Abschnitt. 1

Mein Oheim Yorick*) wäre, hätte ihn ein Graf oder ein reicher Patrizier erzeugt, ihm die besten Lehrer gehalten und ihn nachher, mit Wechseln und einem Führer versehen, durch Europa reisen lassen, wahrscheinlich ein bedeutender Mann, gewiß wenigstens ein geistreicher Mäzen geworden. Da aber nur ein armer Schulrektor sein Vater war, den er noch als Knabe verlor, da er auf dem Hallischen Waisenhause über Tertia nicht hinausgelangen konnte, weil er sich sein Stückchen Brot suchen mußte, und da er dann in Europa nichts weiter zu suchen hatte als dieses Stückchen Brot, so wurde er eben nur mein Oheim Yorick.
Mein Oheim Yorick pflegte uns Kindern, nachmaligen jungen Leuten (denn seine Erzählungen blieben verschiedene Perioden hindurch dieselben) in seiner energischen Manier zu erzählen, er habe, als er Anno 1777 aus der Pforte des Hallischen Waisenhauses in die Welt getreten sei, um Ökonom zu werden, acht ostensible (zeigbare) Stücke in seiner Ökonomie besessen und mehr nicht, nämlich 1. einen runden, groben Hut; 2. einen Rock von schwarzem Kommißtuch; 3. eine Weste von demselben Stoffe mit zinnernen Knöpfen; 4. ein Paar kurzer, gelber, lederner Inexpressibles (Unausdrückbare = Hosen) (der Oheim nannte dieses Stück deutsch); 5. ein Paar schwarzer wollener Strümpfe; 6. ein Paar Hackenschuhe mit Zinnschnallen; 7. das Hallische Gesangbuch; 8. einen Kamm. – Von diesen acht Stücken habe er aber Nummer 7, das Gesangbuch, im ersten Wirtshaus liegen lassen, denn er sei sich noch mit Schauder bewußt gewesen, wie oft er daraus unter freiem Himmel bei Winterfrost, wenn ein Missionar vom Waisenhause entlassen worden, mit den anderen Knaben halbverklommen habe singen müssen.
Er hatte sich während seiner kümmerlichen Jugend durch Fleiß und Rechtlichkeit so empfohlen, daß die Sterne ihm auf einmal günstig zu schimmern begannen. Ihm wurde, als er noch in seinen besten Jahren war, die Pachtung eines großen Staatsgutes zuteil, welches unter der französischen Herrschaft in das Los des Herzogs von Dalmatien**) fiel. Sowohl der König von Preußen als der Herzog von Dalmatien waren ihm gelinde Pachtherren; man sah auf den sicheren Mann und nicht auf tausend Taler Pachtschillinge mehr. Er lebte daher wie ein Farmer von Old-England bequem und aus dem Vollen, sah seinen Weizen vom fettesten Boden mit Vergnügen einfahren, fuhr selbst in seinem Landauer spazieren und legte, wenn er einhundert Taler auf die Pacht einrollte, eine eben so große Rolle für sich zurück.
Er war ein sehr korpulenter Mann und trug in der Regel einen kornblumfarbigen Leibrock mit Messingknöpfen.
Er war der Tourist der Familie. Nach Leipzig zur Messe reiste er wenigstens alle zwei Jahre. Tief in Thüringen war er eingedrungen, ja sogar einmal bis nach dem Fränkischen hin geschweift, nach Bad Liebenstein. Dort hatte er einen innerlich illuminierten Berg***) gesehen, wie er sich ausdrückte. Auch zum Kongresse von Erfurt im Jahre 1808 war er gereist und mit den beiden Kaisern (Napoleon und Kaiser Alexander von Russland) im Theater gewesen, obgleich er zu dieser Freude sich in seidene Strümpfe hatte bequemen müssen, das erstemal in seinem Leben. Napoleon, sagte er, habe aus seinem Fauteuil nicht ein Auge von der Darstellung abgewendet, wovon die gleiche Aufmerksamkeit aller Zuschauer die Folge gewesen. „Wie Talma spielte,“ sagte er, „das war was Krasses!“ Er wollte damit die Erhabenheit des Spiels bezeichnen. Wir bekamen eine Nachahmung des berühmten Tragikers von ihm zu schauen, worüber uns vor Verwunderung die Haare zu Berg standen. In diesem wiederholenden Abbilde stach besonders der mit weit geöffneten Augen, zitternden Gesichtsmuskeln, donnernder Stimme vorgetragene Ausruf:
O mon père! hervor.
Allein er setzte seinen Reiseberichten hinzu: der Wein sei in den Gasthöfen geschwefelt, man bekomme darin nur enge und schlechte Betten, müsse von dem unausstehlichen Gedränge bei festlichen Anlässen leiden und freue sich, wenn man sein Haus wieder erblicke. Er reiste aus Pflicht, um der Gefahr des Versauerns zu entgehen.
Er liebte, seinen jugendlichen Zuhörern die ungeheuerlichsten Geschichten zu erzählen von ausgetretenen Bächen, von Wolkenbrüchen, von fremdartigem Getier, welches ihm in den Wäldern um sein Pachtgut aufgestoßen. Die alte Holzzelle, so hieß das Amt, war vor der Säkularisation****) ein Jungfrauenkloster gewesen; der Oheim hatte bei seinem Antritt ein zugeschüttetes Verließ aufnehmen lassen und darin wenigstens ein Dutzend Skelette von eingemauerten Nonnen gefunden. Schade, daß auch kein Knöchlein aufbewahrt geblieben war, da wir so gern etwas von diesen Schlachtopfern der Klosterzucht gesehen hätten!
Er besaß einen Brunnen, über dem ein eigenes Haus sich erhob, in den Felsen gehöhlt, nur mittels eines großen Tretrades zu benutzen, von wirklich schauerlicher Tiefe, aber dem Oheim genügte diese Tiefe nicht; er behauptete, es gehe da unten von dem abgründlichen schwarzen Wasserspiegel ein Kanal nach dem Süßen und Salzigen See bei Seeburg. Von Jahr zu Jahr versprach er, sich mit uns in den Abgrund hinunterzulassen und unter den Bergen weg nach den Seen zu kahnen. Es ist aber nie etwas daraus geworden. Endlich trug der Oheim zu öfterem außerordentliche Dinge von seiner Brautfahrt und Anwerbung vor, bei welcher Romanze jedoch die Tante, die eine sehr ernste und gehaltene Frau war, das Zimmer zu verlassen pflegte. – –
Ein jeder Mensch sollte billigerweise eine Jugend haben und seine Jugend genießen. Es ist einer der seltsamsten Mängel in einem Lebenslaufe, wenn der rechte Schimmer der ersten Tage fehlt; man kann sagen, daß alle späteren Bewegungen des Lebens dann etwas von den Zuckungen haben, die der Galvanismus hervorruft. Was für eine Jugend nun die hatte sein müssen, welcher die Ausstattung durch die acht beschriebenen Stücke zuteil geworden war, läßt sich unschwer erraten. Und gleichwohl hatte der arme Schelm im schwarzen Waisenhäuserrock empfunden, er habe Witz, Munterkeit, Sinne, Lust zu genießen, Drang zu lernen und zu erfahren. Glückliche Menschen hatten es sich vor seinen Augen an den wohlbesetzten Tafeln des Lebens schmecken lassen, er aber war genötigt gewesen, immer seitwärts vorbeizuschleichen und sich den Mund zu wischen. Ein ärgerlich-lustiger Humor, ein verdrießliches Lachen bemächtigte sich seiner Seele. Das Leben rumorte ihm in den Gliedern und warf sich ihm, da es keinen rechten Ausbruch tun durfte, auf die Nerven.



*) Scherzname Yorick nach Shakespeares ›Hamlet‹ und Sternes ›Tristram Shandy‹. Der wahre Name war Immermann, denn dieser Oheim war wie der Vater unseres Studenten ein Sohn des armen Rektors in Groß-Salze.
**) Zum Herzog von Dalmatien hatte Napoleon seinen Marschall Soult ernannt.
***) Gemeint ist die 1779 entdeckte Höhle bei dem Orte Glückbrunnen; sie ist in einem Kalkfelsen, hat keine Tropfsteine, aber mehrere hohe und weite Gewölbe, durch deren eines sich ein Bach hinschlängelt, der sogar einen Teich bildet. Sie wurde den Besuchern des meiningischen Bades Liebenstein bei Fackellicht gezeigt.
****) So nannte man die Wegnahme der Kirchengüter und Aufhebung der geistlichen Staaten. Die großen Säkularisationen in Deutschland geschahen 1648 durch den Westfälischen Frieden und 1803 infolge des Luneviller Friedens und des Reichsdeputationsschlusses. Es waren Gewalthandlungen der weltlichen Fürsten, die ihren Land- und Machthunger am leichtesten auf Kosten der Bischöfe und der Klöster befriedigen konnten.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons