogenannten Burschenleben. Es ist untergegangen, weil die Freiheit, deren Surrogat es war, begonnen hat, selbst in das deutsche Leben einzusickern. Die Studenten sind auch jetzt noch vergnügt oder dissolut (aufgelöst, ungebunden), sie glauben aber nicht mehr, daß ihre Possen oder Ausschweifungen in ein System gebracht werden müßten.
Das Burschenleben war ein ausgebildetes Nichtstun, eine Tabulatur*) phantastischer Gesetze, von Müßiggängern für Müßiggänger gegeben, ein problematischer Staat, in welchem kindische Tätigkeit, kindische Ehre, kindische Tapferkeit regierten nebst einiger wahren Freundschaft, Hingebung und Brüderlichkeit. Es war die deutsche Komödie, der nationale Schwank. Die mittleren Köpfe füllten damit ihre Zeit aus, bis das Gespenst des Examens herandrohte und sie zu den Studien scheuchte, zu dem Studium, welches damals für die Mehrzahl noch keinen verächtlichen Nebenbegriff hatte.
Dies war das Brotstudium. Es ist jetzt mit Recht verrufen und wird nur gleichsam illegitim geliebt. Damals galt es als das ganz ehrenvolle; es war schon ein besonderer Luxus, wenn der Jurist, der Theologe, der Philologe sich noch mit Lehrvorträgen außer seinem „Fache“ befaßte. Die Meisten blieben in der Trainkolonne, die unmittelbar zum Amte fuhr, und empfingen, was auf diesem Wege ihnen als Proviant zugemessen wurde.
Allerdings gab es zwischen den künftigen Lehrern der Nation und den Handwerksköpfen auch noch eine zahlreiche Klasse, welche durch die eigentlich bildenden Disziplinen erregt blieb. Diese Klasse hat einen höchst achtbaren Bestandteil der nachherigen Männer geliefert.
Im April 1813 bezog ich die Universität Halle. Mein Vater hatte in dem sehr richtigen Gefühle, daß Lebensabschnitte die besten Früchte tragen, wenn der neue Boden unvermischt gelassen wird, festgesetzt, daß ich ein ganzes Jahr lang nicht nach Hause kommen und die ersten Ferien zu einer Reise nach Thüringen und Franken benutzen solle.
Die Honigmonate meiner jungen Freiheit waren süß. Nach Giebichenstein und Crellwitz wurde allabendlich gepilgert, die Saale in Kähnen, die nicht viel breiter und sicherer waren als die Kanus der Wilden, bis zur Höltybank befahren. Zwischen den grünen Büschen des Giebichensteiner Gartens oder unter den Felsen von Crellwitz lagerte sich die junge Horde, seelenvergnügt bei der schmälsten Kost, und dort ging uns Tiecks**) Gestirn auf, welches wir eben kennen gelernt hatten und das uns mit unsäglicher Freude erfüllte. Wirklich stieg da die wundervolle Märchenwelt uns auf in der alten Pracht, und wie oft stürmten wir jauchzend über den Jäger im Runenberg, über den Kater, die Studenten Löwe und Tiger, das Rotkäppchen und den König Gottlieb in „mondbeglänzter Zaubernacht, die den Sinn gefangen hielt“, heim!
Über diese Anregungen hinaus ragte noch eine andere Erscheinung der edelsten Schönheit. Die weimarische Gesellschaft***), damals in der höchsten Blüte, spielte in Halle, und so erlebte ich etwas, was unschätzbar in eines Menschen Geschick ist; nämlich, der völlig offene und unentweihte Sinn wurde gleich von einem Höchsten in seiner Art entzündet.
Ich fühlte mich seit meinen ersten Kinderjahren leidenschaftlich zum Dramatischen hingezogen; man kann aber nach dem bisher Erzählten sich wohl vorstellen, daß mir der Besuch des Schauspiels eben nicht reichlich verstattet wurde. Ich war bis zu meinem siebzehnten Jahre vielleicht drei- oder viermal im Theater gewesen, und nun wurde mir, der ich durch etwas Falsches noch nicht geirrt worden war, diese Offenbarung des Feinen, Würdigen, diese Musik des Vortrags, dieser Reigentanz des Gangs und der Gebärden, dieser Äther der Poesie, wodurch der große Dichter seine Anstalt zum Abdruck der eigenen harmonischen Brust gemacht hatte. Von Vergnügen war da nicht die Rede, sondern entzückt war ich und verzückt; die alte Kirche, worin man die Bühne eingerichtet hatte, war mir eine geweihte Halle.



*) Ungefähr: Hausordnung oder Statut, Gesetze für einen bestimmten Kreis. Die Meistersinger harten solche Tabulatur von Vorschriften für das Dichten, die viel verspottet wurden.
**) Immermann blieb zeitlebens ein großer Bewunderer Ludwig Tiecks, der damals gewissermaßen für Goethes Nachfolger auf dem Throne der deutschen Poesie galt; auch persönliche Freundschaft verband Beide.
***) Die weimarischen Schauspieler spielten in den Sommermonaten in dem damals viel besuchten Bade Lauchstädt bei Halle vor den Badegästen und den Hallischen Professoren und Studenten. Sie waren von Goethe und Schiller zu einer hohen Auffassung ihrer Kunst erzogen; Immermann deutet ihre Besonderheiten im Nachfolgenden an, deutet auch an, wie wichtig sie für ihn wurden. Er wurde nicht nur ein Dramatiker, der seine Stücke für ein solches Theater, wie das weimarische war, dachte, sondern er wurde später geradezu ein Nachfolger Goethes in der Erziehung der Schauspieler und des Publikums zu einem Theater höherer Art. Und wie Goethe Theaterintendant und Geheimer Rat war, so war Immermann in Düsseldorf freiwilliger Theaterdirektor und im Hauptberuf Landgerichtsrat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons