Gustav Adolf

Ich bin in einer Familie erwachsen, welcher von väterlicher Seite her zwei große Gestalten der Vergangenheit in höchstem Glanze vorgeführt wurden. Wie andere Kinder mit Märchen gespeiset werden, so wurde mein frühestes Denken und Fühlen durch das Gedächtnis an sie ernährt – vielleicht war es eine zu strenge Nahrung für das unreife Alter.
Die erste jener beiden Gestalten war Gustav Adolf, König von Schweden. Eine glaubwürdige Familientradition, die mein Vater in seinem Hausbuche aufgezeichnet hatte, besagte, daß Peter Immermann, Sergeant in der Armee des großen Schwedenkönigs, der Erste des Namens in Deutschland gewesen sei. Er hatte bei Lützen mitgefochten „für teutsche Gewissensfreiheit“, wie im Hausbuche steht, was da vor mir liegt, war in Deutschland geblieben, hatte eine durch den Dreißigjährigen Krieg wüst gewordene Bauerstelle im Dorfe Etgersleben unweit Magdeburg in Besitz genommen, eine Bäuerin namens Ilse geheiratet und war so der Stammvater der Familie geworden, welche sich dann durch Landleute, Handwerker, Schullehrer und Prediger verbreitete, bis sie in meinem Vater zu einem nach dem Maßstäbe früherer, bescheidenerer Zeiten hochgeschätzten Ansehen gelangte. Er war Königlicher Rat und stand bei der magdeburgischen Krieges- und Domänenkammer.
Es ist nicht wahr, daß nur der Adel sich etwas auf seine Ahnen einbilde. Bürgerfamilien sind eben so stolz, wenn sie unter ihren Vorfahren jemand wissen, der den Stammbaum verherrlicht, sei es auch nur dadurch, daß sein Name mit irgendeiner großen oder gerühmten Begebenheit in Zusammenhang steht. Eine sehr natürliche und lobenswerte Neigung im Menschen, der Keim des Staats und alles politischen Lebens. Jener alte Schwede, von dem sonst nichts weiter bekannt war, erhielt sich in der Familienerinnerung als eine respektable Figur; mein Vater erzählte mit Behagen, daß er einstmals jüngere Vettern mit nach Etgersleben hinausgenommen, ihnen das Stammgut der Familie gezeigt und sie veranlaßt habe, den Hut vor dieser Stätte abzunehmen. Das Gütchen war übrigens längst in andere Hände übergegangen, und ich habe es nie zu Gesicht bekommen.
Indessen bedurfte denn doch der schwedische Sergeant eines Heros, von dessen Strahlen er erst sein rechtes Licht zu empfangen hatte. Und dieser konnte kein anderer sein als Gustav Adolf. Mein Vater nannte ihn nie anders als den Erretter Deutschlands. Viel wurde von ihm erzählt, der Dreißigjährige Krieg ging für uns eigentlich nur bis zur Schlacht von Lützen. Über allen Zweifel erhaben war es, daß den König eine meuchelmörderische Kugel getroffen hatte, was denn unseren Haß gegen die Ligisten, der ohnehin schon nicht gering war, nur schärfen konnte. Wie die Leiche des Helden nach Weißenfels geschafft worden, wie die Königin sie dort mit Tränen benetzt habe – das und mehr dergleichen stand so vor mir, als wäre ich dabei gewesen. Die Oxenstiernas hörte ich erst weit spater nennen, und sie konnten mir nach einem solchen Vorgänger wenig Interesse abgewinnen.
Die andächtige Verehrung des großen Schwedenkönigs fand in meiner Vaterstadt außerdem einen fruchtbaren Boden, in dem sie nachhaltig treiben konnte. Eine Stadt verschmerzt ihre Zerstörung in anderthalbhundert Jahren nicht. Tilly und der Teufel galten in Magdeburg ungefähr gleich viel; Katholische und Kaiserliche kamen dicht hinterher. Rathmanns „Geschichte von Magdeburg“ ist das erste Buch gewesen, welches ich gelesen habe. Kam ich nun da an die Stelle, wo es heißt, daß die Belagerer am 9. Mai 1631 zum Schein ihre Stücke aus den Schanzen, ihre Truppen von Krakau und Rotensee abziehen, daß die Belagerten sicher werden, glauben, die Schweden rückten zum Entsatz herbei, und die vom Wachen und Postenstehen ermüdeten Glieder dem Schlummer hingeben, so ergriff mich die heftigste Beklemmung, ich hätte ihnen aus Leibeskräften zurufen mögen: Wacht auf! den Bösewichten ist nicht zu trauen! Es half aber nichts. Wenige Seiten weiter waren die Kroaten, die Wallonen und Lombarden zur Hohenpforte und zum Schrotdorfer Tore eingedrungen, mordeten und brannten. Dietrich von Falkenberg, der schwedische Kommandant, eilt fruchtlos dahin und dorthin, bis ihn eine Falkonettkugel*) niederstreckt. Nun beginnt der Greuel der Verwüstung, durch den sich die jugendliche Einbildungskraft hindurchwürgen mußte!
Tilly bekam es freilich darauf bei Leipzig, und im Dome sah ich noch seine angeblichen Stiefel hangen, mit Ketten umwunden; aber was konnte das helfen, da Magdeburg „bis auf den Dom, einige Kirchen und eine Reihe dürftiger Häuserchen am Fischerufer in der Asche lag“, wie ich jederzeit für mich, wenn ich diese grause Lektüre beendigt hatte, ergriffen und pathetisch sagte.
Blickte sich nun der Knabe in der Stadt um, so sah er den gewaltigen Dom mit seinen beiden majestätisch emporstrebenden Türmen und im übrigen lauter Häuser, die wie geschnörkelte Kommoden dagegen aussahen. Es war aber zu uns noch nichts gedrungen von gotischer, vorgotischer und späterer Baukunst aus den Zeiten des verderbten Geschmacks, wovon jetzt jedes Kind zu reden weiß. Wir dachten uns also bei jenem Kontraste auch weiter nichts, als daß die Kommodenhäuser nach dem Sturme aufgebaut seien und daß der Dom in seiner Pracht und Festigkeit selbst den verruchten Stürmen widerstanden habe. An dem fiel uns besonders auf, daß der Knopf des einen Turmes fehlte, während der andere doch noch ganz stattlich mit seiner steinernen Blume da droben unter den scharfen, hohen Himmelslüften blühte. Wir mußten nun auch über den fehlenden Knopf vernehmen, ebenfalls er sei von den Kaiserlichen in der Belagerung herabgeschossen worden.
Darauf bezog sich denn unser ganzes Interesse an magdeburgischen Geschichten. Denn ich wußte zwar wohl, daß Kaiser Otto der Große die Stadt gegründet habe; ich fand zwar einst in einem alten staubigen Wandschranke hinter dem Sofa in meines Vaters Stube, als dieses Möbel einer Reparatur wegen abgerückt wurde, zwischen Müll und Moder eine Reihe weggestellter Folianten und Quartanten in Schweinsleder, unter den Quartanten einen, der ganz gelbbraun aussah und der „löblichen uralten Stadt Magdeburgk Privilegia“ enthielt, und in diesem gelbbraunen Quartanten den deutsch übersetzten Gründungs- und Freiheitsbrief Ottos vom siebenten Tage des Brachmondes Jahres 940, worin der Kaiser „den werten Sachsen, die ihm fürgelegt, wie sie sich in Gottes Frieden zusammenhalten und eine Stadt befesten wollen“, erlaubt „zu bauen und zu befesten und einen Markt zu hegen nach alter Weise, als Marktrecht von alters gestanden hat, auch ewigen Frieden zu haben in der Stadt, welche sie Magdeburgk genannt haben.“ Ich sah des Kaisers steinerne Bildsäule zu Pferde, Krone auf dem Haupte, Zepter in der Hand, Mantel um die Schultern unter ihrem Schirmdächlein auf dem Alten Markte stehen, hörte, daß von der Bildsäule aus alle Landstraßen gemessen würden, die in der Stadt zusammenstießen, und wußte, daß die Fischhändlerinnen, die dort mit ihren großen Bütten und Mulden in reichlicher Zahl ausstanden, dem Kaiser als ihrem Patrone noch alljährlich am Sonnabend vor Pfingsten grüne Maien als Zoll der Verehrung an das Postament steckten und ihm ein Frühstück servierten. Auch sah ich ihn mit seiner Editha in weißem Marmor hinter erzgetriebenem Geländer im Chore des Domes liegen, wenn wir uns, während der Gottesdienst zu Ende ging und die Gemeine die Kirche verlassen wollte, dort einschlichen. Aber Privilegienbrief, Bildsäule und Grabmal blieben doch nur Papier, Erz und Stein; der weggeschossene Turmknopf, die Kommodenhäuser und Rathmanns Bericht von den Greueln der Zerstörung gehörten allein zu der Geschichte, die sich um den schwedischen Stammvater und seinen König drehte.



*) “Falke“ ist ein alter Name für Geschütze, die zur größeren Gattung der „Schlangen“ gehörten. Das Falkonett war ein kleines Geschütz von 5-8 Fuß Länge, das dreipfündige bleierne oder anderthalbpfündige eiserne Kugeln schoß.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Preußische Jugend zur Zeit Napoleons